INTERVIEW MIT JENNIFER SONNTAG UND DIRK ROTZSCH

wbh: Befindet sich eures Erachtens unsere Demokratie, freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung in Gefahr?

Dirk: Soweit wie in Polen und Ungarn ist es in Deutschland noch nicht, aber wenn in unseren Parlamenten eine demokratiefeindliche Partei sitzt, sollte man sehr wachsam sein. Darüber hinaus sollten wir andere Parteien sehr kritisch begleiten, die sich gern über demokratische Gepflogenheiten hinwegsetzen, und die EU in ihrer Struktur ist ja auch alles andere als demokratisch. Also gut, dass es die Demokratie gibt, und schlecht, wie es sie gibt.

Jenny: Ich sehe das sehr praxisnah bei meinen Themen. Es gibt z. B. die Menschenrechtskonvention, in der eigentlich jedes Verständnis von Menschenrecht geklärt sein sollte. Lohnt sich, da mal reinzulesen. Für uns Menschen mit Behinderung musste nochmal nachjustiert werden, da wir in dieser Konvention als „Menschen“ hinten runter fielen. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat es in Deutschland aber auch noch nicht gepackt, weil sich im Alltag behinderter Menschen wenig abzeichnete. Also musste das Bundesteilhabegesetz nochmal viel nachregeln und ins Bewusstsein bringen. Das ist ein Prozess von Jahrzehnten und wir sind noch lange nicht bei „menschenwürdigen“ Zuständen für alle von uns, obwohl das Grundgesetz hier Manifest genug sein sollte. Da ich das immer ganzheitlich denken möchte, müssen wir eben auch mit Blick auf Kinder, Frauen, Gleichstellung, Migration, generell Rassismus, Sexismus und Menschenunwürdigkeit schauen, wo Demokratie aus der Balance gerät und wo sie noch nicht oder nicht mehr greifen kann.

wbh: Was kann jede*r aktiv tun, um unsere Demokratie und Freiheit zu stärken? Welche Mittel stehen zur Verfügung?

Dirk: Klingt abgedroschen, aber es ist und bleibt Zivilcourage.

Jenny: Wobei man aus meiner Sicht Zivilcourage nicht mit „blindem“ Aktionismus verwechseln darf. Ich setze auf das, was davor passiert, Bewusstseinsbildung. Aber da ist auch die Punkerin in mir, die das manchmal gern schnell ganz anders lösen möchte und das macht mich dann nicht besser als die Impulsivtäter*innen, die ich auf keiner politischen Seite besonders schätze.

wbh: Was tut ihr aktiv dafür?

Jenny: Ich engagiere mich in der Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ (ISL), die sich für Teilhabe und Inklusion stark macht. Auch in meiner Medienarbeit versuche ich, die mir wichtigen politischen Inhalte zuschauernah zu transportieren. Ich glaube an die Peer Arbeit und an die Selbsthilfe, an Empowerment und Fempowerment, da Betroffenengruppen allein oder durch Unterstützung und Anleitung Großes freisetzen können und eine Art Stabilität von Innen heraus entsteht. Das ist immer wirkungsvoller, als von Außen Gerüste zu bauen.

Dirk: Ich bin seit einem Jahr in der Sammlungsbewegung „Aufstehen“ und da besonders im Thema Sozialpolitik aktiv, um Verkrustungen in der Kommunalpolitik anzusprechen, denn alles beginnt immer vor der eigenen Haustür.
Und wir sind beide publizistisch aktiv, da das Sichtbarmachen von Missständen der erste Schritt ist.

wbh: Was müssten eurer Meinung nach Politiker*innen tun, um unsere Demokratie weiterhin zu gewährleisten? Welche Wünsche und Forderungen habt ihr an sie?

Dirk: Politiker*innen müssten demokratischen Prozessen selbst erst einmal Wertschätzung entgegenbringen und ihr Mandat nicht zuerst als Broterwerb und Entertainment betrachten, deswegen bin ich für viel mehr gut begleitete Volksentscheide.

Jenny: Volksentscheide müssen aber mehr abbilden, als pure Meinungen. Um den wunderbaren Kraftklub-Felix zu zitieren: „Die haben ihre Fakten, aber du hast deine Meinung.“ Ich finde es hochproblematisch, Menschen Entscheidungen treffen zu lassen, die weder sich selbst, noch die Welt verstanden haben. Entscheidungen vom Elfenbeinturm brauchen wir ebenso wenig. Dass sich das Gute in der Mitte schon auspegeln wird, darauf ist bei den aktuellen AfD-Tendenzen auch nicht unbedingt Verlass. Für jeden ist was anderes das Gute. Schwierige Kiste. Mir ist wichtig, dass sich Interessenvertreter*innen von der Basis einbringen, denn Politiker*innen müssen echte Lebenswelten mit den Entscheidungen verknüpfen, die sie treffen.

wbh: Haben wir ein Problem mit Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit?

Dirk: Die aktuellen Ereignisse vor unserer sprichwörtlichen Haustüre sind Beleg dafür. Zu lange konnte sich im Windschatten der Diskussion um extremistischen Islamismus eine extremistische Rechte entwickeln, die auch schon etliche Todesopfer zu verantworten hat.

Jenny: Ich möchte hier meine ersten sehr menschlichen Gedanken einfügen, die ich am Tag der Tat aufschrieb. Wenn sie auch in einem solchen Moment nicht bis zu Ende reflektiert sein können, steckt darin noch meine ganze Bestürzung: „Ein paar Minuten Gehweg von meiner Wohnung entfernt wurden heute zwei Menschen erschossen. Ein Anruf von meinem Freund: „Geh jetzt bitte nicht allein mit dem Hund raus.“ Über mir kreisen Hubschrauber, Sirenen in meinen Ohren, eine Kolonne Mannschaftswagen vor unserer Haustür, in meinen Gedanken unendlich viel Mitgefühl für die Verletzten und die Familien der Todesopfer, so viel Trauer um die Unschuldigen. Gestern erst bin ich diesen Weg gegangen, unbefangen, dabei bin ich ein Mensch, der nie wirklich naiv sein kann. Zu bewusst ist mir, was alles passieren kann. Aber immer dachte ich, es ist der Straßenverkehr, vor dem ich Angst haben muss, wenn ich mich mit meinem Blindenführhund in die Welt begebe. Augenlicht nützt nichts, wenn man auf offener Straße erschossen wird, aber ich spüre eine neue Angst, einen neuen Kontrollverlust, ein widerliches Gefühl, was nicht mehr abstrakt ist. Angst ist nicht immer ein guter Berater, sie bringt mitunter furchtbare Früchte hervor. Deshalb werden wir heute Abend wieder raus gehen, raus in den Regen, weil es hilft, wenn sich der Himmel für uns ausheult …“

wbh: Wo liegen eures Erachtens die Ursachen?

Dirk: Mittlerweile setzen bei mir fast schon Ermüdungserscheinungen ein, bei der Beantwortung. Seit der Wende sind es immer wieder die gleichen Mechanismen und es war nie nur ein ostdeutsches Problem: Rostock Lichtenhagen kann man Solingen und Mölln entgegensetzen. Seit den 80igern warnen Parteien am rechten Rand und da zähle ich die CDU/CSU ausdrücklich mit ein vor einer Überfremdung, dabei liegen die Problematiken nicht in der Horizontalen, sondern in der Vertikalen – nicht Ost, West oder Norden und Süden sind das Problem, sondern Oben und Unten und das hat sich verschärft. Die Schere der Besitzenden und Besitzlosen gehen immer mehr auseinander, aber daran juckt sich die Bürgerschaft nicht, der hält man wie dem Esel die Möhre, den Migranten vor und sie marschiert.

Jenny: Ich finde es immer beeindruckend, dass der „Rechtsabbieger“ nicht erkennt, dass er eigentlich ein ganz anderes Problem hat, nämlich sich selbst. Ich gehöre jetzt auch nicht zu den Menschen, die vom Leben verwöhnt wurden. Ich könnte ständig irgendwem was neiden. Dabei würde ich am eigenen Leben vorbei gehen und die Gestaltungsmöglichkeiten übersehen, die ich selbst wirklich habe. In Halle haben wir ja nun gesehen, wie absurd so ein antisemitisch aufgepeitschter Mensch im Extremfall handelt. Klar kann man sagen, das war zum Glück ein seltener Einzelfall. Ganz ehrlich, der Gedankengang, sich mit Waffen gegen das Fremde rüsten zu wollen, ist einigen Mitbürger*innen nicht ganz fremd. Und deren Vermutungen nach den Gewalttaten in Halle waren klar: „Das war doch ein Ausländer!“ Als es dann doch ein „Deutscher“ war, schienen einige dieser Leute dann auch erst so richtig betroffen, als bei ihnen ankam, dass der Mann die eigenen Landsleute erschossen hat. Widerwertig dieser sich aufzwingende Gedankengang: Wäre es für diese Leute in der Bewertung der Gewalttat ein Unterschied gewesen, wenn es die Menschen in der Synagoge erwischt hätte? Bei diesen Fragen, bei denen es im wahrsten Wortsinn um Leben und Tod geht, müssen wir so richtig ran an unser Menschsein. Der Mensch arbeitet sich allzu oft an destruktiven Baustellen im Außen ab, statt in seinen „Innenräumen“ anzufangen und da mal das Licht anzuknipsen. Er darf sich also durchaus die Frage stellen: „Was stimmt in meinem Leben nicht, wo kann ich an konstruktiveren Stellschrauben drehen?“

wbh: Wie, auf welche Art und mit welchen Mitteln kann man Rechtsextremist*innen, Rassist*innen sowie Hass und Hetze entgegenwirken?

Dirk: Sie ansprechen und nicht wegducken, wenn sie auftritt. Einfach rechtstaatliche Mittel anwenden. Volksverhetzung ist ein Straftatbestand. Einfach anzeigen!

Jenny: Auch Kinder und Jugendliche nachhaltig sensibilisieren. Dafür brauchen wir gute „Lebenslehrer*innen“ und Rollenmodelle. Wir müssen Umfelder erlebbar machen, in denen spürbar wird, dass Toleranz und Vielfalt positive Blüten hervorbringen können, dass es etabliert und zeitgemäß ist, solche Werte und Potenziale zu leben. Da hilft nur Begegnung und Kommunikation und die Erkenntnis, dass wir daraus Wertschätzung und Anerkennung schöpfen können.

wbh: Welche Auswirkungen hat das Internet und die sozialen Medien für unser gesellschaftliches Miteinander?

Dirk: Ich stelle eine Verrohung in den „asozialen“ Medien fest. Ich bin viel auch auf Kommentarseiten von seriösen Medien unterwegs und muss auch da erkennen, dass weniger Argumente, als Beleidigungen ausgetauscht werden. Aber wenn sich selbst alternde Comedy-Helden an kleinen Mädchen abarbeiten und sich dafür von lernresistenten Gleichaltrigen feiern lassen, kann man „nuhr“ den Kopf schütteln.

Jenny: Besonders wurde mir die Verrohung deutlich, als der Täter in Halle in Echtzeit seine Taten ins Netz stellen konnte und wie unterschiedlich damit umgegangen wurde. Mütter erzählen mir noch heute, dass ihre Grundschul-Kids dieses Video auf dem Smartphone hatten, noch in der Schule. Eltern waren dazu angehalten, ihre Kinder vor diesen Bildern zu schützen und Gesehenes sensibel aufzuarbeiten. Andererseits erzählten mir erwachsene Menschen im öffentlichen Raum voyeuristisch gefärbt ihr „Filmerlebnis“. Das war extrem übergriffig und ich bin unendlich, unendlich traurig über das, was ich nun nicht mehr aus dem Kopf bekomme und hoffe aus tiefstem Herzen, dass im Sinne der Angehörigen das Anschauen und Verbreiten solcher Filme geahndet wird.

wbh: Wie sollten Journalist*innen und Medien mit der Wahrung unserer demokratischen Grundordnung umgehen? Wie mit Rechtsextremist*innen und Rassist*innen?

Jenny: Journalist*innen bauen Wirklichkeiten. Transparentmachen von Themen ist wichtig, dabei lassen sich aber auch Konstrukte und Mythen erzeugen. Für die Leser*innen oder Zuschauer*innen ist es dann schwer, das Problem realistisch einzuschätzen. Man will ja auch ganz bewusst an seine Zielgruppen und Emotionen in die ein oder andere Richtung lenken. Ich persönlich finde es aus verschiedenen Gründen problematisch, Hassfiguren aufzubauen.

Dirk: Ich fand die Reaktion eines Journals gut, das sich mit dem Attentat in Halle beschäftigte, das schrieb: Wir werden den Namen des Attentäters nicht nennen – so müsste man immer verfahren, lieber den Opfern ein Gesicht geben.

wbh: Wie gestalten wir unsere Zukunft?

Dirk: Indem wir alle Themenfelder zusammen denken. Die falsche Klimapolitik hat Auswirkungen auf Migration, ein Fakt der seit einer BBC Dokumentation von vor einem viertel Jahrhundert bekannt ist. Wenn du ein Fuß sinnlos aufs Gaspedal stellst, dann setzt ein Mensch in Afrika seine auch in Bewegung. Aber wir sind einfach zu bequem, Dinge zur Kenntnis zu nehmen, weil sie bedeuten, dass wir unser Wirtschaftssystem überdenken müssten. Und wenn man überlegt, was für uns Wohlstand mittlerweile bedeutet: jedes Jahr ein neues SchlauFon, Übertragungsstandards die niemand braucht und elektrische Tretroller als Pseudoantwort auf einen übermotorisierten Individualverkehr- der falsche Weg wird nicht richtiger, wenn man ihn schneller geht.

Jenny: Schneller fährt, meinst du wohl. Ich frage mich aber wirklich oft, wie uns die Menschen in 50 oder 100 Jahren im Rückblick sehen. Das Stadtmuseum Halle hat mir dazu den Anstoß gegeben. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir jetzt Gestaltende und vielleicht sogar in Jahrzehnten mal wichtige Zeitzeugen sind. Deshalb ist alles, was wir jetzt dokumentieren und anstoßen, auch ein bedeutsamer Wimpernschlag für die Zukunft. Ich lese z.B. mit wachen Erkenntnisaugen die Niederschriften früherer Aktivist*innen und bin ihnen dankbar für das, was sie uns mitgegeben haben. Für meine Arbeit ist es wichtig zu sehen, womit sie zu kämpfen hatten und welche ersten guten Lösungen sie fanden.

wbh: Was hinterlassen wir unseren Erb*innen?

Dirk: Momentan ein finsteres Zeitalter alternativer Fakten, rückwärtsgewandter Politik, die bestrebt ist Machtgewinn und Machterhalt zu generieren – aber auch eine Jugend, die aufbegehrt und den alten Männern und Frauen nicht kampflos ihre Zukunft überlässt, die die Alten eh nicht gestalten wollen, sondern den Status quo verwalten, ob das nun den Untergang bringt oder nicht.

Jenny: Zum Glück kenne ich auch wundervolle alte und sehr alte Menschen, und die finden den Gedanken unerträglich, dass sie ihre Enkel und Urenkel nicht begleiten können, dass sie nicht mehr die Lebenszeit haben, für die neue Generation da zu sein. Immerhin haben sie ein großes Wissen angehäuft und wirklich kluge Alte können für die persönliche Zukunftsplanung aber auch gesellschaftliche Planungsprozesse eine echte Wohltat sein. Hier ist auch immer entscheidend, welche Menschen man sucht und welche Fragen das Leben einem stellt.

wbh: Was möchtet ihr ihnen überlassen?

Jenny: Was wir nachfolgenden Generationen überlassen, ist komplex, weil der Mensch in all seinen Entfaltungsformen komplex ist. Ich persönlich möchte etwas überlassen, was ich jetzt im positivsten Sinne mitgestaltet habe. Positiv ist im wirtschaftlichen oder narzisstischen Sinne etwas anderes als z. B. im umwelt- oder sozialpolitischen, und was Menschenrecht oder Menschenwürde ist, wird auch moralisch oder kulturell sehr unterschiedlich belegt. Das größte Geschenk, was wir weitergeben können, ist Erkenntnisreichtum. Dass Menschen regelmäßig aus Erkenntnissen nicht lernen, zeigen sie leider eindrücklich. Hier wird auch in Zukunft jeder in großen Teilen selbst für sein Gedankengut verantwortlich sein.

Dirk: Hoffentlich nicht etwas, für was ich mich schämen muss!

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