INTERVIEW MIT ANNA KALERI

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin von Beruf Autorin, aber seit den fremdenfeindlichen Vorfällen von 2015/16 hab ich nicht mehr die innere Ruhe, die es für Literatur braucht. Zunächst habe ich die Initiative „Literatur statt Brandsätze“ ins Leben gerufen, dann mit anderen Kulturschaffenden den Verein „Lauter Leise e.V. Kunst und Demokratie in Sachsen“ gegründet. Wir machen ehrenamtlich rund 30 Veranstaltungen im Jahr an der Nahtstelle zwischen demokratischer und kultureller Bildung. Es geht um Empathie, Weltoffenheit und eine vielschichtige Wahrnehmung. Dazu kommt: Demos mitorganisieren, in Netzwerken arbeiten, PR für gute Sachen unterstützen, ganz viel reden, organisieren, verknüpfen.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Mich aktiv einzubringen, ist so eine Art Flucht nach vorn. Und es ist tröstlich, dass sich doch etliche Menschen engagieren. Es bräuchte von allem mehr, mehr Aktive, mehr Unterstützung, mehr Vernetzung, mehr Ruhe für Strategie.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Es kann jeder Mensch tun und lassen, was er will. Aber Demokratie funktioniert eben nicht, indem wir Bedürfnisse und unausgesprochene Wünsche auf die „da oben“ projizieren. Wir müssen schon selber wissen, was wir genau wollen, und uns dann an die gewählten Vertreter*innen wenden. Aber vieles können wir auch selbst bewirken, besonders auf lokaler Ebene.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Da nur wenig Zeit bleibt – auf die Straße gehen und demonstrieren. Hunderttausende kommen nur dann zusammen, wenn jede*r Einzelne es für wichtig hält, Gesicht zu zeigen. Wir müssen physisch mehr sein, um zu zeigen, dass rechte Einstellungen in Sachsen weder konsens- noch mehrheitsfähig sind.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Zwischen dem erschreckenden Ergebnis zur Bundestagswahl 2017 und den Wahlen im Mai 2019 hat sich in Sachsen nichts Wesentliches geändert. Vor allem hat von Regierungsseite gefehlt, konstant ganz klare Kante gegen Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu zeigen.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Es würde noch mehr Willkür, Selbstjustiz und Gewalt herrschen. Eine pluralistische Kultur würde sehr zu kämpfen haben. Vereine, die kulturelle und demokratische Bildung machen und es jetzt schon schwer haben, könnten ganz einpacken. Ausländer würden massenhaft abgeschoben. Es wären düstere Jahre für Menschen, denen Humanismus und Aufklärung ein hohes Gut sind. Ich mag mir das nicht näher ausmalen.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Mitmachen und spenden, zusammenhalten.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Jeder, der seine Stimme verschenkt, verschenkt seine Möglichkeit der Mitwirkung. Mich erschreckt mitunter die apolitische Haltung mancher Menschen, auch aus dem Kunst- und Kulturbereich. Sie würde eine blau-schwarze Politik schwer treffen. Vielleicht sollten wir in unserem Freundes- und Bekanntenkreis fürs Wählen werben und gerade in der Sommer- und Ferienzeit auf die Briefwahl hinweisen. Von Seiten der Parteien braucht es eine klare Unterscheidbarkeit der Parteiprofile. Wähler*innen müssen ohne Umschweife erkennen, wofür eine Partei im Kern steht.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Wir haben uns nach dem riesigen Einschnitt, den die Wende für viele ganz persönlich bedeutete, aufgerappelt. Es geht uns gut wie nie. Wir haben ein institutionelles soziales Netz. Die Arbeitslosigkeit ist stark zurückgegangen, überall werden Mitarbeiter*innen gesucht. Wir haben in Sachsen einen verschwindend kleinen Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte. Natürlich sind durch sie zu den bestehenden Herausforderungen noch einige hinzugekommen, aber niemandem wurde oder wird etwas weggenommen. Wir müssen die Probleme nach Art der Probleme gebündelt betrachten: Wenn Wohnungen für alle bezahlbar sind, gibt es weniger Neid und Druck. Wenn Schulklassen kleiner sind, kann jedes Kind individueller gefördert werden. Und so weiter. Wir leben aber auch in einer krass kapitalistischen Zeit, zwar in Watte gepackt, aber die Nebenwirkungen sind Stress und Druck und Mangel an Zusammenhalt. Sich umeinander kümmern und konstruktiver Gemeinschaftssinn sind wichtig.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Menschen haben oft Angst vor dem, was sie nicht kennen. Das sind wahrscheinlich Reflexe aus der Steinzeit. Menschen näher kennenzulernen, die eine andere Hautfarbe haben oder einer anderen Religion angehören, dazu braucht es Gelegenheit, zum Beispiel eine themenzentrierte Interaktion. Dann braucht es nicht lange und man sieht nicht mehr die schwarze Haut, sondern die Augen und durch sie den ganz individuellen Menschen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ich würde mich als Politikerin immer auch als Bürgerin fühlen. Und ich kenne Berufspolitiker*innen, die wirklich hinterher sind, wenn Anliegen an sie herangetragen werden. Die Leidenschaft, unser Land konstruktiv zu gestalten und mit den richtigen Mitteln und viel Austausch zu guten Lösungen zu kommen, sollte das sein, was Politiker*innen antreibt.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Jeder Mensch hat ein Recht auf seine Bedürfnisse. Es ist nur die Frage, wer für die Erfüllung zuständig ist. Ironisch zugespitzt: Wenn jemand über 50 mit Bierbauch nach Scheidung allein dasteht, dann ist daran weder Frau Merkel Schuld, noch kann sie helfen. Wenn aber jemand die Kosten für einen Abwasseranschluss nicht tragen kann, dann gibt es in unserem sozialen und demokratischen Rechtsstaat Möglichkeiten. Das ist nur eben nicht so einfach wie montags in Dresden rumzugrölen, sondern ein Weg, der viel Geduld und Kommunikation braucht. Jugendliche sind an manchen Punkten schon weiter, was Ansprüche einfordern, Diskussionskultur und Selbstorganisation angeht, aber da scheint es ein Stadt-Land-Gefälle zu geben.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Vielen Menschen sitzt noch die Erfahrung der totalitären DDR-Zeit im Nacken, die Angst, offen zu sagen, was man denkt. In den 30 Jahren seit der Wende ist das zwar etwas besser geworden, aber autoritäre Strukturen wurden in Sachsen weiter gelebt, Diskussionen abgewürgt, Konflikte unter den Teppich gekehrt oder Sachen schön geredet, die offensichtlich nicht gut funktionieren. Hilfreich waren meiner Meinung nach Impulse von Menschen, die von westwärts zu uns kamen und für die es selbstverständlicher war, zu sagen, was sie denken und wollen. Im Osten haben wir einmal unsern ganzen Mut zusammen genommen, in der Wendezeit, diesen Mut sollten wir in den Alltag nehmen und in die Institutionen und ganz klar sagen, wenn etwas überhaupt nicht geht. Zum Beispiel Lügen, Hetze, Verschwörungsideologien, Rassismus, Gewalt.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Die kleinste Zelle der Demokratie ist das Gespräch zwischen zwei Menschen. Keine Angst vor Konflikten, Dissens aushalten, keine Kompromisse suchen, sondern Lösungen. Das heißt, dem Miteinanderreden viel mehr Platz einräumen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Dass es an manchen Orten einfach nicht stimmt. An manchen Orten haben wir längst eine rechte Hegemonie. Ich ziehe den Hut vor Menschen, die sich dort mit einer weltoffenen Haltung zeigen und weitermachen und versuchen, zu retten, was zu retten ist und Umstimmungsprozesse zu initiieren. Das braucht einen unerschütterlichen Glauben an das Menschliche im Menschen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Mit diesem Interview werde ich zu diesem Bekenntnis gebracht. Ich habe jetzt mehrere Jahre quasi Tag und Nacht für dieses Sachsen, das ich liebe, gekämpft. Wenn aber die Freiheit der Kunst noch weiter eingeschränkt würde, wenn noch mehr Menschen mit Migrationsgeschichte nachts aus ihren Betten gezerrt und mit dem Flugzeug in ihr Verderben geschickt werden, wenn totalitäre Anwandlungen weiter zunehmen, dann ist das kein Sachsen mehr, in dem sich Menschen frei und glücklich entfalten.

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