INTERVIEW MIT JENNIFER SONNTAG

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich darf mich als Cocktail aus Fernsehmoderatorin, Buchautorin, Inklusionsbotschafterin und Sozialpädagogin bezeichnen und für mich machts genau die Mischung, weil sich die Bereiche gegenseitig befruchten und ich auch für viele soziale Themenfelder ganz neue kreative Wege erfinden und pflastern kann. Ich lebe in Halle, wirke aber in Halle und Leipzig und bin Leipzig subkulturell auch durch meinen Partner DiRot sehr verbunden.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Inklusionsbotschafterin bin ich bei der Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ (ISL). Ich berate und berichte rund um Barrierefreiheit, Teilhabe und Selbstbestimmung und setze mich generell publizistisch für eine vielfältige Gesellschaft ein. Auch in der Sendung „Selbstbestimmt! Zeige ich seit inzwischen über 10 Jahren Flagge für diese Inhalte. In einem Großteil meiner Bücher bearbeite ich soziale Missstände und kläre über Lebenswelten am Rande der Gesellschaft auf. Ich hoffe, dass das jetzt nicht kitschig klingt, aber ich möchte eben gerade als Blinde der Ignoranz die Augen öffnen und Menschen sichtbar machen, die für einen Großteil der Bevölkerung unsichtbar sind. Mit diesen unsichtbaren Schicksalen bin ich als Sozialpädagogin seit nahezu 20 Jahren vertraut und immer wieder erstaunt, wie unsicher und befremdet Menschen werden, wenn mal jemand anders ist oder anders aussieht, als sie selbst und wenn sie mit Ungewohntem konfrontiert sind.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Ich bin eine große Freundin von Aktionsgruppen, die auch wirklich aktiv sind und etwas bewegen, etwas bewirken, nicht nur rumsitzen und sich gern reden hören. Allerdings habe ich auch großen Respekt vor politischen AktivistInnen, die die Geduld aufbringen, an langwierigen Prozessen dranzubleiben. Da müssen allzu oft dicke Bretter und dicke Holzköpfe gebohrt werden und das Ergebnis bleibt häufig dennoch schlecht. Ich will da oft eher die schnelle Nummer, wenn sie denn gut durchdacht ist. Ich finde es immer dankbar, durch z. B. unsere Interessensvertretung, die Kobinet-Nachrichten, für die ich hin und wieder auch Beiträge schreiben darf, unsere Fernseharbeit oder die sozialen Medien, wie durch euer großartiges Projekt, eben nicht nur den eigenen Stammtisch zu erreichen, der ja eh schon die Problematik kennt. Ich habe immer den großen Drang, alles was wir machen auch zu streuen, sichtbar zu machen, am Leben zu halten, Mitmacher zu gewinnen. Wenn wir so allein vor uns hinkämpfen, auch diese Seite kenne ich, verlieren wir schneller den Mut und können uns über Jahre ziemlich abreiben. Es fühlt sich auch großartig an, gemeinsam Kraft und Stärke zu entwickeln, Themen transparent zu machen, Ideen zu kreieren und konkret an Lösungen zu arbeiten. Mein Partner ist ja auch Mitglied bei der Sammelbewegung „Aufstehen!“ und ich versuche ihm von meinen Tätigkeitsfeldern und er mir von seinen immer wertvolle Impulse mitzugeben.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Weil alles was wir tun, hoch politisch ist und wir selbst dann, wenn wir uns als nicht besonders politisch interessiert bezeichnen würden, doch politische und parteiische Entscheidungen treffen. Das macht jeder von uns täglich unfassbar oft, mit jedem Lebensmittel, was wir konsumieren, mit den Textilien, die wir tragen, mit den Möbeln und Autos, die wir kaufen und mit unseren Urlaubsreisen. Wir wirken uns aus mit unserem Denken und Handeln, all das bestimmt Bedarfe, beeinflusst die Wirtschaft, macht Politik. Ich bin da ganz schlicht gesagt für das „Kehren vor der eigenen Haustür“, denn damit beginnt das Bewusstsein für unser eigenes Mitgestalten. Wir sollten uns täglich fragen, wie wir nach dem Aufstehen der Welt begegnen, mit welchen Worten, mit welchen Taten. Wir sind doch auch davon abhängig, wie fair sich andere uns gegenüber zeigen, wie sie sich zu uns bekennen oder ob sie uns an den Rand drängen oder uns gar ausstoßen oder ausbeuten wollen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Nicht jeder von uns ist dafür gemacht, sich in einen Ausschuss zu setzen und wie wir wissen, haben PolitikerInnen selbst oft auch ganz wenig mit Politik im eigentlichen Sinne zu tun. Dieser Personenkreis bedient leider auf einem hohen Energielevel andere Phänomene. Ich erlebe hingegen viele junge und alte Bands, YoutuberInnen und junge Podcasts, sogar „SinnfluenzerInnen“, die einer ganzen Generation Mut zu einer eigenen Haltung machen und die Bock auf Politik mit Blick auf Vielfalt haben, womit sie andere anstecken. Jeder hat die Möglichkeit sich zu bilden und zu informieren, da die Zugangswege für einen gesunden Menschen unglaublich einfach sind. Ich sag das jetzt mal mit einem Augenzwinkern: Das krieg ich ja selbst als Blinde hin und für mich ist es gar nicht mal so leicht und selbstverständlich, im Netz immer auch barrierefrei an die gewünschte Information zu kommen. MedienkonsumentInnen brauchen sicher manchmal eine möglichst mundgerechte Variante der Wissensvermittlung und neigen dazu, sich nicht sehr tiefgründig über Hintergründe zu informieren. Das wäre für viele Leute so, als würde man einen Sportmuffel zu fünfmal wöchentlich Joggen motivieren wollen. Viele haben auch einen wirklich schlauchenden Job und wenig Zeit und Energie für umfassende Recherche. Deshalb darf jeder den Zugang finden, der bei ihm greift, auch z. B. durch ausgewählte Zeitungsschau, politisches Kabarett, Social Media oder einen Songtext. Gern alles, nur nicht Dummheit gepaart mit Halbwissen, das ist eine gefährliche Kombination!

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Ich wirke gerade an einer Ausstellung am Stadtmuseum Halle mit, die fragt, was Menschen in 50 Jahren an unserer heutigen Lebensweise interessieren könnte. Dies ist zwar speziell auf Menschen mit Behinderungen bezogen und deren Geschichten, die noch nicht erzählt wurden und die wir nun zusammentragen, um sie für nachfolgende Generationen festzuhalten. Mir ist aber klargeworden, dass diese fehlenden Geschichten übertragbar sind. Wir sind Zeugen unserer Zeit und mit allem was wir jetzt tun oder nicht tun, geben wir den Menschen nach uns eine Aufgabe mit. Ich arbeite auch viel mit älteren und sehr alten Menschen und sie sagen oft, dass sie nicht gern daran denken, ihre Enkel in einer Welt zurückzulassen, in der sie sie selbst nicht mehr begleiten können, mit all den „Hinterlassenschaften“, die sie denen aufbürden, die jetzt noch im Kinderwagen liegen. Mein Erbe ist das Wissen um die schrecklichen Erfahrungen, die meine Oma als Vertriebene und Kriegstraumatisierte machen musste und ihre bewegenden Erzählungen, die ich heute als Aufgabe in mir trage. Aber auch die Menschen, die vor mir schon zu den „Anderen“ gehörten, die Menschen, die heute anders sind und schade, dass ich noch nicht weiß, mit welchem Wissen die „anders“ Anderen in 50 Jahren auf uns und unsere Sorgen von heute blicken.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Keine Sprachlosigkeit, zu welchem Thema auch immer. Ich sehe allzu häufig, wozu Sprachlosigkeit, erlernte Hilflosigkeit und die erlernte Opferrolle über mehrere Generationen hinweg führen können. Wir brauchen das Gefühl, Konflikte aufmachen und überstehen zu können, wirksam zu sein und nicht den Umständen ausgeliefert. Das klingt abgedroschen und ist doch so schwer: Wir müssen miteinander in Kontakt kommen, die Klappe aufmachen, Ängste überwinden, Reibung auch mal aushalten, das können wir nur, wenn wir die Dinge bei Lichte betrachten und nicht im dunklen Keller verbergen. Die Lauten können das sicher besser als die Leisen. Aber die Lauten verstecken ja auch oft nur eine allzu menschliche Angst. Hier müssen wir gegenseitig ein bisschen besser aufeinander achten und jeder aber auch auf sich selbst, jeder muss für ein besseres Miteinander auch an sich arbeiten. Ich dachte immer Sozialkompetenz hätte ich ja nun genug, bis bei einem Test herauskam, dass Sozialkompetenz nicht Harmoniesucht ist. Also gehört auch diese Seite dazu, nicht nur den anderen ernst und wichtig zu nehmen, sondern sich auch mal unbequem zu machen. Wir können nicht gleichzeitig eine Haltung haben und allen gefallen wollen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Ich lese gerade die Werke von Viktor E. Frankl, einem Psychiater, der mehrere Konzentrationslager überlebte und den größten Teil seiner Familie im KZ verlor. Das Buch „Trotzdem ja zum Leben sagen“ bewegt zutiefst und man könnte glauben, es behandele wohl genau das Gegenteil von Menschenwürde, Freiheit und Gleichberechtigung. Dabei beschreibt der Autor immer wieder, dass es unsere Einstellung ist, die Leistung unseres Geistes, die uns selbst im größten Leid noch Lebenssinn finden lässt. Während ich dieses Buch lese/höre, erlebe ich meinen gesamten Alltag als große Freiheit und in noch größerer Dankbarkeit. Und das sage ich jetzt bewusst als Frau mit einigen „Lebenslaufmaschen“. Insgesamt ist Freiheit für jeden etwas anderes. Ich habe Kontakt zu Menschen mit erheblichen Handicaps und für sie wäre es Freiheit, einmal selbstständig aufs Klo gehen oder allein atmen oder aus einem Glas trinken zu können. Sie würden sich wünschen, mal selber raus vor die Tür zu gehen und zu sagen: „Hallo Leben, hier bin ich!“ Und ich kenne nichtbehinderte Menschen, die können das jeden Tag, die können jeden Tag raus vor die Tür gehen und sich sogar aussuchen, ob sie dann ins Auto steigen, mit dem Rad oder der Bahn oder dem Bus fahren oder zu Fuß gehen wollen. Zufrieden sind sie deshalb nicht und frei fühlen sie sich auch nicht. Da hat jeder von uns innere und äußere Faktoren, die sein Empfinden von Freiheit und Selbstbestimmung beeinflussen oder beeinträchtigen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Viele Menschen haben gesunde Körper und Hirne und machen kranke daraus. Sie wissen ihre inneren und äußeren Tastaturen nicht sinnvoll zu bedienen. Auch Bildung will gelernt sein. Für mich steht und fällt da viel mit Rollenmodellen, aber auch mit guten Lehrern, die einen Stoff eben schlecht oder recht vermitteln können. Jeder, der Bildung betreibt, sollte sich an seine Schulzeit erinnern und schauen, was bei ihm besonders hängenblieb und warum. Ich habe begonnen mich damit zu befassen, als ich selber Unterrichtsmaterialien erstellen musste. Anfangs war das einfach zu trocken. Dann habe ich überlegt, was mich mitgerissen hat und so beobachte ich mich auch noch heute. Was vermittelt sich mir aus welchen Gründen gut? Bildung sollte immer auch vielfältig und inklusiv präsentiert werden, um unterschiedliche Impulse zu setzen und verschiedene Geschmäcker und Lerntypen anzusprechen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürgerin aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Wählen gehen, sichtbar und hörbar sein, aufklären. Druck mit Gegendruck zu begegnen, ist es aber nicht allein und auch nicht des Rätsels Lösung. Der aufwändigere Weg ist leider, an die Ursachen zu gehen. Man muss sich Leute ein bisschen ansehen, wie die auffälligen Kinder in der Schule, irgendwo ist der Knacks, irgendwas ließ sie zum Störer, zum politisch falsch abgebogenen Klassenclown werden. Oft sind das wirklich Ängste, Schwächen, das Gefühl des Abgehängtseins, eher Sachen für den Therapeuten, das meine ich nicht despektierlich. Da ist eine ganz große Unzufriedenheit, Unsicherheit, ein Minderwertigkeitskomplex und das in Kombination mit einem Wahlzettel unterm Kugelschreiber ist milde gesagt ungünstig.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Naja, bei dieser Wählerschaft können wir bei den wenigsten von in sich ruhenden und zufriedenen Menschen sprechen. Die haben „Nöte“ und Sorgen und da dürfen wir uns fragen warum, sonst kriegen wir das Problem nicht bei der Wurzel gepackt. Der Schlüssel zum eigenen Glück, was auch immer das für jeden ist, liegt zu einem großen Teil in den Leuten selbst, doch sie sind von Missgunst und Neid zerfressen und fühlen sich bedroht. Sicher kann man sich fragen, warum das in diesen Regionen so ist und man kann sich das alles begründen, möchte man aber nicht immer. Es nervt einfach.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Mir wird da Angst und Bange um die Inklusion. Eigentlich ist das besonders absurd, da gerade AFD-WählerInnen mit hoher Wahrscheinlichkeit durch zunehmendem Alter, Krankheit oder Behinderungsrisiko, eben durch Alter von einem guten inklusiven Hilfesystem abhängig wären und von zahlreichen Leistungen profitieren könnten, die sie ja dann abgewählt hätten. Die Leute haben einfach nicht im Blick, welchen Rattenschwanz an Konsequenzen ihre Entscheidungen mit sich ziehen würden. Da brauchen wir nicht mal die AfD, ohne zu konkret zu werden genügte an anderer Stelle bereits der Einfluss der CDU, um wichtige soziale Programme und Förderungen zurückzufahren.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

In Gesprächen und Beiträgen aller Art, die jeden dort abholen, wo er steht, plastisch machen, welche Folgen Nichtwählen haben kann. Ich rede und schreibe z. B. darüber, was es für die Lebenswelt eines Menschen bedeuten würde, wenn konkrete AfD-Einflüsse (z. B. „mäßige“ Inklusion) wirklich eintreten würden. Wir müssen dem Einzelnen vermitteln, was es speziell für ihn und seine Liebsten bedeuten könnte, in einem Land mit solchen Werten zu leben. Niemand kann davon ausgehen, dass ihm immer die Sonne aus den Ohren scheint und in schlechten Zeiten hätte mancher seine soziale Absicherung dann selbst abgeschafft.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Ideen weitergeben und umsetzen helfen, Veranstaltungen pushen, Räume öffnen, die notwendige Administration und Förderung bereitstellen, vernetzen, mitmachen! Dabei nicht mit der Keule oder dem erhobenen Zeigefinger kommen, gar nicht mit trockenem Stoff, sondern Themen zum Anfassen, die mitten in der Gesellschaft stattfinden. Politik dort machen und diskutieren, wo man sie nicht vermutet und wo Leute gern hinkommen, weil sie dort Leben gestalten.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Kommunikation und Begegnung schaffen und ihnen das Gefühl geben, etwas erleben zu können, etwas Positives schaffen zu können, ein sinnerfülltes Leben zu haben. Die Sozialpädagogin in mir müsste sagen, in denen drin müsste man erstmal ganz schön viel Aufbauarbeit leisten, der Mensch in mir wehrt sich dagegen, die Seele eines Nazis zu ergründen. Letztlich geht es bei vielen Betroffenen um fehlende Anerkennung, Kränkung, Enttäuschung. Sicher ist es Aufgabe der Gesellschaft, für ein gutes Klima für alle zu sorgen. Aber sorry, zu seinen Glückslichtern muss auch jeder selber finden. Ich kann jetzt auch nicht, nur weil ich blind bin, anfangen Sehenden die Augen nicht zu gönnen. Ich muss „schauen“, wo und wie ich Erfüllung finde und möchte nicht in einer Dauerschleife des Selbstmitleids verharren. Jeder durchlebt Phasen, aber man muss auch nicht auf seinem Jammerfilm hängenbleiben. Wir haben Verantwortung für unsere Gedanken und sind auch zu großen Teilen unseres Glückes Schmied, und das Schmieden fängt im Kopf an.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Fremdes macht skeptisch. Ich spüre das deutlich durch meine Behinderung. Auch ich erlebe Ausgrenzung, Berührungsängste, Vorurteile. Das geht sogar so weit, dass mich Kliniken und Krankenhäuser abgelehnt haben, da man sich dort eine nichtsehende Patientin nicht vorstellen konnte. Barrieren in den Köpfen können wir nur durch möglichst viel Kontakt und Umgang miteinander aufweichen. Das ist so ein bisschen wie in der Konfrontationstherapie, pure Psychologie. Haben wir Platzangst, können wir durch schrittweises Heranführen an die Situation die Angst überwinden. Blinde beißen selten und MigrantInnen sehr häufig auch nicht. Fehlen die Begegnungen oder gibt es negative Erfahrungen, ist es wichtig, den eigenen Erfahrungsschatz und Reflektionsraum zu erweitern, um Katastrophengedanken kleiner werden zu lassen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja, leider. „Wir alle spielen Theater“, das ist wohl ein schöner Buchtitel, leider aber ein schlechtes Credo für die Politik. Auf mich persönlich wirkte es immer sehr positiv, wenn mich LokalpolitikerInnen oder politische AktivistInnen direkt ansprachen, sich Gedanken machten, wie sie z. B. ihre Visitenkarten auch in Braille gestalten könnten oder sich erkundigten, wie ich ihre Mails oder Wahlprogramme überhaupt lesen kann oder von A nach B komme. Andererseits finde ich es auch problematisch, wenn eine politische Idee zu stark an eine „Gallionsfigur“ gebunden ist und eine Vielzahl der Mitglieder einer Bewegung dann abspringt, weil man eher der Person, weniger der Idee folgte, wie wir es bei Sarah Wagenknecht und „Aufstehen!“ erlebten.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Wir müssen beides im Blick behalten. Leider lösen sich Missgunst, Berührungsängste, Verbitterung und Wut nicht in Wohlgefallen auf. Aber kluge junge Menschen müssen wir unbedingt unterstützen und in Relation bringen, dabei auch immer darauf achten, wer warum wie handelt und aus welchen Gründen wen vor welchen Karren spannen will.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Die hätte ich mir oft gewünscht! Als junge Punkerin hatte ich nicht selten „ZuschauerInnen“, die fasziniert beobachteten, wie ich dürres Ding von Nazis auf der Straße bespuckt, angezündet oder zusammengetreten wurde. Nicht mal, als ich an den Haaren über den gesamten Boulevard gezerrt wurde oder mit zerfetzten Klamotten am Boden lag, kam da einer und hat geholfen. Auf der anderen Seite, und das gehört auch zur Wahrheit, bin ich auch ziemlich naiv an Themen gegangen, über die ich heute realistischer aufklären würde. Mein Schulweg führte an einem Asylbewerberheim vorbei und die Männer von dort saßen jeden Tag wie die Hühner auf der Stange an unserer S-Bahn-Haltestelle. Ich wollte mit 14 natürlich allen beweisen, dass Nazis doof sind und Ausländer meine Freunde und kannte keine Zwischentöne. Da musste ich Lehrgeld zahlen. Mir ist heute klar, dass viele der jungen Männer damals ganz andere Motive hatten, als ich zarte Weltverbesserin, die den Erwachsenen zeigen wollte, dass Rassismus Scheiße ist. Meinen Eltern konnte ich lange nicht erzählen, was mir damals an der S-Bahn passierte und warum ich dann immer einen großen Umweg fuhr, um nicht mehr am Asylbewerberheim vorbei zu müssen. Es ist auch heute nicht einfach das anzusprechen, weil ich nicht den falschen Leuten Argumente für ihre kranke Politik liefern will. Mir hätte geholfen, wenn man uns Kids ein realistisches Bild vermittelt hätte und uns nicht mit stumpfen Parolen aus der einen oder anderen Richtung auf den Schulweg geschickt hätte. Zur Orientierung im sozialen Brennpunkt brauchts schon etwas mehr, als ein „selber schuld“, wenn du mit Ausländern sprichst“ von den Lehrern.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir den Menschen vor destruktiver Sozialisation schützen und ihn stärken und gegebenenfalls uns vor destruktiven Entwicklungen schützen und uns stärken, wenn Teilhabe, Vielfalt und Inklusion gefährdet sind.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Eine ziemlich überwältigende Konzertaktion der Band Kraftklub in ihrer Heimatstadt Chemnitz, mit Casper, Marteria, Feine Sahne, Campino und anderen engagierten Bands und KünstlerInnen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Wir schaffen das zusammen, denn sozialer Umgang heißt nicht, einander sozial zu umgehen!

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