INTERVIEW MIT JENNIFER SONNTAG UND DIRK ROTZSCH

wbh: Befindet sich eures Erachtens unsere Demokratie, freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung in Gefahr?

Dirk: Soweit wie in Polen und Ungarn ist es in Deutschland noch nicht, aber wenn in unseren Parlamenten eine demokratiefeindliche Partei sitzt, sollte man sehr wachsam sein. Darüber hinaus sollten wir andere Parteien sehr kritisch begleiten, die sich gern über demokratische Gepflogenheiten hinwegsetzen, und die EU in ihrer Struktur ist ja auch alles andere als demokratisch. Also gut, dass es die Demokratie gibt, und schlecht, wie es sie gibt.

Jenny: Ich sehe das sehr praxisnah bei meinen Themen. Es gibt z. B. die Menschenrechtskonvention, in der eigentlich jedes Verständnis von Menschenrecht geklärt sein sollte. Lohnt sich, da mal reinzulesen. Für uns Menschen mit Behinderung musste nochmal nachjustiert werden, da wir in dieser Konvention als „Menschen“ hinten runter fielen. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat es in Deutschland aber auch noch nicht gepackt, weil sich im Alltag behinderter Menschen wenig abzeichnete. Also musste das Bundesteilhabegesetz nochmal viel nachregeln und ins Bewusstsein bringen. Das ist ein Prozess von Jahrzehnten und wir sind noch lange nicht bei „menschenwürdigen“ Zuständen für alle von uns, obwohl das Grundgesetz hier Manifest genug sein sollte. Da ich das immer ganzheitlich denken möchte, müssen wir eben auch mit Blick auf Kinder, Frauen, Gleichstellung, Migration, generell Rassismus, Sexismus und Menschenunwürdigkeit schauen, wo Demokratie aus der Balance gerät und wo sie noch nicht oder nicht mehr greifen kann.

wbh: Was kann jede*r aktiv tun, um unsere Demokratie und Freiheit zu stärken? Welche Mittel stehen zur Verfügung?

Dirk: Klingt abgedroschen, aber es ist und bleibt Zivilcourage.

Jenny: Wobei man aus meiner Sicht Zivilcourage nicht mit „blindem“ Aktionismus verwechseln darf. Ich setze auf das, was davor passiert, Bewusstseinsbildung. Aber da ist auch die Punkerin in mir, die das manchmal gern schnell ganz anders lösen möchte und das macht mich dann nicht besser als die Impulsivtäter*innen, die ich auf keiner politischen Seite besonders schätze.

wbh: Was tut ihr aktiv dafür?

Jenny: Ich engagiere mich in der Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ (ISL), die sich für Teilhabe und Inklusion stark macht. Auch in meiner Medienarbeit versuche ich, die mir wichtigen politischen Inhalte zuschauernah zu transportieren. Ich glaube an die Peer Arbeit und an die Selbsthilfe, an Empowerment und Fempowerment, da Betroffenengruppen allein oder durch Unterstützung und Anleitung Großes freisetzen können und eine Art Stabilität von Innen heraus entsteht. Das ist immer wirkungsvoller, als von Außen Gerüste zu bauen.

Dirk: Ich bin seit einem Jahr in der Sammlungsbewegung „Aufstehen“ und da besonders im Thema Sozialpolitik aktiv, um Verkrustungen in der Kommunalpolitik anzusprechen, denn alles beginnt immer vor der eigenen Haustür.
Und wir sind beide publizistisch aktiv, da das Sichtbarmachen von Missständen der erste Schritt ist.

wbh: Was müssten eurer Meinung nach Politiker*innen tun, um unsere Demokratie weiterhin zu gewährleisten? Welche Wünsche und Forderungen habt ihr an sie?

Dirk: Politiker*innen müssten demokratischen Prozessen selbst erst einmal Wertschätzung entgegenbringen und ihr Mandat nicht zuerst als Broterwerb und Entertainment betrachten, deswegen bin ich für viel mehr gut begleitete Volksentscheide.

Jenny: Volksentscheide müssen aber mehr abbilden, als pure Meinungen. Um den wunderbaren Kraftklub-Felix zu zitieren: „Die haben ihre Fakten, aber du hast deine Meinung.“ Ich finde es hochproblematisch, Menschen Entscheidungen treffen zu lassen, die weder sich selbst, noch die Welt verstanden haben. Entscheidungen vom Elfenbeinturm brauchen wir ebenso wenig. Dass sich das Gute in der Mitte schon auspegeln wird, darauf ist bei den aktuellen AfD-Tendenzen auch nicht unbedingt Verlass. Für jeden ist was anderes das Gute. Schwierige Kiste. Mir ist wichtig, dass sich Interessenvertreter*innen von der Basis einbringen, denn Politiker*innen müssen echte Lebenswelten mit den Entscheidungen verknüpfen, die sie treffen.

wbh: Haben wir ein Problem mit Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit?

Dirk: Die aktuellen Ereignisse vor unserer sprichwörtlichen Haustüre sind Beleg dafür. Zu lange konnte sich im Windschatten der Diskussion um extremistischen Islamismus eine extremistische Rechte entwickeln, die auch schon etliche Todesopfer zu verantworten hat.

Jenny: Ich möchte hier meine ersten sehr menschlichen Gedanken einfügen, die ich am Tag der Tat aufschrieb. Wenn sie auch in einem solchen Moment nicht bis zu Ende reflektiert sein können, steckt darin noch meine ganze Bestürzung: „Ein paar Minuten Gehweg von meiner Wohnung entfernt wurden heute zwei Menschen erschossen. Ein Anruf von meinem Freund: „Geh jetzt bitte nicht allein mit dem Hund raus.“ Über mir kreisen Hubschrauber, Sirenen in meinen Ohren, eine Kolonne Mannschaftswagen vor unserer Haustür, in meinen Gedanken unendlich viel Mitgefühl für die Verletzten und die Familien der Todesopfer, so viel Trauer um die Unschuldigen. Gestern erst bin ich diesen Weg gegangen, unbefangen, dabei bin ich ein Mensch, der nie wirklich naiv sein kann. Zu bewusst ist mir, was alles passieren kann. Aber immer dachte ich, es ist der Straßenverkehr, vor dem ich Angst haben muss, wenn ich mich mit meinem Blindenführhund in die Welt begebe. Augenlicht nützt nichts, wenn man auf offener Straße erschossen wird, aber ich spüre eine neue Angst, einen neuen Kontrollverlust, ein widerliches Gefühl, was nicht mehr abstrakt ist. Angst ist nicht immer ein guter Berater, sie bringt mitunter furchtbare Früchte hervor. Deshalb werden wir heute Abend wieder raus gehen, raus in den Regen, weil es hilft, wenn sich der Himmel für uns ausheult …“

wbh: Wo liegen eures Erachtens die Ursachen?

Dirk: Mittlerweile setzen bei mir fast schon Ermüdungserscheinungen ein, bei der Beantwortung. Seit der Wende sind es immer wieder die gleichen Mechanismen und es war nie nur ein ostdeutsches Problem: Rostock Lichtenhagen kann man Solingen und Mölln entgegensetzen. Seit den 80igern warnen Parteien am rechten Rand und da zähle ich die CDU/CSU ausdrücklich mit ein vor einer Überfremdung, dabei liegen die Problematiken nicht in der Horizontalen, sondern in der Vertikalen – nicht Ost, West oder Norden und Süden sind das Problem, sondern Oben und Unten und das hat sich verschärft. Die Schere der Besitzenden und Besitzlosen gehen immer mehr auseinander, aber daran juckt sich die Bürgerschaft nicht, der hält man wie dem Esel die Möhre, den Migranten vor und sie marschiert.

Jenny: Ich finde es immer beeindruckend, dass der „Rechtsabbieger“ nicht erkennt, dass er eigentlich ein ganz anderes Problem hat, nämlich sich selbst. Ich gehöre jetzt auch nicht zu den Menschen, die vom Leben verwöhnt wurden. Ich könnte ständig irgendwem was neiden. Dabei würde ich am eigenen Leben vorbei gehen und die Gestaltungsmöglichkeiten übersehen, die ich selbst wirklich habe. In Halle haben wir ja nun gesehen, wie absurd so ein antisemitisch aufgepeitschter Mensch im Extremfall handelt. Klar kann man sagen, das war zum Glück ein seltener Einzelfall. Ganz ehrlich, der Gedankengang, sich mit Waffen gegen das Fremde rüsten zu wollen, ist einigen Mitbürger*innen nicht ganz fremd. Und deren Vermutungen nach den Gewalttaten in Halle waren klar: „Das war doch ein Ausländer!“ Als es dann doch ein „Deutscher“ war, schienen einige dieser Leute dann auch erst so richtig betroffen, als bei ihnen ankam, dass der Mann die eigenen Landsleute erschossen hat. Widerwertig dieser sich aufzwingende Gedankengang: Wäre es für diese Leute in der Bewertung der Gewalttat ein Unterschied gewesen, wenn es die Menschen in der Synagoge erwischt hätte? Bei diesen Fragen, bei denen es im wahrsten Wortsinn um Leben und Tod geht, müssen wir so richtig ran an unser Menschsein. Der Mensch arbeitet sich allzu oft an destruktiven Baustellen im Außen ab, statt in seinen „Innenräumen“ anzufangen und da mal das Licht anzuknipsen. Er darf sich also durchaus die Frage stellen: „Was stimmt in meinem Leben nicht, wo kann ich an konstruktiveren Stellschrauben drehen?“

wbh: Wie, auf welche Art und mit welchen Mitteln kann man Rechtsextremist*innen, Rassist*innen sowie Hass und Hetze entgegenwirken?

Dirk: Sie ansprechen und nicht wegducken, wenn sie auftritt. Einfach rechtstaatliche Mittel anwenden. Volksverhetzung ist ein Straftatbestand. Einfach anzeigen!

Jenny: Auch Kinder und Jugendliche nachhaltig sensibilisieren. Dafür brauchen wir gute „Lebenslehrer*innen“ und Rollenmodelle. Wir müssen Umfelder erlebbar machen, in denen spürbar wird, dass Toleranz und Vielfalt positive Blüten hervorbringen können, dass es etabliert und zeitgemäß ist, solche Werte und Potenziale zu leben. Da hilft nur Begegnung und Kommunikation und die Erkenntnis, dass wir daraus Wertschätzung und Anerkennung schöpfen können.

wbh: Welche Auswirkungen hat das Internet und die sozialen Medien für unser gesellschaftliches Miteinander?

Dirk: Ich stelle eine Verrohung in den „asozialen“ Medien fest. Ich bin viel auch auf Kommentarseiten von seriösen Medien unterwegs und muss auch da erkennen, dass weniger Argumente, als Beleidigungen ausgetauscht werden. Aber wenn sich selbst alternde Comedy-Helden an kleinen Mädchen abarbeiten und sich dafür von lernresistenten Gleichaltrigen feiern lassen, kann man „nuhr“ den Kopf schütteln.

Jenny: Besonders wurde mir die Verrohung deutlich, als der Täter in Halle in Echtzeit seine Taten ins Netz stellen konnte und wie unterschiedlich damit umgegangen wurde. Mütter erzählen mir noch heute, dass ihre Grundschul-Kids dieses Video auf dem Smartphone hatten, noch in der Schule. Eltern waren dazu angehalten, ihre Kinder vor diesen Bildern zu schützen und Gesehenes sensibel aufzuarbeiten. Andererseits erzählten mir erwachsene Menschen im öffentlichen Raum voyeuristisch gefärbt ihr „Filmerlebnis“. Das war extrem übergriffig und ich bin unendlich, unendlich traurig über das, was ich nun nicht mehr aus dem Kopf bekomme und hoffe aus tiefstem Herzen, dass im Sinne der Angehörigen das Anschauen und Verbreiten solcher Filme geahndet wird.

wbh: Wie sollten Journalist*innen und Medien mit der Wahrung unserer demokratischen Grundordnung umgehen? Wie mit Rechtsextremist*innen und Rassist*innen?

Jenny: Journalist*innen bauen Wirklichkeiten. Transparentmachen von Themen ist wichtig, dabei lassen sich aber auch Konstrukte und Mythen erzeugen. Für die Leser*innen oder Zuschauer*innen ist es dann schwer, das Problem realistisch einzuschätzen. Man will ja auch ganz bewusst an seine Zielgruppen und Emotionen in die ein oder andere Richtung lenken. Ich persönlich finde es aus verschiedenen Gründen problematisch, Hassfiguren aufzubauen.

Dirk: Ich fand die Reaktion eines Journals gut, das sich mit dem Attentat in Halle beschäftigte, das schrieb: Wir werden den Namen des Attentäters nicht nennen – so müsste man immer verfahren, lieber den Opfern ein Gesicht geben.

wbh: Wie gestalten wir unsere Zukunft?

Dirk: Indem wir alle Themenfelder zusammen denken. Die falsche Klimapolitik hat Auswirkungen auf Migration, ein Fakt der seit einer BBC Dokumentation von vor einem viertel Jahrhundert bekannt ist. Wenn du ein Fuß sinnlos aufs Gaspedal stellst, dann setzt ein Mensch in Afrika seine auch in Bewegung. Aber wir sind einfach zu bequem, Dinge zur Kenntnis zu nehmen, weil sie bedeuten, dass wir unser Wirtschaftssystem überdenken müssten. Und wenn man überlegt, was für uns Wohlstand mittlerweile bedeutet: jedes Jahr ein neues SchlauFon, Übertragungsstandards die niemand braucht und elektrische Tretroller als Pseudoantwort auf einen übermotorisierten Individualverkehr- der falsche Weg wird nicht richtiger, wenn man ihn schneller geht.

Jenny: Schneller fährt, meinst du wohl. Ich frage mich aber wirklich oft, wie uns die Menschen in 50 oder 100 Jahren im Rückblick sehen. Das Stadtmuseum Halle hat mir dazu den Anstoß gegeben. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir jetzt Gestaltende und vielleicht sogar in Jahrzehnten mal wichtige Zeitzeugen sind. Deshalb ist alles, was wir jetzt dokumentieren und anstoßen, auch ein bedeutsamer Wimpernschlag für die Zukunft. Ich lese z.B. mit wachen Erkenntnisaugen die Niederschriften früherer Aktivist*innen und bin ihnen dankbar für das, was sie uns mitgegeben haben. Für meine Arbeit ist es wichtig zu sehen, womit sie zu kämpfen hatten und welche ersten guten Lösungen sie fanden.

wbh: Was hinterlassen wir unseren Erb*innen?

Dirk: Momentan ein finsteres Zeitalter alternativer Fakten, rückwärtsgewandter Politik, die bestrebt ist Machtgewinn und Machterhalt zu generieren – aber auch eine Jugend, die aufbegehrt und den alten Männern und Frauen nicht kampflos ihre Zukunft überlässt, die die Alten eh nicht gestalten wollen, sondern den Status quo verwalten, ob das nun den Untergang bringt oder nicht.

Jenny: Zum Glück kenne ich auch wundervolle alte und sehr alte Menschen, und die finden den Gedanken unerträglich, dass sie ihre Enkel und Urenkel nicht begleiten können, dass sie nicht mehr die Lebenszeit haben, für die neue Generation da zu sein. Immerhin haben sie ein großes Wissen angehäuft und wirklich kluge Alte können für die persönliche Zukunftsplanung aber auch gesellschaftliche Planungsprozesse eine echte Wohltat sein. Hier ist auch immer entscheidend, welche Menschen man sucht und welche Fragen das Leben einem stellt.

wbh: Was möchtet ihr ihnen überlassen?

Jenny: Was wir nachfolgenden Generationen überlassen, ist komplex, weil der Mensch in all seinen Entfaltungsformen komplex ist. Ich persönlich möchte etwas überlassen, was ich jetzt im positivsten Sinne mitgestaltet habe. Positiv ist im wirtschaftlichen oder narzisstischen Sinne etwas anderes als z. B. im umwelt- oder sozialpolitischen, und was Menschenrecht oder Menschenwürde ist, wird auch moralisch oder kulturell sehr unterschiedlich belegt. Das größte Geschenk, was wir weitergeben können, ist Erkenntnisreichtum. Dass Menschen regelmäßig aus Erkenntnissen nicht lernen, zeigen sie leider eindrücklich. Hier wird auch in Zukunft jeder in großen Teilen selbst für sein Gedankengut verantwortlich sein.

Dirk: Hoffentlich nicht etwas, für was ich mich schämen muss!

INTERVIEW MIT ROBERT FEUSTEL

wbh: Befindet sich deines Erachtens unsere Demokratie, freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung in Gefahr?

Nun, Demokratie ist immer in Gefahr. Eine buchstäblich ungefährdete Ordnung ist nie demokratisch. Aber ja, dieser Tage sind einige Entwicklungen zu beobachten, die Sorge bereiten. Die offenen Gesellschaften, die – nebenbei bemerkt – nie so offen waren, wie sie glauben, schließen sich schrittweise. Druck von rechts und ein eskalierender Sicherheitsapparat sorgen dafür, dass Freiheiten beschnitten werden, Überwachung ausgebaut wird. Es gibt noch viele Dinge mehr, die unserer Demokratie zusetzen. Der Umgang mit den sogenannten Fremden ist ein zentrales Moment: Eine Gesellschaft schließt sich, wenn sie den Fremden pauschal zum Feind erklärt, ihm Rechte verweigert und überhaupt ein Ankommen verunmöglicht. Und wenn ganz allgemein Wirtschaftsinteressen immerzu vor den Belangen einer Gesellschaft stehen, ist das auch kein guter Zustand.

wbh: Was kann jede*r aktiv tun, um unsere Demokratie und Freiheit zu stärken?
Welche Mittel stehen dafür zur Verfügung?

Schwer zu sagen. Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Je nach Kontext und Ressourcen. Nicht wegschauen jedenfalls, sich einmischen.

wbh: Was tust du aktiv dafür?

Mein Mittel ist meistens das Schreiben. Welchen Impact das auch immer hat. Manchmal gebe ich so Interviews …

wbh: Was müssen deiner Meinung nach Politiker*innen tun, um unsere Demokratie weiterhin zu gewährleisten? Welche Wünsche und Forderungen hast du an sie?

Schwierige Frage. Wünsche habe ich zunächst nur an den Weihnachtsmann, Politiker*innen brauchen Druck. Ein Punkt scheint mir wichtig: Die Politik sollte begreifen, dass das ganze Gerede von innerer Sicherheit eine Art kollektive Angststörung produziert. Es kann nie genug Sicherheit geben, und mittlerweile gefährdet der überdrehte Sicherheitsdiskurs viele Freiheitsrechte und Grundregeln der Demokratie. Wenn Prävention umfassend greift, ist der liberale Rechtsstaat Geschichte.
Noch ein grundsätzlicher Aspekt: Ich glaube, viele Leute haben die üblichen Reiz-Reaktionsmuster satt, also die immer gleichen Antworten oder Spielchen und den Umstand, dass letztlich alles ohne Konsequenzen bleibt. Zwei Beispiele: Wenn Horst Seehofer mal wieder die Computerspiele einwechselt, um irgendetwas zum Anschlag von Halle zu sagen, ist das so offenkundig dämlich, dass es wehtut. Und dass Leute wie Andreas Scheuer herausragend mit Inkompetenz gesegnet sind, ihre Machenschaften ans Licht kommen (die verbrecherischen Mautverträge), aber sie in Ruhe im Amt bleiben, ist frustrierend. Man erkennt, dass der öffentliche Druck nicht mehr ausreicht. Die vierte Gewalt, also Medien und Öffentlichkeit, sind zahnlos. Alle reden ständig von Vertrauen. Ich würde gern mal sehen, dass Politikerinnen und Politiker ernsthaft Anlass dazu geben, indem sie klar argumentieren und nicht ständig nur irgendwelchen Trends hinterherlaufen.

wbh: Haben wir ein Problem mit Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit?

Klar, schon sehr lange. Und allein die Tatsache, dass eine solche Frage gestellt wird, ist Teil des Problems. Es ist ja so: Alle wissen doch, dass es eine massive rechte Bedrohung gibt, nicht nur in Sachsen. Diese Frage zu stellen, zielt indirekt darauf, dass wir uns zunächst darüber verständigen müssten, ob wir ein Problem haben und wie groß es ist. Erst dann ließe sich an Lösungen arbeiten. Mit dieser Frage (oder wahlweise dem Gefasel von „Alarmsignalen“) wird die eigentlich relevante Frage nach Handlungen immer wieder vertagt. Es ist jedoch höchste Zeit, aktiv zu werden. Das geht vor allem an die Politik, die seit Jahren mit Kleinreden, Verschleiern und Ablenken beschäftigt ist.

wbh: Wo liegen deines Erachtens die Ursachen?

Da gibt es einige. Die Welt ist im Umbruch. In bestimmten Phasen krisenhafter Desorientierung steigt der Bedarf nach Erzählungen, die Halt geben und Ordnung stiften. Und das ist in Deutschland die alte Kiste des Nationalismus. Der war ja nie weg und ist die ganze Zeit – auch in der DDR – mehrheitsfähig gewesen. Zumeist lag er aber unterhalb einer dünnen Schicht von Humanität und Demokratie. Der Punkt ist, dass diese Errungenschaften hart und langwierig erkämpft wurden, aber so schnell zu zerstören sind.
Allerdings würde ich nicht sagen, dass es in Deutschland einen Rechtsruck gegeben hat. Vielmehr verändert sich die Welt gerade außergewöhnlich schnell. In den letzten 20 Jahren gab es viele Fortschritte, was Gleichstellung, Antidiskriminierung usw. angeht. Was damals Normalität war, ist heute glücklicherweise problematisch. Gegen all diese Dinge wehrt sich typischerweise der alte weiße Mann und kämpft um seine alten Privilegien. Wir müssen dem widerstehen, schon klar. Aber die Leute sind heute nicht rechter als früher. Sie sind nur lauter und besser sichtbar.

wbh: Wie, auf welche Art und mit welchen Mitteln kann man Rechtsextremist*innen, Rassist*innen sowie Hass und Hetze entgegenwirken?

Nicht unmittelbar. Will heißen: Menschen mit einem rechten Weltbild wird man diese Haltung nicht so einfach austreiben können. Wichtiger wäre es, alle anderen zu adressieren und sich nicht so beeindruckt zu zeigen. Ignoranz kann manchmal helfen. Ich meine damit, dass wir nicht ständig und auf allen Kanälen über Rechte und ihren Unsinn reden sollten – und schon gar nicht mit ihnen. Stattdessen sollten wir progressive und sozialpolitische Arbeit machen. Eigene Themen sind wichtig. Wir müssen aufhören, ständig den Rechten hinterherzulaufen, nur um zu zeigen, was für Zumutungen die den ganzen Tag formulieren. Viel wichtiger ist es doch, andere Fragen zu stellen, andere Probleme anzugehen. Die Kids von Fridays for Future machen mir da Hoffnung.

wbh: Welche Auswirkungen haben das Internet und die sozialen Medien für unser gesellschaftliches Miteinander?

Eine riesengroße Frage. Das Internet verändert viel, weil sich viele virtuelle Gemeinschaften zusammenfinden können, im Guten wie im Schlechten. Das reicht dann von demokratischen Initiativen, über herrlich verrückte Verschwörungstheorien bis zu gefährlichen rechten Netzwerken. Wir sollten bedenken, dass die Entwicklungen sehr rasant vonstatten gingen. Es wird noch etwas brauchen, bis sich bestimmte Dinge eingepegelt haben. Zudem hat sich der Stoffwechsel für Nachrichten so derb beschleunigt, dass mittlerweile fast nichts mehr tatsächlich relevant ist. Noch der größte Skandal ist nur kurze Zeit später unbedeutend, weil drei neue ihn zum Schnee von gestern machen. Ein Beispiel: Es gab einen Riesenaufschrei als erkennbar wurde, dass und wie dramatisch der Amazonas brennt. Mittlerweile ist das Thema aus den Schlagzeilen, und dort brennt es vermutlich munter weiter.

wbh: Wie empfindest du derzeit unser gesellschaftliches Miteinander? 

Miteinander gibt es eigentlich nur auf privater und beruflicher Ebene. Gesellschaft ist immer schon vermittelt, distanziert und medial. Die Rede vom gesellschaftlichen Miteinander ist daher schon schwierig, weil sie indirekt auf eine Art Gemeinschaft anspielt. Genauso wie die Diskussionen um einen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wer soll denn zusammenhalten? Moderne Gesellschaften sind hochdifferenziert und von Distanz geprägt. Das eine kollektive Wir, das zusammenhält, ist eine gefährliche Fiktion. Mir wäre wohler, wenn wir liberale Grundsätze (die wohlgemerkt wenig mit der FDP zu tun haben) wie „leben und leben lassen“ hochhalten. Anders formuliert: Wir brauchen kein Miteinander, sondern ein respektvolles Nebeneinander.

Gerade um dieses liberale, respektvolle Nebeneinander scheint es mir nicht gut bestellt. Ich erlebe im Alltag oft Situationen, in denen Menschen unfreundlich, aggressiv und herrisch auftreten. Die permanente Anspannung hinterlässt vermutlich ihre Spuren. Zu oft fehlen mir zwei Dinge: einerseits Distanz und Respekt. Warum mischen sich die Leute so gern und bisweilen vehement in die Belange anderer ein? Wenn ich etwa bei Rot über die Ampel laufe, mag das ein Regelverstoß sein. Aber es muss doch die Person neben mir nicht interessieren, solange ich niemanden gefährde, oder? Andererseits fehlt mir bisweilen eine Spur Höflichkeit. Es wird viel gemeckert und gemotzt, der deutsche Michel halt. Ja, das sind Banalitäten. Aber sie kommen mir schon wie ein Ausdruck einer permanent überdrehten, politisch unruhigen Gesellschaft vor, in der alle mit allen konkurrieren.

wbh: Wie sollten Journalist*innen und Medien mit der Wahrung unserer demokratischen Grundordnung umgehen? Wie mit Rechtsextremist*innen und Rassist*innen?

Der Journalismus ist gegenwärtig in Bedrängnis. Das hat vorrangig systematische Gründe: Die Ökonomisierung der Medienlandschaft und eine atemberaubende Vervielfältigung der Möglichkeiten durch die Digitalisierung haben einen enormen Druck erzeugt. Klicks sind gefragt, weil nur so einigermaßen Geld in die Kassen kommt. Daraus entsteht ein Sog, eine Jagd nach Drama und Aktualität. Das ganze System scheint heißgelaufen. Daraus folgt auch, dass Medien oft genug und zumeist ohne böse Absicht (klammern wir mal die BILD aus) das Geschäft der AfD betreiben, indem sie sich fast ohne Unterlass mit deren verbalen Eskalationen beschäftigen. Das schafft einerseits Auflage und hält die AfD andererseits permanent im Fokus. Rhetorische Zumutungen werden durch Wiederholung normalisiert, selbst wenn auf sie kritisch verwiesen wird. Und der Eindruck entsteht, als führe im Moment kein Weg an den Rechten vorbei, als würden sie alles bestimmen.

Das führt dann auch zur zweiten Frage. Sicher muss irgendwie abgebildet werden, wie Rechte ticken, was für irre Abgründe sich auftun. Und dass der Unterschied zwischen AfD und dem Terror von Halle nur die Wahl der Mittel ist, nicht aber die Gesinnung. Allerdings wäre es manchmal, vielleicht sogar oft ratsam zu überlegen, wo genau es nötig ist zu berichten, also aufzuklären. Wer noch nicht begriffen hat, wes Geistes Kind AfD, PEGIDA und so weiter sind, der will es auch nicht begreifen. Es kann also hin und wieder sogar besser sein, Rechte mit Ignoranz zu strafen.

wbh: Wie gestalten wir unsere Zukunft?

Mir scheint, dass eher die Zukunft uns gestaltet. Und wir werden sehen, was das heißt. Die gute Nachricht ist, dass der rechte Unfug nie auf Dauer funktioniert. Das liegt nicht nur daran, dass die Konzepte alt sind. Wichtiger ist vielleicht, dass rechtes Denken systematisch falsch ist, weil es immerzu Geschichte oder Kultur mit Natur verwechselt und nicht begreifen kann, dass die Dinge immer schon in Bewegung waren und immer in Bewegung sein werden. Daraus resultiert ein gewissermaßen interner Modus der permanenten Eskalation: Es kann nie sicher, rein oder deutsch genug sein. Die Frage ist also nicht, ob die Rechten „gewinnen“; sondern nur, wie viel sie kaputt machen können.

wbh: Was hinterlassen wir unseren Erb*innen?

Wie es aussieht einen vom Warenfetisch und vom Primat der Ökonomie völlig überhitzten, ausgebeuteten und verdreckten Planten. Vielleicht kommt es auch anders. Allerdings stimmt mich die Rückkehr alter, nationalistischer Politik nicht sonderlich optimistisch.

wbh: Was möchtest du ihnen hinterlassen?

Solche Fragen stelle ich mir nicht. Das tendiert dazu, entweder privat zu werden („Ich möchte meinen Kindern zwei Eigentumswohnungen hinterlassen“) oder einen Rahmen anzusprechen, der so oder so weit jenseits meiner Reichweite liegt. Dass wir etwas politisch hinterlassen könnten, scheint mir entweder eine Illusion oder arg großspurig. Das heißt freilich nicht, politisch untätig zu werden. Zu große Ziele allerdings lähmen eher, als dass sie motivieren.

INTERVIEW MIT DAVID GLOWKA

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin Bäckermeister mit Leib und Seele. In Reudnitz. Man hat mir schon immer gesagt, und da war ich erst vier, der Junge will mal Bäcker werden. Ich gehe mit 97 in Rente. Die Kunden tragen mich dann aus der Backstube raus.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Nicht wirklich. Politisch engagiere ich mich nur insoweit, dass ich meine „Linksautonomen“ in Reudnitz davor warne, sich instrumentalisieren zu lassen. Ich meine das aber auch mit dem sprichwörtlich erhobenen Zeigefinger für alle. Die sollen sich ihre eigenen Ideen beibehalten. Das Bauchgefühl, mit dem sie sich wohlfühlen oder nicht. Das ist mein Engagement. Und natürlich mein Handwerk, dass ich sehr hochhalte.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Weiß ich nicht, weil ich nicht mitmache. Aber, vielleicht zählt es, wenn ich sage, dass ich mich mit Menschen unterhalte und zuhöre. Das bringt manchmal auch der Beruf mit sich. Bei meinen „Linksautonomen“ habe ich das Gefühl, dass sie nicht wissen, wo sie hingehören. Und ich spreche mit ihnen. Und sie verstehen mich. Ist das politisch aktiv?
Oder vor Weihnachten gehe ich meine Spendenaktionen durch. Dann mache ich mir mein Weihnachtsfest und spende an sieben oder acht Projekte. Ich schiebe mein Geld dorthin, wo es gebraucht wird. Das macht mir Freude. Zumal ich sehe, dass diese Projekte nicht von staatlicher Fürsorge gestreichelt werden.
Ich habe Jajweh aus Gambia eingestellt. Er hat ein Bleiberecht für ein halbes Jahr. Vorher hatte ich einen Syrier bei mir beschäftigt. Und davor einen Libyer. Das ist mein Beitrag für die Gesellschaft.
Ich hänge schon mal ein Plakat auf Augenhöhe in mein Fenster für Demos gegen Rechts. Dann fragen mich die Kunden schon mal, das sei doch ein klares Statement. Ja, sage ich dann. Ich kann mir rechts nicht leisten.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich bin Teil des Ganzen. Schlichtweg. Es wird mich immer betreffen. Es ist redlich ungeschickt, sich als Fußgänger am Straßenverkehr zu beteiligen, wenn ich die Straßenverkehrsordnung nicht kenne. Und so sehe ich es mit der Gesellschaft.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Das ging früher besser, als ich noch selbst verkauft habe. Da habe ich viel gequatscht. Da war die von der Leyen noch Familienministerin. Und ich habe zu den Frauen gesagt, was meckert ihr, die Frau macht aber etwas. Also, in erster Linie sehe ich eine Lösung im Miteinanderreden. Von Mensch zu Mensch.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Wir haben das alles schon richtig gekonnt. Es hat den „Frühling der Völker“ gegeben im 19. Jahrhundert. Das ist unser Erbe. Wir können das alles. Zumindest die alten Kulturen konnten das. Und wir?

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Da war jetzt das Buch „The big five for life“ von John P. Strelecky. Wir sollten uns alle Duzen, dann wäre die Welt eine bessere Welt?! Über die Empathie ließe sich mehr erreichen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Wir halten Menschenwürde und Gleichberechtigung für selbstverständlich. Für andere ist das gar nicht so. Sollte Wilhelm Busch recht behalten: „Die Welt ist so geräumig und der Kopf ist so beschränkt.“ Da hilft es auch nicht, den Ausländer zu verteufeln. Sie kennen unsere Welt gar nicht. Wir sollten ihnen erst unsere Welt zeigen, dass sie uns verstehen. Aber, das bekommen wir gar nicht hin, weil wir nicht miteinander reden. Wir sind nicht mutig genug, uns mit der Wahrheit auseinanderzusetzen. Und dazu gehört auch, dass wir die Sozialromantik in dieser Frage beiseitelassen sollten. Wir müssen den Menschen als Menschen betrachten unabhängig von seiner Herkunft.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Für uns sind diese Dinge zu selbstverständlich, deshalb nehmen wir sie gar nicht mehr so wahr. Ich habe mir die Frage gestellt: David, wann warst du das letzte Mal in einer Ausstellung, im Theater …
Da gibt es für mich immer ein Bild über die Initiationsrituale: In dem Roman „Nachtzug nach Lissabon“ heißt so ungefähr: Wenn wir zu uns gehen, dann müssen wir uns unserer Einsamkeit stellen. Ein schöner Satz. Um dort zu sehen, welchen Zweck meine Existenz hat. Und was sind die fünf wichtigen Dinge in meinem Leben. Uns fehlt so eine Art gesundes Frösteln, um den Wert von dem Vorhandenen zu erfahren.
Allein wenn ich mir die Kultur in Leipzig anschaue. Wir wissen schon gar nicht mehr wie gut es uns geht: Gewandhaus, Oper, Schauspiel, Muko, Mendelssohnhaus, da bin ich immer wieder gern … Und fast jede Woche ein kulturelles Highlight. Wir leben kulturell sehr vorteilhaft.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Links wählen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg von Rechtspopulisten bei der Europa- und Kommunalwahl?

Angst vor dem, was da auf uns zukommen könnte. Was aber nicht passiert. Angst, vor die Tür gestoßen zu werden. Das Parteien- und Postengerangel in den etablierten Parteien wirkt auf die Menschen. Für mich relativiert sich alles, wenn so Politiker wie Trump oder Putin mit ihrem diktatorischen Verhalten auftreten. Aus der neuen Cindarella Verfilmung habe ich mir mitgenommen: „Wir müssen mutig sein und freundlich.“ Das ist die Idee von Würde, ohne Pathos. Dahin müssen wir zurückkommen.

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Noch mehr Stagnation. Weil es dann noch mehr Gezerre und Gerangel geben wird. Was die dort machen, ist nicht staatstragend. Es zerbröselt dann immer mehr.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem man seinen Namen mit daruntersetzt, indem man sich dafür mit einsetzt. Oder wie die Bibel sagt: Tue Gutes und rede darüber. Die anderen erfahren sonst nichts darüber, was du tust oder wofür du dich engagierst.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Ich habe eine Zeit lang auch nicht gewählt. Der Nichtwähler hat sich aber dann mit dem Ergebnis der Wahl zufrieden zu geben. Wenn ich zu den 15 Prozent gehören will, die eine Gesellschaft verändern, dann muss ich wählen gehen und immer eine Wahl treffen. Nicht nur im Sinne einer Wahlurne, sondern in jeder Sekunde meines Lebens. Wenn Du nicht an die Macht kommst, dann kommen andere an die Macht. „Horror vacui“. Es gibt kein Vakuum. Die Angst vor dem Nichts.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Ich glaube, wir sollten auch manchmal die Leute lassen, die ihre Ruhe haben wollen. Wir können ihnen nur etwas anderes vorleben. Gert Ulms hat mir mal gesagt: „David, Du kannst eine Saat ausbringen, ob was wächst …“ Ich bin nicht für alles verantwortlich. Wenn der andere noch nicht reif genug dafür ist, dann macht er auch nicht.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Das ist ein Generationsproblem. Wir machen das, was wir vorgelebt bekommen. So bleiben wir in unseren Stereotypen. Der Ausländer ist sozialisiert in seiner Gemeinschaft, so wie wir Deutschen. Und je nachdem, was uns an Werten beigebracht wurde, können wir auch weitergeben. Und so verhält es sich mit den Mitmenschen, die einfach keine Erfahrungen mit „Fremden“ haben.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja. Die leben in einer Blase. Genauso, wie wir in einer Blase leben und nicht verstehen können, was die da treiben. Sultan Haron Altraschid aus dem alten Mosaik, der hat sich unters Volk gemischt. Dem Volk aufs Maul schauen. Dadurch hat er herausbekommen, was das Volk will und warum man seine Ideen abgelehnt hatte. 😊 Brauchen wir mehr von einem „Türken Ali“ alias Günther Wallraf?! Darüber sind sie alle gestolpert.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Nein. Wie erzieht eine Katze ihre Jungen? Mit der Sturheit einer Katzenmutter.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Wollen wir in einer Militärdiktatur leben? Und wem nützt sie? Zivile Gesellschaft braucht Courage. Einfach Mut zur Auseinandersetzung. Das habe ich jeden Moment mit mir zu führen oder mit dir. Das ist das Leben.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem ich zur Wahl gehe. Und an die Grundregeln zu halten, die wir aufgestellt haben. Uns bewusster werden, dass die Demokratie uns nicht aus dem Ärmel fällt wie das Ass. Denn das muss ich doch erst dort hineinstecken, um es aus dem Ärmel zuziehen. Es ist nichts selbstverständlich. Wer nicht handelt, wird gehandelt.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Das sind die, die das begreifen, was wichtig ist. Die es im Alltag leben. Wir sind die, die aktiv gestalten.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich könnte auch an einen anderen Ort der Welt gehen. Aber, dort ist es auch nicht besser. Egal wo ich lebe, ich muss es leben. „Mein Zuhause ist, wo ich meinen Hut hinhänge“ singt Bob Dylan. Leben kann ich überall. „Hier bleiben“ ist das als Ort gemeint oder als Idee? Geh von Zuhause weg. Und lerne die Welt kennen. Deine Idee vom Leben bleibt aber deine.

INTERVIEW MIT FRANZISKA REIF

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin Autorin, Lektorin, Übersetzerin, außerdem Redakteurin beim kreuzer. Zum Beispiel habe ich vor einigen Jahren zusammen mit Tobias Prüwer ein Buch über Hartz IV geschrieben („A wie Asozial – So demontiert Hartz IV den Sozialstaat“), später das „Wörterbuch des besorgten Bürgers“ über die neue rechte Sprache mitherausgegeben (zusammen mit Robert Feustel, Nancy Grochol und Tobias Prüwer).

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Politik geht alle an, immer und in jedem Lebensbereich. Und nur so kann Demokratie funktionieren.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe: Wir leben in Freiheit, Frieden und Demokratie. Unsere Zukunft: Das Erbe erhalten und verbessern, indem etwa Ungerechtigkeiten beseitigt werden.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Respektvolle Umgangsformen und mehr Gelassenheit.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Ohne sie geht es nicht, wenn eine Gesellschaft funktionieren soll. Außerdem braucht es Solidarität und Rechtsstaatlichkeit.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Enorm wichtig. Weshalb es wichtig ist, all dies zu finanzieren.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Keine Partei wählen, die vom völkischen Systemsturz träumt. Und über die Wahl hinaus gibt es neben Parteien auch Initiativen oder Vereine, die sich über Unterstützung freuen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg von Rechtspopulisten bei der Europa- und Kommunalwahl?

Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die im Einzelnen mal mehr, mal weniger zutreffen mögen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Mangelndes Vertrauen in demokratische Prozesse. Das Gefühl, jetzt auch mal dran zu sein (nicht nur immer Wessis, Ausländer*innen oder Homosexuelle). Ein autoritäres Menschenbild und die Kontinuität autoritärer Regierungen, in Sachsen auch nach der Wende. Jahrzehntelange Verniedlichung von Nazis bei gleichzeitigem Misstrauen gegenüber allem, was emanzipatorisch und/oder gegen rechts ist; bis hin zur Diskreditierung und Kriminalisierung. Das eine Missverständnis, dass Politik und Bürger*innen zwei parallele Systeme sind. Das andere Missverständnis, dass die Politik den Bürger*innen individuell zu liefern hat, was diese sich jeweils wünschen. Es denen da oben mal zeigen wollen. Rachegelüste für die Erfahrung mangelnder Wertschätzung, nachdem das Kombinat geschlossen hatte und Westdeutsche mit bunten Krawatten das große Geld rochen. Die Behaglichkeit der Opferrolle. Die Fehlannahme, dass es mit der AfD mehr Rente gibt. Hang zu Verschwörungstheorien. Rassismus und der Glaube an die Überlegenheit der weißen sogenannten Rasse. Träume vom völkischen Umsturz.

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Wenn die AfD das Sagen hat, wird es zappenduster, vor allem da, wo es bereits an Infrastruktur fehlt. In der Vergangenheit haben AfD-Vertreter*innen immer wieder gesagt, dass sie Kunst, Kultur, Bildung und politischen wie Sozialprojekten vorschreiben möchten, was genau dort jeweils betrieben wird; alles andere hat keine Daseinsberechtigung, wird entsprechend bekämpft und außerdem nicht finanziert. Außerdem werden weder der Rechtsstaat noch das gesellschaftliche Miteinander profitieren.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Mitmachen oder Spenden vorbeibringen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Wer nicht wählen geht, wird Gründe dafür haben. Nichtwählen ist genauso ein Recht wie Wählen.

Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Stereotype Vorstellungen können eine Projektionsfläche für alles Mögliche sein; zumal in einem Landstrich, wo man Ausländer*innen nicht oft über den Weg läuft. Alarmistische Schlagzeilen und die Social-Media-Echokammer bestätigen dann nur, was das rassistische Weltbild bereits wusste.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Die repräsentative parlamentarische Demokratie ist vielleicht nicht der Weisheit allerallerletzter Schluss. Es muss sich aber niemand damit abfinden, auf der politischen Agenda nicht vorzukommen. Jammern und Meckern müssen sicher auch mal sein, Mitmachen führt aber zu mehr.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Um die Wutbürger*innen ging es nun schon einige Jahre, medial wie politisch. Das Asylrecht wurde in den vergangenen Jahren stark eingeschränkt, Europa ist ziemlich dicht. Merkel wurde öffentlich als Schlampe beschimpft, in Talkshows wird permanent die Frage verhandelt, ob nicht zu viele Ausländer*innen im Land leben (oder die falschen), und wir haben uns daran gewöhnt, dass es Leute gibt, die das Wort „Volksverräter“ ohne Anführungszeichen verwenden oder die andere „absaufen“ lassen wollen. Es ist wirklich an der Zeit, sich mal Zukunftsthemen zuzuwenden, zum Beispiel das Wohnungsproblem zu lösen, die Digitalisierung voranzutreiben, sich Konzepte für den demografischen Wandel vor allem in ländlichen Regionen zu überlegen, sich endlich wieder sozialer Gerechtigkeit und Teilhabechancen zuzuwenden oder den Planeten zu retten.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

So lässt sich die oben angesprochene gefühlte oder tatsächlich bestehende Kluft zwischen den kleinen Leuten an der Ecke und „denen da oben“ verkleinern.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

75 Prozent sind mehr als 25 Prozent.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich ziehe den Hut vor Leuten, die sich tagtäglich Anfeindungen und tätlichen Angriffen aussetzen.

Foto: Tobias Prüwer

INTERVIEW MIT ANTJE KRÖGER

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin die Idee von FRESSE ZEIGEN STATT FRESSE HALTEN und mittlerweile eine von vielen, die dieses Projekt durchführen, am Laufen halten, dafür brennen, daran arbeiten. Wir wollen bis zum 17. August 500 Fressen fotografieren, filmen, anhören … Ab 25. August online zeigen, 500 Fressen „Zur Positiven Einflussnahme auf die Landtagswahl am 01.09.2019 in Sachsen & Aufbau eines nachhaltigen Netzwerkes von Kreativen, Künstlern & Kulturschaffenden aus LEIPZIG und UMGEBUNG“. Eine so größenwahnsinnige Idee, dass es wahrscheinlich „nur“ 250 (innerhalb eines Monats, denn so jung ist dies Projekt) werden, aber solch wunderbare FRESSEN mit lebensbejahenden FÜRs für unsere Gesellschaft und manchmal spannenden Ideen, wie wir den Planeten Erde wieder auf Kurs bringen können (das habe ich geliehen von einem Teilnehmer gestern!). Unsere Fressen sind nicht nur ein Politisches Konzept, beruhend auf einem Manifest, sondern auch ein Kunstprojekt, ein Projekt für die Gesellschaft, für die Menschen, ein Projekt für die Schönheit, die Resonanz und die Energie, die wir alle so nötig brauchen, um eine träge Masse zu bewegen. Ich bin Künstlerin, unsere Protagonisten sind Kreative, Kulturschaffende und Künstler, die Idee eines Netzes schwebt im Raum, die Durchführung einer analogen Ausstellung und einer Party natürlich … Alles nach dem 1. September, denn dann wird natürlich weiter gemacht!

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Schlagworte: Kommunale Atelierräume, autofreie Städte, Konsumverweigerung, Kunst im Raum, Kunst im Kopf, Kunst im Herzen, Gemeinsame Dinner auf der Straße …

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Herz(er)wärmend.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Wir gestalten selbst, Werkzeuge haben wir dafür genug in die Hand bekommen. Ich denke nicht in Wichtigkeiten, sondern in Aufgaben, das bitteschön muss jeder mündige Bürger*in.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Sich zeigen, laut und leise sein in den richtigen Momenten, nicht gelten lassen: „Das war schon immer so + Da kann man eh nix machen.“

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Kampf und Kampf.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Verlässlichkeit. Wenn du solch ein Projekt startest, merkst du, dass dies der Wert ist, auf dem alles aufbaut.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Humanismus.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Fangen wir an mit zugänglicher und „runder“ Bildung für alle. Darauf können wir aufbauen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Hinschauen. Und zwar genau! Erinnern. Und zwar genau. Wirken. Und zwar konkret. 

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der Rechtspopulisten bei der Europa- und Kommunalwahl?

Der Umgang mit Menschen nach dem Oktober/November 1989 und die Verteilung/Veräußerung des Vermögens der DDR und die Übernahme eines bestehenden Grundgesetzes, Parteiensystems, bestehender Strukturen. 

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Rückschritt.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Energie in Form von gutem Essen vorbeibringen!

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Demokratischer Zwang.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Basisarbeit. Viel Basisarbeit leider. Zurück in die erste Klasse. Ne Menge Aufklärung und dann auf lebenslanges Lernen vorbereiten.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Warum habe ich als Kind Angst, alleine (nachts) in den Wald zu gehen?

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Wer gestaltet Politik vor allem? Lobbyisten. Die Frage ist also eine andere …

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ist die Jugend denn nicht wütend? 

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Was soll das „zivil“? Gesellschaft und Courage gehören zwingend zusammen. Jeder Teil einer Gesellschaft muss für die anderen Teile einstehen, kämpfen, sie auch bestrafen usw. Das ist schon per Definition so.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Fühlen, denken, machen. Weniger so viele geschlossene Fragen stellen, sondern Freiräume für offene Antworten schaffen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Wir sind nicht mehr. Wir sind wir. Und alle. Und: wir gehören zusammen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Auch hier wiederhole ich mich. Energie und Kraft an den richtigen Stellen. Nicht statisch sein. Alles fließt. (Heraklit)

INTERVIEW MIT MICHAEL SCHMIDT

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin seit 14 Jahren Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen und seit zehn Jahren im Leipziger Stadtrat aktiv und bin für die Fraktion Sprecher für Jugend- und Familienpolitik. Dabei engagiere ich mich vor allem für eine bessere Beteiligung von Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben, für mehr vielfältige Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien, die insbesondere den Heranwachsenden helfen, sich in der immer komplexer werdenden und zunehmend digitalisierten Gesellschaft zurechtzufinden und die dazu beitragen, interessierte, selbstbewusste und demokratisch denkende und engagierte junge Menschen zu entwickeln.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Ich finde es großartig, Gesellschaft und politische Prozesse mitgestalten zu können. Es ist ein Privileg, Dinge positiv verändern zu können, statt nur über bestehende Probleme zu meckern. Dabei ist aber jede und jeder selbst in der Verantwortung, Möglichkeiten der Beteiligung wahrzunehmen. Ich kann nur alle dazu motivieren, diese Chancen zu ergreifen, und wenn sie nur unzureichend existieren, diese nachdrücklich einzufordern.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie? Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich habe nicht die Erwartung, dass sich jede und jeder mit Politik beschäftigt. Es ist aber wichtig, allen Menschen das Wesen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, individueller Freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe zu vermitteln. Dies erreiche ich einerseits über gute schulische Bildung und über vielfältige Angebote für die aktive Beteiligung von Menschen jeden Alters an gesellschaftlichen und politischen Prozessen. Wenn wir auch künftig in einer freien Gesellschaft leben wollen, die von Solidarität und gegenseitigem Respekt geprägt ist und jedem Menschen die Freiheit zur individuellen Entwicklung lässt, müssen wir alle auch selbst etwas dafür tun und aktiv am Erhalt der Demokratie und an der Wertevermittlung der Heranwachsenden arbeiten.
Nur wenn sich die Menschen ernst genommen fühlen und merken, dass ihre individuelle Meinung wichtig ist, diese in Gestaltungsprozesse eingebracht werden kann und im weiteren Prozess auch tatsächlich Abwägungen vorgenommen werden, kann man Offenheit und Anerkennung gegenüber politischem Engagement erwarten.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

All dies sind grundlegende Angebote, die ein gesellschaftliches Zusammenleben möglich machen. Es gibt so vielschichtige Herausforderungen in der gesellschaftlichen Entwicklung, gerade durch die Digitalisierung, auf die mit geeigneten neuen Wegen reagiert werden muss und deren Angebote zur Wissensvermittlung, zum gegenseitigen (kulturellen) Austausch und Kennenlernen. Auch die Vermittlung von Medienkompetenz ist ein zentrales Thema. Junge Heranwachsende werden mit einer digitalisierten Welt konfrontiert, die einen enormen Einfluss auf das Freizeit- und auch Lernverhalten der Kinder und Jugendlichen ausübt. Ein verantwortungsbewusster Umgang mit Medien sowie den medial vermittelten Informationen und Inhalten, deren Ursprung, Wahrheitsgehalt und Wirkungen ist unabdingbar. Hierbei dürfen die Eltern auch nicht alleingelassen werden, sondern benötigen kompetente Unterstützungsangebote.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

In erster Linie eine demokratische Partei wählen gehen und Freunde und Verwandte zum Wählen gehen bewegen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Wir sind Menschen, die eine offene, vielfältige und demokratische Gesellschaft zu schätzen wissen und tagtäglich bereit sind, sich dafür zu engagieren. Wir lassen uns nicht einschüchtern von denen, die laut brüllen, die uns mit nationalistischen und neonazistischen Parolen entsetzen. Wir sind auch Menschen, die mit Optimismus und Ideen Probleme angehen, statt nur über deren Existenz zu meckern. Wir sind die, die Sachsen besser machen wollen!

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Wir überlassen Sachsen nicht den anderen, den Rückwärtsgewandten, den Destruktiven. Wir wollen Sachsen anders machen, demokratischer, offener, vielfältiger, grüner! Deshalb bleiben wir hier!

INTERVIEW MIT DR. MICHAEL SCHRAMM

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin stellv. Leiter der Schaubühne Lindenfels und dort für alle administrativen Angelegenheiten und die Kulturvermittlung zuständig. Der Bereich Kulturelle Bildung/Kulturvermittlung, den es v. a. an freien Theaterhäusern in dem gewünschten Umfang leider noch nicht gibt, liegt mir besonders am Herzen und ist an der Schaubühne seit über zwei Jahren auf Wachstumskurs. Ich lebe seit fast 20 Jahren in Leipzig, mit Frau und Kindern im beschaulichen Marienbrunn gleich neben dem Völkerschlachtdenkmal.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Es bleibt nichts anderes übrig, wenn man einen gewissen Anspruch an das gesellschaftliche Leben hat bzw. eine Idee oder einen Wunsch, wie dieses sein soll. Man kann natürlich sagen, das ist mir alles egal und ich will in Ruhe gelassen werden, aber dann braucht man sich nicht wundern, wenn andere über Dinge entscheiden, die mich und mein Leben betreffen und die mir vielleicht nicht gefallen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Das ist eine rhetorische Frage. Sehr wichtig natürlich! Wobei ich die Aufzählung mit Bildung beginnen möchte und dann noch dreimal Bildung kommt. Alles andere ergibt sich von selbst, weil wir dann aufgeklärte Menschen haben, die sich kritisch und konstruktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen können.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg von Rechtspopulisten bei der Europa- und Kommunalwahl?

Irrationale Ängste und fehlende Bildung. Das ist überspitzt formuliert und ich bekomme da auch massiven Gegenwind, das ist mir klar. Es wird ja so unglaublich viel Geld im Bildungssektor ausgegeben und Sachsen ist PISA-Spitzenreiter usw., ich weiß … Aber „mangelnde Bildung“ meine ich ganz global; nicht nur dass man zur Schule gegangen ist oder regelmäßig Zeitung liest. Ich meine damit, dass man weiß, was gerade so abgeht und warum. „Breite Bevölkerungsschichten“ haben aufgehört, sich mit der Komplexität der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu befassen und kritisch zu hinterfragen, was gerade passiert. Es ist viel einfacher, wenn man gesagt bekommt, was gut oder schlecht ist; vom Algorithmus der sozialen Medien oder der Werbung. Aber sich kritisch – also die Voraussetzung hinterfragend – mit der Welt auseinanderzusetzen und sich klar zu machen, was passiert, wenn man z. B. die D-Mark wieder einführt oder das Schengen-Abkommen aussetzt, ist natürlich anstrengend und erfordert Hintergrundwissen, was vielleicht nicht jeder hat – dann muss man eben losgehen und es sich aneignen. Und das erfordert Ausdauer, weil man anfangen muss zu lesen und feststellt, dass Schengen oder der Euro ja ursprünglich recht gute Ideen waren, und die Montanunion vielleicht auch. Und schon ist man beim 2. WK und dann beim 1. und danach beim dt./frz. Krieg, und plötzlich merkt man, dass diese ganze EU ja dafür sorgt, dass es seit – wie lange eigentlich nochmal? – keinen Krieg mehr in Europa gab, aber das stimmt doch nicht, wegen des Balkans in den 90ern usw. Und nun fragt man sich, was passiert, wenn Schengen nicht mehr gilt, plötzlich wieder nationale Grenzen sichtbar werden und dann der französische Wein, das hippe belgische Bier oder die spanischen Erdbeeren – die kaufe ich eh nicht wegen der Ökobilanz! –, nicht zu reden vom Sprit, den Klamotten und den Smartphones usw. teurer werden und man in den Urlaub wieder drei Stunden länger braucht und diese ganzen Tausendlira-Scheine, da blickt doch kein Mensch durch … Und was machen die Briten da gerade eigentlich … Sind die noch ganz dicht? … Sorry, ich schreibe mich in Rage … kürzt das gerne. Es geht also darum, dass die Welt komplex ist und man sich klarmachen muss, dass es keine unkomplexen Antworten auf komplexe Fragen geben kann. Genau das suggerieren aber Rechtspopulisten (z. B. „Grenzen dicht = alles gut!“) und da einfache Antworten bequem sind und nicht viel Nachdenken erfordern, sind eben so viele Leute schnell dabei.

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Hoffentlich keine, weil sich die anderen Parteien an ihre Ansagen halten und nicht mit der sogenannten AfD zusammenarbeiten werden. Alles andere will ich mir nicht vorstellen …

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Mit ihnen reden. Und zwar mit jedem einzelnen. Das ist utopisch, ich weiß, aber anders wird das nicht klappen. Die Menschen haben ja nicht Angst vor Überfremdung (Was ist das überhaupt?) oder fürchten um ihre Existenz (Das ist viel zu abstrakt.). Den Leuten geht es heute so gut wie nie und dennoch haben sie Verlustängste. Sie verstehen nicht, warum die Gemeindeverwaltung geschlossen wurde und die Buslinien eingespart werden und dann „plötzlich“ ganz viel Geld für Gflüchtete da ist. Oder warum junge Migranten mit Smartphones auf dem Marktplatz sitzen und den ganzen Tag nichts tun. Sie wissen nicht, dass die nicht arbeiten dürfen und das Smartphone alles ist, was sie haben; materiell wie ideell. Also muss man es ihnen erklären. Und da reicht es nicht, wenn das „die“ Politiker tun; jeder von uns ist hier gefragt.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Unwissenheit! Das ist vielleicht etwas plakativ … Aber ich behaupte, dass die meisten, die Angst vor dem Islam haben, weder den Koran gelesen noch jemals mit einem Imam gesprochen haben. Allerdings: Vor Fremdem Angst zu haben, ist ja nicht verwerflich, sondern ein sehr nützlicher Überlebensinstink. Aber dies dann nicht zu hinterfragen, sondern als Meinung zu kultuvieren und daraus dann ein Bedürfnis zu machen, ist schon problematisch. Aber eigentlich weiß ich keine Antwort …

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politikerinnen und Bürgerinnen?

Die Kluft ist eine nur gefühlte und – falls sie da sein sollte – geht von beiden Seiten aus. Es stimmt schon, dass viele politische Entscheidungen nicht sofort für jeden nachvollziehbar sind, weil sich „die Politiker*innen“ nicht immer genügend Mühe geben, sie zu erklären. Andererseits ist es aber auch von den Bürger*innen zu erwarten, dass sie sich informieren. Also nicht „ES KANN DOCH NICHT SEIN, DASS …!!!!1!!1 DANKE MERKEL!“ in die sozialen Medien tippen, sondern hingehen zum/zur Abgeordneten und fragen, warum er/sie so abgestimmt hat und was man vielleicht selbst tun kann. Das geht auch jenseits von Parteipolitik. Wenn man was ändern will und gute Gründe dafür findet, dann wird man auch gehört. Das ist jedenfalls meine Erfahrung.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Wutbürger*innen haben keine exklusiven Bedürfnisse, die haben nur Meinungen! Na klar müssen wir uns mehr um die Bedürfnisse der Jugend kümmern. Das fängt aber damit an, dass wir den Kleinen nicht das Rennen auf den Schulkorridoren verbieten und die Großen dazu „zwingen“ Instrumente zu lernen. Es braucht eine mutige Bildungsrevolution, nicht -reform, und kein ideologiegeladenes Kleinklein, wie das im Wahlkampf hin und wieder aufblitzt.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Noch eine rhetorische Frage. Was sind denn die Alternativen?

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Noch viel mehr in Bildung investieren … nicht nur Geld!

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Im Grunde genommen sind die meisten Leute ja vernünftig. Jedem geht mal was gegen den Strich und dann ändert man das eben oder ist gelassen genug, sich damit abzufinden. Wenn wir jetzt davon ausgehen, dass die ca. 20%, die diese sogenannte AfD in Sachsen wählen, vielleicht gerade mal 10 – 15% der Gesamtbevölkerung ausmachen, dann könnte man gelassener sein, wenn alle anderen VERDAMMT NOCHMAL WÄHLEN GEHEN würden.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Das erinnert mich an das Bohei & Tamtam von 2018 und die Quartiersarbeit, die wir an der Schaubühne machen. Wir hatten im vergangenen Jahr das Straßen- und Stadtteilfest unter das Motto #WirBleibenHier gestellt und gemeinsam mit der IG-Metall, die damals gerade im Kampf um die Arbeitsplätze bei Siemens und Hallberg-Guss war, die große Sommerparade der Werktätigen veranstaltet. Da ging es um Gentrifizierungsfragen vor Ort in Plagwitz genauso wie um den Verbleib der letzten Industriearbeitsplätze im Leipziger Westen, der einst ein Zentrum der Industrialisierung gewesen war. Das hat damals viel Aufsehen erregt, dass sich die Kultur- und Kreativleute mit den Industriearbeiter*innen „verbündet“ haben. Für mich ganz persönlich bedeutet es, dass ich hier bleiben möchte, in Leipzig, in Sachsen, im Osten. Und dass „wir“ einiges dafür tun müssen und das Feld nicht den Lauten und Radikalen überlassen. Also erstmal wählen gehen!

INTERVIEW MIT CHRISTOPHER ZENKER

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin 1979 geboren und in einer sehr politisch denkenden Familie aufgewachsen. Geprägt haben mich diesbezüglich vor allem meine Mutter und mein Großvater. Ich war in meiner Kindheit nicht bei den Pionieren und kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich schon als kleiner Junge wusste, dass ich nicht alles, was zu Hause besprochen wurde, weiterzählen sollte. Auch wenn aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis einige überlegt haben, die DDR zu verlassen, so war das für meine Familie auch 1989/90 keine Option. Für meine Familie stand fest, wir bleiben hier.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Die politische Prägung hat bei mir dazu geführt, dass ich 1996 in die SPD eingetreten bin. Die Verbindung des sozialen Gedankens mit dem Umweltschutz ist mir wichtig. Ich habe das Glück, die SPD seit 2004 im Leipziger Stadtrat zu vertreten. Im Stadtrat bin ich in den Ausschüssen Jugend, Schule, Gesundheit und Soziales sowie Sport tätig. Mich betreffen daher die Themen Bildung, sozialer Zusammenhalt und Sport in besonderem Maße. In der Kombination passt das sehr gut zudem, was ich im ehrenamtlichen Bereich sonst noch so mache. So habe ich 2015 das soziale Projekt Sachspendenzentrale mit aufgebaut und in gute Hände übergeben. Ich engagiere mich im Patenschaftsprogramm der Johanniter (früher beim Flüchtlingsrat) und bin im Städtepartnerschaftsverein Leipzig-Herzliya aktiv. Auch wenn ich meinem Hobby BSG Chemie Leipzig nachgehe, ist das nicht unpolitisch, denn der Einsatz für eine offene soziale Gesellschaft macht an den Stadiontoren nicht halt. Mir ist es wichtig, dass meine Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, die Diskriminierung mehrheitlich und deutlich entgegentritt. Ich möchte ein weltoffenes, vielfältiges, soziales Leipzig und Sachsen.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Mir macht es Spaß, allen Widrigkeiten zu trotz, es fühlt sich also gut an. Natürlich ist es nicht immer leicht und mitunter vielleicht auch mal frustrierend, weil die Mühlen oft langsam mahlen, aber ganz grundsätzlich ist es eine tolle Sache, sich mit den eigenen Ideen für die Gesellschaft einzusetzen. Schließlich gelingt es häufig, Verbesserungen für die Menschen vor Ort zu erreichen. Was mich nachdenklich stimmt, ist, dass in der Politik und in der Öffentlichkeit oft nur noch schwarz-weiß gemalt bzw. diskutiert wird und Zwischentöne kein Gehör finden.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Eine Demokratie lebt nicht nur von denen, die in Parlamenten sitzen, sondern eben auch von den vielen anderen, die mitdenken und mitmachen. Es reicht aus meiner Sicht eben nicht, nur zu meckern, wenn einem etwas nicht gefällt. Das kann man natürlich machen, aber viel gewinnbringender für uns alle ist es, wenn nicht nur gemeckert, sondern auch gemacht wird. Politik kommt vielen Menschen sicher häufig abstrakt und manchmal vielleicht ein wenig fern der Basis vor, aber insbesondere im kommunalen Bereich geht es um handfeste Lösungen. Da kann eigentlich jede oder jeder mitwirken, ob als Einzelperson oder über Initiativen, Vereine, Verbände oder Parteien.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Es wird hierbei immer wieder von einer Bringschuld der Parteien und politischen Vereinigungen gesprochen, die auf die Menschen zugehen, ihre Politik erklären und zum Mitmachen animieren sollen. Das ist sicher richtig, aber nur die eine Seite. Auch die Bürgerinnen und Bürger sind gefragt, sich aktiv einzumischen. Davon lebt eine Demokratie. Im Grunde geht es darum, wieder intensiver miteinander ins Gespräch zu kommen, zu streiten und nach den besten Lösungen zu suchen. Ich habe den Eindruck, dass uns diese Fähigkeit leider allzu oft verloren gegangen ist. Es reicht eben nicht, sich im Netz „auszukotzen“, wir müssen wieder dazu kommen, gemeinsam und vor allem respektvoll miteinander zu diskutieren. Und da heißt es, auch mal über den eigenen Tellerrand zu schauen und sich nicht nur mit Menschen zu befassen, die im gleichen Meinungsspektrum verortet sind. Wir müssen auch wieder dazu kommen, Kompromisse als Gewinn für die Gesellschaft zu sehen. Ich halte es da mit Helmut Schmidt, der mal gesagt hat: „Gesetzgebung und Entscheidung durch eine Parlamentsmehrheit setzt bei den vielen Einzelnen die Fähigkeit und den Willen zum Kompromiss voraus! Ohne Kompromiss kann kein Konsensus einer Mehrheit zustande kommen. Das muss man den Deutschen ins Stammbuch schreiben; die immer gleich vom faulen Kompromiss reden. Wer den Kompromiss prinzipiell nicht kann, prinzipiell nicht will, der ist zu demokratischer Gesetzgebung nicht zu gebrauchen.“

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe ist vielfältig und hat mit dem dritten Reich und den damit verbunden Millionen von Toden sowie dem Versuch jüdisches Leben zu vernichten, einen sehr dunklen Fleck, den wir nie vergessen dürfen. Meine Generation trägt nicht die Verantwortung dafür, was passiert ist, aber wir tragen Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder passiert. Unser Erbe hat aber auch schöne Seiten: Zum Beispiel im Bereich Kultur, aber auch mit der Friedlichen Revolution. Auch die guten Seiten unseres Erbes können uns Kraft für unsere Zukunft geben. Viele Menschen kennen es noch, wie es war, in einem Land zu leben, in dem Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt wurde und Demokratie nur auf dem Papier existierte. Das wurde mit der Friedlichen Revolution überwunden. Dieses Erbe können und müssen wir nutzen, unsere Zukunft zu gestalten. Dazu gehört es, die vor 30 Jahren erkämpfte Demokratie und die Freiheit zu verteidigen, jeden Tag aufs Neue. Wir müssen aufpassen, dass wir das Gewonnene nicht als selbstverständlich hinnehmen, denn dann laufen wir Gefahr, es zu verspielen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Ich wünsche mir mehr gegenseitigen Respekt, einander zuzuhören, miteinander zu reden und ich wünsche mir, dass man bereit ist, von Maximalpositionen auch mal herunterzukommen. Ich wünsche mir, dass die Verrohung der Sprache ein Ende nimmt, denn der Verrohung der Sprache folgen leider immer öfter auch Taten. Diese Verrohung der Sprache ist aus meiner Sicht auch Ausdruck mangelnden Respekts, fehlender Empathie und gegenseitiger Wertschätzung. Ordentlicher Umgang miteinander heißt ja nicht, dass man gleicher Meinung sein muss. Ich wünsche mir, dass wir Grundpfeiler des Anstandes finden bzw. wiederfinden.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Für mich sind dies drei Grundbegriffe unserer freiheitlichen Demokratie, ohne die gesellschaftliches Zusammenleben langfristig nicht funktionieren kann. Dennoch unterliegen diese auch einem Wandel und sollten durch unser Handeln stetig verbessert werden. Aktuell habe ich jedoch manchmal den Eindruck, dass wir uns diesbezüglich in einem Verteidigungskampf befinden, bei dem wir dafür sorgen müssen, dass Freiheit, Menschwürde und Gleichberechtigung nicht unter die Räder kommen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Kunst, Kultur und Bildung sind die Grundlage für den demokratischen Zusammenhalt. In wirtschaftlichen Zusammenhängen wird über Kunst und Kultur oft gesagt, es sei ein „nice to have“. Ich sage aber, Kunst und Kultur gehören zum „must have“. Letztendlich hängen die oben genannten Begriffe und Einrichtungen alle miteinander zusammen, denn ohne Bildung keine Kunst und Kultur, das gilt auch umgekehrt. Jugendhäuser und soziale Einrichtungen wiederum sind ohne Bildung nicht denkbar, Bildung ist elementarer Bestandteil dieser Einrichtungen. Für unser Zusammenleben sind noch viele weitere Faktoren wichtig, aber die genannten gehören eindeutig dazu. Bildung liegt allen genannten Begriffen und Einrichtungen inne, hier muss daher auch das Prae liegen, denn sie ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe und Integration.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um den Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Das Problem ist doch hier eher, dass ein möglicher Rechtsruck durch ein Wahlergebnis nur dokumentiert wird. Viel wichtiger sind hierbei doch die innergesellschaftlichen Entwicklungen, die sich in dem einen oder anderen Wahlergebnis widerspiegeln. Da muss der Hebel angesetzt werden. Es geht darum, zu ergründen, weshalb Menschen bereit sind, rückwärtsgewandten geschichtsrevisionistischen Parteien ihre Stimme zu geben und was sie sich davon versprechen. Die bisherigen Erklärungsmuster, warum Parteien am rechten Rand gewählt werden, sind, wenn man sich manche Wahlergebnisse anschaut, offenbar nicht passend. Doch was kann jede bzw. jeder Einzelne tun: Man kann in der Familie, mit Freundinnen und Freunden, Bekannten und Kolleginnen und Kollegen über Politik und Inhalt reden. Raus aus der Blase der sozialen Medien und den Austausch suchen. Man muss seine eigene Blase verlassen, das Gespräch suchen und offen Gesicht zeigen für eine demokratische Gesellschaft.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Es gibt ein Grundmisstrauen in unsere Demokratie. Nicht wenige setzen Demokratie und Wahlen gleich mit einem Pizzaservice: „Ich bestelle, ihr liefert“. So funktioniert es aber nicht. Demokratie ist mühsam, Demokratie ist langsam, Demokratie lebt vom Mitmachen und Demokratie lebt vom Kompromiss, vom Ausgleich von Interessen. Das heißt, ich kann eben nicht immer das geliefert bekommen, was ich mir persönliche wünsche. Vor allem Rechtspopulisten versprechen einfache Lösungen für komplexe Themen, sie versprechen Dinge, die sie nicht einhalten werden und vor allem spielen sie mit der Angst vor Veränderungen und schüren Hass und Angst auf Minderheiten.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Wir müssen nur in andere Länder schauen, um zu sehen was passiert, wenn Rechtspopulisten und Demokratiefeinde regieren. Um nur einige Beispiele zu nennen: Der Rechtsstaat wird abgebaut, Einrichtungen, die einem politisch nicht gefallen, werden geschlossen und oder die Mittel gestrichen, Kultur wird zensiert und Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte werden beschnitten. Das gesellschaftliche Klima wird sich weiter verschärfen und Übergriffe auf zivilgesellschaftliche Akteure, Menschen mit Migrationshintergrund, Muslime oder Jüdinnen und Juden werden zunehmen und der Rechtsextremismus wird weiter erstarken.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Es gibt ja bereits breit angelegte Förderungen für Demokratieprojekte. Insbesondere in Leipzig haben wir anlässlich des 30. Jubiläums der Friedlichen Revolution ein Jahr der Demokratie ins Leben gerufen, wo neben zahlreichen Projekten zur Demokratie auch Fördermittel für entsprechende Projekte zur Verfügung stehen. Diese Förderungen müssen verstetigt werden. Engagement für Demokratie ist auch nicht immer abhängig von finanziellen Leistungen, sondern vielmehr auch von Wertschätzung, die den Engagierten entgegengebracht werden sollte.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Nichtwähler zu erreichen ist in der Tat recht schwierig, weil auch sie aus mehreren Gruppen bestehen. Einerseits jenen, die sich von der Politik entfremdet haben, andererseits jenen, denen es schlicht egal ist. Das beste Mittel ist aus meiner Sicht jedoch immer noch das persönliche Gespräch und hier kann jede und jeder Einzelne auch seinen Beitrag leisten.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Das ist eine komplexe Frage, die sich nicht einfach beantworten lässt. Vorab jedoch: Trotz aller Herausforderungen und Umbrüche bin ich der Überzeugung, dass die friedliche Revolution ein Glücksfall ist und bleibt. Dennoch gibt es Menschen, die mehr erwartet haben und sich zurückgesetzt fühlen. Unsere Integrationsministerin hat mit ihrem aktuellen Buch dieses Thema in die Diskussion gebracht. Auch hier gilt für die Politik: Zuhören, lernen und Lösungen finden. Das ist sicher nicht einfach, aber das müssen wir tun, wenn wir diese Menschen nicht komplett verlieren wollen. Jeder, der die Zeit Anfang der 1990er-Jahre erlebt hat, weiß, bei wie vielen Menschen ein vorher geregeltes Leben plötzlich durch Arbeitslosigkeit, etliche Umschulungen und schließlich weitgehend Perspektivlosigkeit, aus den Fugen geraten ist. Es ist nachvollziehbar, dass Menschen, die sich als sog. „Wendeverlierer“ sehen, kein richtiges Zutrauen in unsere Demokratie haben, denn ihre Hoffnungen, die sie mit der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung verbunden hatten, haben sich nicht erfüllt. Dieses Vertrauen müssen wir zurückbringen, das wird nicht von heute auf morgen passieren, aber wir müssen zeigen, dass wir Lösungen finden und Schritt für Schritt umsetzen. Dennoch müssen wir zwei Dinge trennen: Persönliche Sorgen und Existenznöte sind kein Grund, andere Bevölkerungsgruppen zum Sündenbock zu machen und rassistische Einstellungen zu übernehmen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Die Ursachen und Erklärungen dafür sind vielfältig. Für uns sollte wichtig sein, wie kann diese Angst genommen werden.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Leider wird das so wahrgenommen und viele Menschen fühlen sich nicht mitgenommen. An sich muss das aber nicht sein, denn die meisten Politikerinnen und Politiker freuen sich über konstruktives Feedback. Fast alle Politiker ab der Landesebene unterhalten Abgeordnetenbüros, die für den Austausch stehen. Viele bieten an, auch zu dem Menschen selbst hinzukommen. Um es kurz zu sagen, es gibt viele Begegnungs- und Gesprächsmöglichkeiten, man muss sie nur nutzen. Ich selber bin auf der kommunalpolitischen Ebene aktiv, hier kann ich sagen, dass es diese Kluft nicht geben muss. Als Kommunalpolitiker erlebe ich vor Ort dasselbe wie die Bürgerinnen und Bürger und kann Entscheidungen direkt für die Menschen vor Ort treffen. Manchmal dauert es länger, aber oft werden Lösungen oder Kompromisse gefunden. Dennoch gilt auch hier, man muss mit anderen Meinungen, teilweise Zwängen, umgehen. Nicht alles, was wünschenswert ist, ist umsetzbar und nicht alles was gewünscht wird, findet meine Unterstützung. Um noch einmal das Gleichnis des Pizzadienstes zu bedienen: Politik funktioniert nicht nach dem Prinzip eines Lieferservices, ich bestelle ihr liefert, dazu sind Entscheidungsprozesse manchmal zu komplex und die Meinungen gehen teilweise weit auseinander.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Es gibt weder „die“ Jugend noch „den“ Wutbürger. Manchmal muss auch ich meine großstädtische Brille ablegen, denn die Antworten, die wir finden müssen, sind auf dem flachen Land andere als in den Großstädten, um nur zwei Stichworte zu nennen: Wohnungsmarkt und Verkehrsanbindung.

Wir stehen vor großen Veränderungen, wie z. B. im Bereich Digitalisierung, der Arbeitswelt oder dem Klimawandel, dass macht manchen Menschen Angst. Politik muss Antworten finden, die Jung und Alt oder auch Großstadt und ländliches Gebiet mitnimmt. Dies wird ohne Kompromisse nicht gehen.

Wo ich nicht bereit bin, auf „Bedürfnisse“ einzugehen, ist, wenn gesellschaftliche Herausforderungen dafür genutzt werden, um Hass auf Menschen zu schüren, die nicht in mein Weltbild passen, sei es aufgrund ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer sexuellen Orientierung.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Unverzichtbar für unsere Demokratie. Ohne Zivilgesellschaft und Zivilcourage wird es keine starke freiheitliche Demokratie geben.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Bringt euch ein, hinterfragt, redet miteinander, verteidigt die Demokratie im privaten und beruflichen Umfeld, auf Demonstrationen und am Stammtisch.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ich verbinde damit, dass der demokratische Konsens in unsere Gesellschaft weiterhin die Mehrheit der Menschen in Deutschland erreicht. Ich verbinde damit, dass man die Mehrheit vielleicht nicht immer hört, weil sie nicht am lautesten schreit, aber die Mehrheit, das sind wir, wenn es darauf ankommt. Dass wir mehr bleiben, bedeutet aber auch, dass wir täglich aufs Neue unsere Demokratie gegen die Angriffe ihrer Feinde verteidigen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Am 7.10.1989, dem 40. Jahrestag, sind in Leipzig 10.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die SED-Diktatur zu demonstrieren. Neben „Wir wollen raus“ als Slogan für Reisefreiheit, tauchten immer öfter auch Rufe „Wir bleiben hier“ auf. Das zeigt, die Menschen wollten die DDR verändern, sie wollten nicht einfach nur die DDR verlassen, sie wollten Freiheit und demokratische Rechte. Heute, 30 Jahre später, bekommt er für mich eine weitere Bedeutung: Er bedeutet für mich, dass ich das, was viele mutige Leipzigerinnen und Leipziger bzw. Ostdeutsche 1989 erkämpft haben, gegen die Feinde der Demokratie von heute verteidigen muss. Es bedeutet für mich, dass ich täglich für unsere demokratischen Grundwerte, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität eintreten werde und Sachsen nicht verlasse.

INTERVIEW MIT ENRICO LÜBBE

wbh: Möchten Sie unseren Leser*innen kurz von Ihrer Arbeit und Ihrem Leben erzählen.

Ich kenne die Stadt Leipzig bereits seit 1993, als ich – nach Kindheit, Jugend und Abitur in Schwerin – hierher zum Studieren kam. Ich bin seit 2013 Intendant am Schauspiel Leipzig, zuvor war ich fünf Jahre Schauspieldirektor in Chemnitz. Nach nunmehr 26 Jahren in Sachsen, also weit mehr als der Hälfte meines Lebens, würde ich dieses Bundesland schon als mein Zuhause bezeichnen.

wbh: Wo sind Sie aktiv, wofür engagieren Sie sich und treten sie ein?

Als Leiter einer städtischen Kulturinstitution habe ich täglich mit vielen Menschen zu tun – auch sehr unterschiedlichen Menschen mit oft divergierenden Ansichten und Meinungen. Ich empfinde diese Vielfältigkeit als bereichernd und wichtig, auch wenn einige harte Kontroversen auszuhalten, herausfordernd sein kann. Aber das gehört für mich zu gelebter Demokratie dazu und dafür trete ich ein.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Ich würde mir nicht anmaßen zu behaupten, dass ich Politik aktiv mitgestalte. Aber ich bin mir bewusst, dass das Schauspiel Leipzig einen gesellschaftlichen Auftrag hat und wir daran auch gemessen werden. Und ich sehe durchaus, dass unsere Arbeit in der Stadtgesellschaft wahrgenommen wird und nach außen wirkt. Ich denke, dass beispielsweise 2015 unsere eindeutige Positionierung zum Thema Flüchtlinge, Migration und Menschenrechte wichtig war. Seither hängt das Goethe-Zitat „Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter“ an unserer Fassade. In der gegenwärtigen Situation haben wir bewusst das Spielzeitmotto „Miteinander/Ensemble“ gewählt.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, sie sind die letzten Monate und Jahre schon deutlich mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die Frage ist, wie man Themen wie Demokratie, Grundwerte deutlicher mit einem positiven Image besetzt.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Hui, die Frage ist kompliziert! Ich breche es mal runter und antworte mit Karl Valentin: „Früher war die Zukunft auch besser!“

wbh: Was wünschen Sie sich für ein besseres menschliches Miteinander?

Ich wünsche mir eine deutlich bessere Kommunikation – auf allen Ebenen und Kanälen. Direkter, ehrlicher. Mit weniger Hass. Mehr Respekt und Toleranz. Weniger Neid, Missgunst und Gebrüll.

wbh: Was bedeuten für Sie Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Sie gehören zu den Grundwerten meiner Weltanschauung.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sie können Grundlegendes dazu beitragen. Der Bereich Bildung kann mir für unser zukünftiges Zusammenleben nicht hoch genug wertgeschätzt werden: Vieles, was wir unseren Kindern an Werten, an Wissen, an Kompetenzen mitgeben, wird unsere zukünftige Gesellschaft prägen. Auch die Arbeit im Bereich Soziales, in den Jugendhäusern finde ich extrem wichtig und bewundere die Menschen, die sich dort tagtäglich engagieren.

Das sind für mich die gesellschaftlichen Grundmauern: Bildung, Jugend, Soziales. Darauf bauen wir Kunst- und Kulturschaffende unsere Arbeit auf, wenn wir gesellschaftlich relevante Fragen stellen, unterschiedliche Positionen auf die Bühne holen, auch provozieren. Konkret das Theater gewinnt meiner Meinung nach gerade wieder an Bedeutung, denn so eine Kommunikationssituation wie bei uns wird in unserer Gesellschaft leider immer seltener. Bei uns sitzen bis zu 700 Leute in einem Raum, erleben gemeinsam eine im besten Fall emotional und intellektuell anregende Zeit, können sich direkt austauschen. Das ist ein großes Privileg des Theaters in einer Zeit, in der die Vereinzelung und Egozentriertheit spürbar um sich gegriffen hat.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Wählen gehen!

wbh: Was sind Ihres Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Die Gründe sind sicher komplex und lassen sich nicht mit einfachen Antworten erklären. Hinter jeder Stimme steckt eine Wählerin oder ein Wähler mit individueller Motivation. Ich glaube aber auch, es wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel verschlafen, bewusst oder unbewusst „übersehen“, auch totgeschwiegen. Dass es in vielen ostdeutschen Bundesländern Probleme gab und gibt, ist lange bekannt. Dass es tiefe emotionale Verletzungen nach 1989/90 im Osten gab, die bis heute nachwirken, dass es radikale Gruppierungen gibt, die immer größeren Zulauf finden – das ist schon lange bekannt. Dennoch wurde über Jahre beispielsweise von früheren sächsischen Ministerpräsidenten behauptet, Sachsen hätte kein rechtes Problem. Anscheinend wollte sich niemand in seiner Amtszeit dieses heikle Thema auf die Agenda setzen. Die Übergriffe in Chemnitz im letzten Jahr sind nicht vom Himmel gefallen: In meiner Zeit in Chemnitz wurde beispielsweise das jüdische Restaurant „Shalom“ bereits mehrfach angegriffen, aber erst im letzten Jahr, als Chemnitz explizit zum Thema Rechtsextremismus in die Schlagzeilen kam, wurde das ein großes mediales Thema.

Spätestens seit dem Aufdecken des NSU kommt niemand mehr an den rechten Problemen in Sachsen und anderen ostdeutschen Bundesländern vorbei. Die Aufregung wurde 2015 mit Heidenau, PEGIDA etc. erneut groß, der Fokus auf Sachsen und viele ostdeutsche Bundesländer wurde so stark wie die Jahre davor kaum. Aufmerksamkeit scheint etwas zu sein, was viele Ostdeutsche seit Jahren vermissen. Und die Themen Extremismus, AfD und Ostdeutschland garantieren viel Aufregung und Unruhe in Deutschland und darüber hinaus. Die letzten Wahlen zeigten denn auch wieder, dass sich mit relativ wenig Aufwand ein „speziell ostdeutscher Reiz“ setzen lässt, der große überregionale Wahrnehmung garantiert. Vielleicht ist dies für einige wichtig(er), als sich tatsächlich mal mit Inhalten auseinanderzusetzen?

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Das muss man sehen und abwarten. Vor allem auch, welche Koalitionen sich im neuen Sächsischen Landtag finden und wer in die Regierungsverantwortung kommt, welche Ministerien wie besetzt sein werden etc. Wir haben vor der Sommerpause im Schauspielhaus öffentlich aus den Parteiprogrammen zur Sächsischen Landtagswahl gelesen. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre übrigens, die für Jede und Jeden zugänglich ist. Dort kann man am besten erfahren, welche Auswirkungen welche Regierung für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben können.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Hingehen, sich vernetzen, sich gegenseitig stützen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Ich versuche es immer damit, ihnen zu erklären, warum ich es schade finde, dass sie ihre Stimme nicht nutzen und wie wichtig dieses Grundrecht für eine funktionierende Demokratie ist. Aber letztlich ist es die eigene Entscheidung und auch das Recht einer Jeden und eines Jeden, nicht zu wählen. Auch wenn ich es persönlich nicht gutheiße.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Zunächst einmal, indem man ihnen zuhört und ihre Ängste, Sorgen ernst nimmt – egal ob man sie teilt oder nicht. In der Formulierung „gefühlte (Wende-)Verlierer“ steckt das Wort GEFÜHL. Und Gefühle sind nicht immer rational oder logisch oder „richtig“. Es ist eine große Herausforderung (so habe ich es zumindest oft in Gesprächen erfahren) gegen „Gefühle“ zu argumentieren und zu überzeugen. Dennoch sollte und muss man sich dem stellen.

Ich glaube, dass eine weitere Konfrontation und gesellschaftliche Spaltung vermieden werden muss. Es gibt für unser Land klare Grenzen, die im Grundgesetz deutlich benannt sind. Die gehören eingehalten. Punkt. Aus. Aber jede Bewegung innerhalb dieses Rahmens sollten wir aushalten können, egal ob es uns gefällt oder nicht.

wbh: Warum haben Ihres Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Ich weiß gar nicht, ob sie tatsächlich alle Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“ haben oder Migrant*innen oder Muslimen. Vielleicht sind es eher diffuse, irrationale Sorgen, die mit jeder einzelnen persönlichen Biographie zu tun haben – Biographien, die teilweise von massiven Veränderungen geprägt sind, von Verlustängsten. Und da ist der sogenannte „böse schwarze Mann“, den man gerade hier in Ostdeutschland ja fast gar nicht sieht, nur ein Sinnbild und Ausdruck für viele diffuse, irrationale und extrem unterschiedliche Ängste und für eine Form der Überforderung.

wbh: Meinen Sie, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Mag sein, dass sich viele Menschen nicht abgeholt „fühlen“. Aber so funktioniert eine demokratische Gesellschaft eben auch nicht, dass sich Jede oder Jeder mit ihrer oder seiner Meinung immer auf Platz 1 der Tagesordnung vertreten findet und „einzeln abgeholt“, immer sichtbar und immer gehört wird. Das gehört eben auch zur Demokratie dazu, dass es Mehrheitsentscheidungen gibt (die zumeist Kompromiss-Entscheidungen sind) und mit denen ich mich arrangieren muss. Wer politisch etwas ändern möchte, gestalten möchte, darf sich doch gerne politisch engagieren. Ich persönlich habe sehr viele Menschen in der Politik kennengelernt, die zu einem Großteil ehrenamtlich viel für ihre Stadt, ihr Land, unseren Staat leisten. Ich habe großen Respekt vor deren Arbeit und finde es beschämend, wenn sie zum Teil persönlich aufs Schlimmste angegriffen und diffamiert werden.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie sehen Sie das?

Ich würde diese Gruppen nicht gegeneinander ausspielen.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ich halte sie für sehr wichtig.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir immer wieder positiv hervorheben, welch hohes Gut unsere Demokratie ist und wie dankbar wir unseren Vorfahren sein müssen, dass sie dies für uns erkämpft haben. Aber wir müssen eben auch ehrlicherweise immer betonen, dass Demokratie harte Arbeit bedeutet – für ALLE Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.

INTERVIEW MIT MARKUS RENNHACK

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Auf die Gefahr hin schon bei der ersten Antwort langweilig zu werden: Mit Blick auf den Anlass dieses Interviews möchte ich ein bisschen weiter ausholen als das bloße „Ich bin Musiker, Musikunternehmer und Politologe“.
Ich hatte das große Glück, meine Berufung schon als Teenager gefunden zu haben und bis heute immer sehr nah dran gewesen zu sein, sie auch offiziell „Beruf“ nennen zu dürfen. Ich mache seit meinem vierzehnten Lebensjahr Musik, immer unabhängig, immer kompromisslos, entsprechend auch immer wahnsinnig prekär. Ich habe Jahre erlebt, in denen ich die täglichen Brotscheiben abzählen musste. Trotzdem habe ich nie an diesem Weg gezweifelt, denn ohne Musik würde ich vermutlich eingehen.
Also hieß es lange Zeit auch kämpfen. Kämpfen gegen normative Lebensentwürfe, kämpfen gegen kafkaeske Bürokratie. Nach der Schule bin ich aus dem Westerzgebirge nach Leipzig gezogen. Hier habe ich in musikalischer Hinsicht das Tor zur Welt gefunden und nebenbei so lang wie möglich per Studium zumindest frei vom Gängelsystem des deutschen Sozialstaats gelebt. Ich war ganze 16 Semester eingeschrieben, was im tabellarischen Lebenslauf nach Faulheit aussieht. Tatsächlich habe ich mein Politikwissenschaftsstudium aber durchaus ernsthaft in der Rekordzeit von 5 Semestern geschafft, aufgeteilt in drei Intensivphasen und unterbrochen von zweieinhalb Albenproduktionen und zahllosen Konzerten.
Danach war ich ein sperriger Sonderfall im System Hartz4 – ausgebildet, diesen Quatsch zu durchschauen und die Sachbearbeiter mit rechtswissenschaftlichen Kniffen und Max-Weber-Zitaten an die Grenzen ihrer Dienstanweisungen zu bringen, aber auch generell gar nicht sinnvoll erfassbar. Das kann jeder freiberufliche Künstler bestätigen: Alle Erfolge zählen nicht, wenn der Businessplan nicht aufgeht. Und das geht er in der Kulturwirtschaft praktisch nie. Du kannst am Morgen noch vom Bürgermeister für den Pressetermin als Kulturschaffender die Hand geschüttelt bekommen, am Nachmittag bist du wieder der asoziale Schmarotzer, der wegen der Weigerung, für einen unflexiblen 40h-Schichtjob sein dekadentes „Hobby“ aufzugeben, mit Sanktionen bekehrt werden muss. Ein Glück, dass ich Brotscheibenzählen schon vom Studium her gewohnt war.
Noch größeres Glück aber, dass ich irgendwann 2014 meinen langjährigen Verleger Rajk in Berlin getroffen habe und wir spontan beschlossen haben, dass ich bei ihm als Mitarbeiter einsteige und wir Kick The Flame vom Ein-Mann-Unternehmen zum mittlerweile wohl größten Musikverlag der Region haben wachsen lassen. Es macht mich glücklich, mit dieser Arbeit so vielen anderen Autoren und Musikern eine Infrastruktur bieten zu können, die den Rücken freihält und Dinge ermöglicht, statt zu verkomplizieren und zu bremsen.
Rückblickend glaube ich heute mehr denn je, dass Empowerment die richtige Einstellung ist, Menschen zu begegnen. Überall, ob Ämter, Schulen oder Stammtische. Ganz besonders, wenn es Begegnungen sind, die nicht auf Augenhöhe stattfinden. Da kann eine Behörde noch so offiziell von Kunde und Agentur sprechen, von „gemeinsamen Bemühungen“ etc. – wenn die zugrundeliegende Haltung von Geringschätzung und Misstrauen geprägt ist, wird immer am Ende nur Demütigung und Verdrossenheit rauskommen. Ich habe auf dem Weg zum Jobcenter seinerzeit immer „Schlachtrufe BRD“ gehört, linksextreme staatsfeindliche Musik. Und ich war tatsächlich auch in Bombenlegerstimmung.
Ich habe kein Verständnis für Politikverdrossenheit, der das Solidarische fehlt. Die sich an den Mitmenschen abarbeitet, statt an den Verhältnissen. Aber ich kann den Weg dahin durchaus nachvollziehen. Es ist der leichte Weg, auf dem man nicht kämpfen muss, auf dem man sich einfach treiben lassen kann, bis einen jemand auffängt und mitzieht. Und die Resonanz ist dann halt am stärksten, wenn dieser jemand genau diesen Zorn, diese Verletzungen und diese Ohnmacht bespielt und instrumentalisiert.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Mich treiben drei Themen um, die mir sehr am Herzen liegen. Ich habe im Studium das Konzept des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) kennengelernt und mir interdisziplinär alles dazu reingezogen, was greifbar war. Das reichte von meinem Stammfach Politikwissenschaften über Soziologie bis hin zu Philosophieseminaren über Gerechtigkeitskonzepte usw. Dass ich meine Jura-Wahlpflichtprüfung im Bereich Arbeitsrecht abgelegt habe, war auch davon motiviert. Wir Politologen wissen schon lange, dass die moderne Vollbeschäftigungsgesellschaft passé ist und die postmoderne Herausforderung darin besteht, zu einer Gesellschaft zu finden, in der Erwerbsarbeit nicht mehr das zentrale Element ist. Ein BGE – in welcher Form auch immer – ist hier eine elegante Lösung. Ich habe mich dafür vor allem in den frühen Nullerjahren sehr intensiv in den Diskurs geworfen.
Mein zweites Herzensthema ist das Urheberrecht. Wie fast jeder Musiker habe ich auch sehr naiv angefangen und erstmal nur gemacht, ohne an Geld und Musikbürokratie zu denken. Und wie jeder Musiker habe ich quasi von Tag eins an gehört, wie doof die GEMA sei und wie Kacke Kommerz usw. Ich habe ungefähr fünf Jahre lang bitter notwendiges Einkommen verschenkt, weil ich die Geschichten nicht hinterfragt habe. Seit 2003 bin ich in der GEMA, die ich nicht nur als mein Inkassounternehmen, sondern viel mehr als meine Gewerkschaft verstehe. Und spätestens seit meiner ersten Tantiemenausschüttung ist meine Mission, den Lügen und Halbwahrheiten in meiner Szene Aufklärung entgegenzusetzen, damit andere nicht genauso lang wie ich das wichtige Standbein auslassen.
Das hat sich schnell erweitert zur generellen Urheberrechtsdebatte, in der uns Autoren ja auch immer von diversen Stakeholdern und halbinformierten Leuten erzählt wird, dass Sharing gleich Caring sei und die Musikindustrie en bloc eine Contentmafia. Richtig schlimm wurde es, als die Piraten um 2012 ihren Hype hatten und wegen ihres offenen Konzeptes einige BGE-Aktivisten wie Susanne Wiest und Johannes Ponader dort hineindrängten. Da war die Anti-Urheberrechtspartei plötzlich auch die BGE-Partei und hat diesen Spagat mit der These vom BGE als Ersatz für Vergütungsansprüche versucht. Das hat mich damals sowohl als BGE-Aktivist als auch als Urheber die Haare raufen lassen.
Seit 2012 habe ich dann also die Debatte nicht mehr nur in der Szene geführt, wo wir ja wenigstens alle den gemeinsamen Hintergrund des Musikmachens hatten. Ich bin rausgegangen und habe mich in jede Debatte eingeklinkt und sowohl die Idee des BGE gegen den Piratenmurks verteidigt, als auch für ein starkes Urheberrecht argumentiert. Da das BGE leider noch nicht so viel Reichweite hat, ging es irgendwann nur noch um das Urheberrecht. Und weil ich sowohl einen praktischen als auch einen fachlichen Hintergrund mitbringe, war ich bald deutschlandweit als Sachverständiger unterwegs und bin das im Prinzip auch heute noch.
Mein drittes Herzensthema ist Umweltschutz. Da man aber nur begrenzt Energie aufbringen kann, ist das ein sehr stilles. Hier nerve ich wohl eher passiv aggressiv mein direktes Umfeld, mit meiner fleischlosen Ernährung und allgemein sehr konsumasketischem Lebensstil. Offen gesagt bin ich hier auch viel zu inkonsequent, um öffentlich den Zeigefinger zu erheben.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Großartig, wenn man was erreicht, frustrierend, wenn nicht. Also meistens frustrierend, mit ein paar tollen Momenten. Mir hilft, dass ich eigentlich auch sehr gern diskutiere, womit ich nicht streiten meine. Ich lerne gern und ich mag Herausforderungen. Meine Mitgestaltung ist ja fast immer informell und mittelbar. Nur in der GEMA kann ich mir als Delegierter der „kleinen“ Komponisten manchmal selbst auf die Schulter klopfen, wenn ich an einem Antrag zum Verteilungsplan mitgewirkt habe. Aber das ist auch alles sehr kleinteilig.
Ich habe Hochachtung vor Kommunalpolitikern, vor Verbandsleuten und all den anderen Menschen, die im Maschinenraum der Gesellschaft fern vom Rampenlicht dafür sorgen, dass alles irgendwie läuft. Während meiner Arbeit im Verlag und als Delegierter bekomme ich ein bisschen das Gefühl dafür und bin umso glücklicher, wenn ich wieder nach Draußen darf, auf ein Podium oder am allerliebsten natürlich mit der Gitarre und meinen Bandkollegen auf die Bühne.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich bin mir offen gesagt gar nicht sicher, ob diese Frage so allgemein gestellt werden kann. Ich möchte bspw. nicht, dass Rassisten und Faschisten aktiv Politik mitgestalten. Ich bin auch regelmäßig unglücklich über Kampagnen für hohe Wahlbeteiligung, da ich als Politologe natürlich weiß, dass Nichtwähler- und Protestwählermilieus weitgehend deckungsgleich sind.
Ich halte es für wichtig, sich erstmal grundsätzlich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob man selbst eher von weltanschaulichen Konzepten oder von konkreten gesellschaftlichen Problemen getrieben ist, bevor man politisch aktiv wird. Letzteres ist super, weil man quasi sofort lösungsorientiert ins Thema einsteigen kann. Aber in beiden Fällen kommt man nicht umhin, sich die Anschlussfrage zu stellen, ob man sich gerade wirklich für alle Betroffenen engagiert oder ob man ein Partikularinteresse bedient und wie schwer dieses in Abwägung mit anderen Interessen wiegt. Die Antwort auf das „wie“ der Mitgestaltung heißt meines Erachtens „verantwortungsbewusst“.
Es kann nicht schaden, sich mit John Rawls Konzept des Schleiers der Unwissenheit (über die eigene Betroffenheit von Entscheidungen) zu beschäftigen, den man sich überwerfen möge, bevor man die Gesellschaft gestaltet. Überhaupt halte ich die Lektüre von Moralphilosophie für unterschätzt, wenn es um aktive Politik geht.
Klar, ich möchte natürlich auch, dass jeder mit einer solidarischen Haltung aktiv Flagge zeigt und das Maul aufmacht, wenn Nazithesen laut werden. Aber ich fürchte einerseits, dass wir hier schon in manchen Regionen froh sein dürfen, wenn man danach nicht gleich aufs selbige Maul kriegt, es also einfach leicht dahingesagt ist, wenn man in Leipzig wohnt. Das bloße „Macht mal, wenns brennt“ reicht nicht, wir brauchen wirklich tiefere, kompetentere und interessantere Debattenkultur, die auch das Gegenüber fordert und nicht nur Reflexe abfragt.
Und andererseits wünsche ich mir auch grundsätzlich im Kleinklein, dass nicht Mehrheitsentscheidungen unser Leben prägen, bei denen sich niemand erkennbar in die Lage der nachteilig Betroffenen eingefühlt hat. Denn unser aktuelles Problem mit „besorgten Bürgern“ geht ja nicht zuletzt darauf zurück, dass sich so viele abgehängt fühlen wegen genau dieser Erfahrung.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Ich finde diese Frage wunderbar. Unser Erbe ist eine intakte, aber stark angeknackste Gesellschaft. Eigentlich läuft hier alles vergleichsweise reibungslos, aber trotzdem lauert gefühlt ständig der Abgrund. Wir schauen alle ängstlich in die Zukunft, nur die Ängste unterscheiden sich. Also erlauben wir uns nie wirklich eine Zukunft, sondern reihen nur Gegenwart an Gegenwart und früher war natürlich immer alles einen Ticken besser als heute und die anderen sind alle doof, weil sie die falsche Angst mit sich herumtragen.
Natürlich lässt sich Wandel nicht aufhalten. Wir ignorieren das aber, statt im Positiven zu umarmen und im Problemfall effektive Lösungen zu wagen. Und wenn die Kinder in den Brunnen gefallen sind, dann beschäftigen wir uns lieber mit Schuldfragen, statt die Ärmel hochzukrempeln. Wir machen es denen, die schon an den Lösungen arbeiteten, als wir noch ignorierten, dann noch schwerer. Denn Schuldfragen werfen ja das Problem auf, dass man die vorherige Ignoranz noch viel stärker legitimieren muss. Da stören Leute, die es schon immer besser gewusst haben.
Ich bin überzeugt, dass unser kulturelles und gesellschaftliches Erbe erst richtig aufgearbeitet werden muss, bevor wir eine Zukunft haben. Wir müssen eine kritische und gleichzeitig positive Haltung zu unserer Identität finden. Ich sage das im Bewusstsein, dass mir viele Linke hierin widersprechen werden. Ganz besonders, wenn ich noch eins drauflege und sage, dass wir in Ostdeutschland ganz besonders auch unsere DDR-Vergangenheit ganz dringend aufarbeiten müssen, noch dringender als die Nazizeit, bei der wir uns zumindest über sämtliche Lager hinweg, einschließlich der Rechten, einig sind, dass sie ein Schandfleck in unserer kulturellen Vita ist.
Das Problem mit der DDR ist nämlich, dass vor 40 Jahren eine legitime subversive Protestkultur blühte, die sich intensiv an einem totalitären Regime abarbeitete, das heute im Rückblick überwiegend ostalgisch verklärt als ein bisschen Stasi, ein bisschen Mauer und der schrullige Honecker ganz harmlos aussieht, damals aber eben die Menschen zwang, entweder mit der Faust in der Tasche zähneknirschend mitzulaufen oder aber für den harmlosesten Quatsch als Staatsfeind verfolgt zu werden. Das will und kann sich keiner mehr vorstellen, gerade, wer es wie meine Generation nur noch als Kind oder die nachfolgenden nur noch als Anekdote erlebt hat.
Erinnerungen an Regime verblassen, Kultur hingegen ist zählebiger. Und unsere spezifisch ostdeutsche Kultur hat einen reichen Schatz an konkreter Systemkritik hinterlassen, die ohne den zeitgeschichtlichen Kontext plötzlich offen für feindliche Übernahme ist. Wenn heute die AfD mit Slogans wie „die Wende vollenden“ und Nazis mit „Wir sind das Volk“ aufschlagen, dann docken die genau daran an. Wir müssen uns diese Kultur wieder zurückholen, indem wir uns den Kontext wieder ins gesellschaftliche Gedächtnis rufen und eben klarstellen, dass ein Schimpfen aufs System eben nicht einer Demokratie galt, sondern genau solch einem totalitären Staat, den sich AFD und Nazis wünschen. Wir müssen klarstellen, dass die Freiheitskämpfer zumeist selbst dezidiert sozialistisch und mindestens solidarisch eingestellt waren und sich nicht mit einer ausgrenzenden, menschenverachtenden Bewegung gemeinmachen würden. Unsere inoffizielle Ossi-Kultur war damals ja tatsächlich im Subversiven der Zukunft und dem Menschen und nicht zuletzt auch der Umwelt zugewandt.
Aber natürlich geht es nicht nur um Ostalgie versus Erinnerung. Landser covern Ton Steine Scherben, PEGIDA singt „die Gedanken sind frei“, Neonazis schmücken ihre Facebookseiten mit Zitaten von Fichte und Fontane und – ausgerechnet! – Heine. Fehlt nur noch Brecht … Das darf man denen wirklich nicht überlassen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Gelassenheit und mehr Achtsamkeit.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Sehr große Ziele, die laufend und insbesondere im Kleinklein neu errungen werden müssen. Ich finde es spannend, dass jeder dieser drei Begriffe, insbesondere aber die Freiheit, Grenzen haben, die sich nicht eindeutig ziehen lassen. Am ehesten vielleicht noch bei der Menschenwürde, die muss man ja „einfach“ nur unangetastet lassen. Aber gerade die Urheberrechtsdebatte hat mich gelehrt, dass auch die Frage, wann das Urheberpersönlichkeitsrecht weniger wiegt als die Kunst-, Meinungs- oder ganz schnöde die Konsumfreiheit, auch sehr schnell die Würde der Betroffenen berührt.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Extrem wichtig und leider auch mit destruktivem Potential behaftet. Wir brauchen nicht nur all das, sondern wir brauchen von all dem das Richtige. Ich finde es gut, dass ihr psychologische Betreuung hier mit aufzählt. Das hat ja ein unsinniges Stigma. Für mich geht das aber bereits damit los, dass wir Hilfestellungen im Umgang mit Situationen bekommen, in der Art, dass wir nicht irgendein Schema abarbeiten, sondern dass wir uns darüber klar werden, was mit uns und unserem Gegenüber passiert.
Ganz wichtig finde ich das, wenn Kinder ins Spiel kommen. Ich habe zwei Knirpse und psychologisches Know-How hilft mir, zu verstehen, was mit denen und was mit mir und was mit meiner Freundin los ist, während wir uns gemeinsam durch dieses Abenteuer wurschteln, eine Familie mit irgendwann vier mündigen Menschen zu sein. Ich suche das und nehme das gerne an. Und ich glaube auch, dass das in vielen Beziehungen hilft.
Man muss ja immer aufpassen, dass man nicht pathologisiert. Ich glaube nicht, dass bspw. fanatische Arschlöcher alle massiv psychisch gestört sind. Ich glaube vielmehr, dass wir alle einen leichten Knacks weghaben, ganz einfach, weil wir noch in einer Kultur leben, die uns nicht achtsam und bedürfnisorientiert und empowernd sozialisiert, sondern eher Ängste und Minderwertigkeitskomplexe kultiviert. Das schütteln wir nicht so schnell ab, das wird noch ein paar Generationen brauchen…
Umso wichtiger, dass niemand alleingelassen wird und es breite soziokulturelle und auch psychologische Angebote gibt. Was ich so von den Schulen höre, stimmt mich das im Moment aber eher pessimistisch. Da scheint noch nicht viel Fortschritt im Vergleich zu meiner Schulzeit Einzug gehalten zu haben. Ohne jetzt meine Lehrer dissen zu wollen. Mir geht es eher um die systematische Ausrichtung, die didaktischen Konzepte, Notenzwang, Leistungsdruck, Eintrichterung von Faktenwissen, also Lernen für die Prüfung, nicht fürs Leben. Ich hatte einige Lehrer, die haben uns trotzdem für ihr Fach begeistern können und uns intuitiv auf Entdeckungsreise geschickt. Aber das darf nicht lehrerabhängig, sondern muss systematisch sein.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Ich werde jetzt nicht sagen, dass jeder wählen gehen soll, auch wenn das zweifelsohne das Effektivste wäre. Dafür ist mir das Recht auf Stimmenthaltung aber einfach zu wichtig, gerade wenn man sich gezwungen sieht, immer und immer wieder ein kleineres Übel zu wählen. Das ist ein bisschen wie Geiselhaft. Ich wünsche mir natürlich, dass jeder eine demokratische Partei wählt. Ich wünsche mir aber noch mehr, dass jeder ganz aktiv mindestens der demokratischen Partei seiner Wahl ganz massiv auf den Keks geht mit programmatischen Vorschlägen und Kritik, auf dass wir endlich mal zu dieser partizipativen Politik finden, die wir auf dem Papier schon haben. Denn die müssen nicht nur die Parteien liefern, wir Bürger müssen sie auch aktiv einfordern.
Genauso wichtig finde ich, dass wir das elende Mimimi der „besorgten Bürger“ kompetent zur Rede stellen. Das ist meistens gar nicht so anstrengend, wenn man sich erst einmal dazu überwunden hat, den „Frieden“ zu stören. Tatsächlich ist meine Erfahrung, dass in gemischten Gruppen die Rechten oft einfach nur deswegen die Deutungshoheit haben, weil alle anderen peinlich berührt sind und hoffen, dass bald das Thema wechselt. Entsprechend hilft es dann nicht, einfach anders peinlich einzusteigen. Aber es lohnt sich eigentlich immer, ganz sachlich aber mit Haltung zu widersprechen oder wenigstens Zweifel zu Äußern. Dann kommen die anderen auch sehr schnell aus der Deckung. Endlich hat mal jemand was gesagt …
Der Witz ist ja, dass die Rechten eigentlich kein wirklich relevantes Thema haben. Migration und Islamismus? Viel zu weit weg, wenn man auf dem Land wohnt und wenn man in der Metropole wohnt, kennt man normalerweise genug Muslime um zu wissen, dass die nicht alle mordlüsterne Fanatiker sein können. Deutsche Leitkultur und identitäres Gedöns? Viel zu abstrakt! Klimaskepsis? Viel zu uncool. Mit den Kernthemen holen die jenseits ihrer Blase niemanden ab.
Die Gefahr liegt in der Instrumentalisierung von alltäglichem Unmut. In der Facebookgruppe meines erzgebirgischen Heimatstädtchens lässt sich das schon seit Monaten beobachten, wie die AfD-Anhänger jeden kleinen Schwachsinn versuchen zur Systemfrage hochzujazzen. Wenn da niemand gegenhält, dann kann das verfangen. Aber es ist so verdammt einfach zu entzaubern, wenn man einfach mal das Heißlaufen der Politikverdrossenheit mit ein paar freundlichen kompetenten Einwürfen abwürgt. Gerade, wenn sich jeder kennt und Trollereien eher schlecht rüberkommen, besteht die Chance, mit Argumenten wirklich was zu bewegen. Und sei es, die Protestwähler wieder zurück ins Lager der Nichtwähler, wenn denn die demokratischen Parteien keine brauchbaren Angebote liefern.

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Vor allem kurzfristig für die Soziokultur und mittelfristig auch für die Kultur im allgemeinen katastrophale Folgen. Wir rechnen mit Streichung von Fördermitteln und mit dem Versuch der Behinderung von allem, was sich auch nur ansatzweise gegen rechts positioniert. Mit vielem werden sie nicht durchkommen, gerade die Idee von der inhaltlichen Verpflichtung zu einer bestimmten Art von Kultur scheitert ja an der gesetzesvorbehaltlosen Kunstfreiheit – da sind die Erfahrungen mit totalitärem Zugriff einfach zu massiv gewesen. Aber der Umweg über die Fördertöpfe ist natürlich da. Und dass eine rechte Kulturpolitik hier nur mit Kahlschlag zum Ziel kommen kann, also mit der Trockenlegung ganzer Kulturbereiche, wenn dort viele gegen rechts aktive Projekte verortet sind, macht die Sache nur noch schlimmer.
Was unsere Gesellschaft insgesamt angeht: Ich denke, da wird sich nicht viel ändern. Wir haben den Rechtsruck nur in den Wahlergebnissen, in der Gesellschaft kam das schleichend, aber mit Ansage. Es ist ja auch nicht gerade so, dass wir eine sehr progressive CDU haben. Und wer heute AfD wählt, hat in vielen Fällen wohl bislang auch nur auf eine wählbare Alternative gewartet. Nicht unbedingt zu den demokratischen Parteien, wohl eher zur NPD. Kaum verhohlene Neonazis zu wählen, ist halt doch eine krassere Nummer, als die „wertkonservativen“ Pseudodemokraten. Die werden nicht gleich das Dritte Reich ausrufen, es aber vielleicht „der Schnösel-Elite mal so richtig zeigen“. Wenn man das Gefühl hat, dass man nicht zur Zielgruppe der kulturellen Angebote gehört, dann läuft es sich auch leicht Amok bei der Stimmabgabe.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Durch Mitmachen oder wenigstens offenem Beifall. Man muss eigentlich auch jedem Danke sagen, der im Alltag von frustrierten Leuten runtergemacht wird. Vom Busfahrer bis zum Polizisten. Solidarität einüben! Denn wie eingangs gesagt: Politikverdrossenheit ist die Wurzel, aber das eigentliche Übel ist die unsolidarische Haltung. Sonst könnte ja auch Aktivismus wachsen, die Welt für alle besser zu machen und nicht für alle anderen noch schlechter.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Die SPD wagt ja gerade in Sachsen ein spannendes Programm der Öffnung für Mitsprache. Und Kretschmer tourt durchs Land mit seinen Bürgergesprächen. Finde ich beides grundsätzlich sinnvoll, aber ändert nichts am Grundproblem der Existenzangst.
Ich bin wie gesagt für ein BGE. Konkret in der Form des ausbezahlten Einkommenssteuerfreibetrags wie wir das vom Kindergeld bereits kennen. Wenn die Existenzsicherung vom Erwerbseinkommen abgekoppelt wäre, sinkt nicht nur die Angst vor Armut, sondern bekommt die Frage des Berufs auch eine weniger drastische Bedeutung für die Identität. Da das Erwerbseinkommen „nur“ noch den gehobenen Lebensstandard finanziert, kann man nach wie vor stolz auf seinen Job und seinen Lifestyle sein, muss sich aber nicht mehr als asozialer Schmarotzer fühlen, wenn man arbeitslos wird. Man kann auch aufgrund des dann wirklich freien Arbeitsmarktes auch ein positiveres Gefühl zum Job entwickeln. Man geht nicht mehr malochen, um nicht gedemütigt zu werden, sondern man arbeitet für sich. Und was viele gar nicht auf dem Schirm haben: Wir haben ja nicht nur das entwürdigende Narrativ vom Arbeitslosen als jemanden, dem man per „Fördern und Fordern“ Hilfe aufdrängeln muss, sonst kriegt der sein Leben nicht auf die Reihe. Wir haben auch das Narrativ vom Steuerzahler, dem die Politik Rechenschaft ablegen muss, weil der ja alles bezahle. Da denkt intuitiv keiner an die Mehrwertsteuer, sondern insbesondere an Einkommenssteuer. Denn das ist die Steuer, die man am intensivsten wahrnimmt. Man kann sie per Steuererklärung beeinflussen und man bekommt vom Finanzamt nochmal einen Brief, quasi als Erinnerung: Du gehörst dazu. Oder eben nicht. Ein Einkommenssteuerbasiertes BGE macht automatisch auch jeden zum Einkommenssteuerzahler, also zum wichtigsten Typen in der deutschen Gesellschaft.
Und die Fördertopfabhängigkeit der Kulturprojekte, über die wir ja schon gesprochen haben, ist mit BGE zwar nicht weg, aber deutlich milder. Die freie Szene und überhaupt jedes Unternehmertum könnte angstfrei agieren. Ein Scheitern bedeutet schlimmstenfalls das Ende des Projekts, nicht das Ende der eigenen Existenz.
Die Angst vor Überfremdung kann man wohl nur durch Konfrontation mit Fremdem lösen. Ich denke aber ehrlich gesagt nicht, dass Überfremdungsangst wirklich so signifikant ist. Ich halte das eher für ein Ventil der stigmatisierten Existenzangst.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich mag die Anführungszeichen hier. Der Witz ist ja, dass niemand auf Bedürfnisse eingeht, sondern nur auf die plakativen Forderungen. Es hat doch niemand das Bedürfnis, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken oder dass Leute abgeschoben werden usw. Selbst die meisten der „besorgten Bürger“ begründen ihre menschenfeindlichen Positionen ja stets mit ökonomischen und sicherheitspolitischen Sorgen. Die Leute wollen für sich ein angenehmes Leben mit absoluter Garantie, dass das in der Krise auch so bleibt. Und die Jugend sieht, dass in ihrer Lebensspanne die Krise voll reinschlagen wird, wenn wir jetzt nicht endlich mal was unternehmen.
Klar hat da die Jugend recht. Genauso wie die Menschen, bei denen die Krise schon voll reingeschlagen ist, Recht haben. Nämlich das Recht, irgendwohin zu fliehen, wo es sich besser lebt. Es ist im Grunde genommen genau so simpel. Man muss schon ein ziemliches Arschloch sein, wenn man in dieser Situation nur an sich denkt. Deshalb machen wir ja all diese Verrenkungen, um die Situation möglichst komplex dastehen zu lassen. Niemand will Arschloch sein, aber konsequent will auch niemand sein. Je egoistischer, desto mehr Verrenkung ist notwendig. Aber auch: je verrenkter, desto egoistischer kann man sein.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Die Zivilgesellschaft ist das A und O. Zivilgesellschaft heißt ja Bürger, die sich als Souverän verstehen und nicht als Untertan. Es gibt Untersuchungen zur sogenannten Staatsbürgerkultur. Es fällt auf, dass in Ländern mit ausgeprägter Zivilgesellschaft auch die Politik oft gut abschneidet. Die Skandinavischen Länder sind ein Beispiel. Länder mit überwiegend verdrossener Bevölkerung neigen eher zu schwachen, anfälligen Systemen mit vielen Regierungskrisen, hoher Korruption etc. Was da was bedingt, ist die große Frage. Vermutlich bestärkt sich das gegenseitig. Deutschland hat übrigens eine Untertanenkultur (wenig Engagement, durchaus Kritik, hohe Erwartungshaltung an die Politik) im Wandel zur partizipativen Staatsbürgerkultur. Mein Stand ist aber frühe Nullerjahre, also nagelt mich nicht darauf fest! 😊
Wenn ihr Zivilcourage im Sinne von Einstehen gegen Übergriffe meint, dann halte ich das ebenfalls für sehr wichtig, auch wenn es verdammt schwer ist, den Anfang zu machen. Aber eine Situation hat ja auch immer ein Nachspiel und es ist nie zu spät, den Mund aufzumachen. Und sei es, dem Opfer hinterher beizustehen oder den anderen zu signalisieren, dass der Übergriff, dessen Zeugen man gerade gemeinsam war, nicht akzeptabel ist und man einfach zu schockiert oder zu ängstlich war, sofort Zivilcourage zu zeigen. Ist ja leider auch nicht immer ungefährlich.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Als plakatives Bekenntnis eine gute Alternative zum anstrengenden Diskurs.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Im Grunde das gleiche. Ich muss aber gestehen, dass ich zwar wegen der Musik NACH Leipzig gegangen bin, aber ein bisschen auch wegen der Nazis weg VON meiner Heimat im Zwickauer Umland. Mein Herz hängt noch immer am Erzgebirge und ich bin sehr gern dort, schreibe diese Zeilen sogar auf Heimatbesuch. Aber ich habe hier auch eine Jugend verbracht, in der es normal war, dass man auf die Fresse bekommen kann, einfach nur, weil man alternativ aussieht. Ich habe erst mit zeitlichem und örtlichem Abstand gelernt, dass es eben NICHT normal ist, ständig auf Überfälle vorbereitet zu sein. Dauerhaft will ich da nicht wieder hin, schon gar nicht mit meinen Kindern.