INTERVIEW MIT CLAUDIA MAICHER, MDL

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aktiv und sitze seit 2014 für Leipzig im Landtag. Neben Klimaschutz und Erhalt der Artenvielfalt sind mir eine vielfältige, lebendige Kunst, Kultur und Medienlandschaft wichtig. Ich setze mich für gut finanzierte Hochschulen ein, an denen Studierende und Wissenschaftler*innen beste Forschungs- und Lehrbedingungen haben. Vor Ort, im Leipziger Westen, arbeite ich mit der engagierten Nachbarschaft an einem lebenswerten Umfeld mit Stadtgärten, Erhalt von Treffpunkten im Stadtteil und einer Stadtentwicklung, die alle im Blick hat.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Politische Ideen für das Miteinander in diesem Land zu entwickeln, ist eine schöne Aufgabe. Mir ist wichtig, dass die Anliegen der Menschen Sichtbarkeit und eine Stimme bekommen. Politisches Engagement beginnt nicht im Landtag, sondern im Gespräch mit der engagierten Zivilgesellschaft vor Ort. Deshalb sind Bündnisse mit denen, die sich für eine gute, lebenswerte Zukunft in Leipzig und Sachsen einsetzen so wichtig. Nur so können wir gemeinsam Demokratiefeinden, Klimaschutzgegnern und Freiheitsräubern etwas Starkes entgegensetzen.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Demokratie lebt von Mitbestimmung. Sie hört aber nicht beim Wahlgang auf. Nur wer seine Meinung einbringt, kann gehört werden. Und Politik gestaltet die Zukunft. Dass jetzt so viele Menschen vom Klimaschutz sprechen und aktives politisches Handeln einfordern, hängt damit zusammen, dass junge Menschen nicht nachlassen ihre politischen Forderungen deutlich zu machen: auf der Straße, im Internet, zusammen mit Wissenschaftler*innen im Hörsaal und vorm Landtag. So kann sich etwas verändern.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Politik, Demokratie und Grundwerte sind nichts Abstraktes mehr. Da hat sich in den letzten Jahren in Sachsen einiges geändert. Die Zeiten sind politischer geworden und die Auseinandersetzung über unsere Demokratie und den Erhalt von Grundwerten gibt es nicht mehr nur in Expertenrunden, sondern im Wohnzimmer und auf der Straße. Politik findet nicht mehr nur aller fünf Jahre am Wahltag statt. Das ist gut und wichtig, damit Grundwerte und Demokratie nicht nur an Jubiläen gefeiert, sondern täglich verteidigt werden können. Wir sollten uns alle bewusster werden, dass von Freiheitseinschränkungen weniger Solidarität und Abgrenzungen niemand gewinnt.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Austausch und Kennenlernen von Menschen, die unterschiedlich sind, die nicht zusammen ihren Feierabend verbringen und sich in ihrem Job auch nicht begegnen würden, wäre gut für das menschliche Miteinander in einer gemeinsamen Stadt. Zu sehen, wie andere Menschen leben, arbeiten und was ihnen für sich und ihre Kinder wichtig ist, bringt eine andere Perspektive. Das kann hilfreich sein, für eigene festgezurrte Wahrheiten und es schafft Offenheit für Andere.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Diese Werte sind für mich nicht verhandelbar, weil sie universal ohne Ansehen der einzelnen Person gelten. Zuerst und zuvorderst für die Menschenrechte des Anderen einzutreten, ist eine herausfordernde, aber lohnenswerte Aufgabe. Ohne die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Medien gibt es keine Demokratie, weil Demokratie eine unzensierte Öffentlichkeit braucht.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

All das bereichert unser Leben, weil Zugang zu Kultur und Bildung und Unterstützungsleistungen zu einer aufgeklärten und modernen Gesellschaft gehören. Es ist deshalb eine grundlegende politische Aufgabe, Strukturen im sozialen Bereich und die Vielfalt und Freiheit von Kultur zu fördern.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Erstens: Sagen Sie allen und überall, dass am 1. September die Landtagswahl in Sachsen stattfindet. Sie entscheidet darüber, ob es einen alles blockierenden Rechtsruck geben wird oder eine progressive Mehrheit, die tatsächliche Lösungen für den Braunkohleausstieg, Artenschutz, Agrawende, notwendigen bezahlbaren Wohnraum, digitale Infrastruktur, Kulturförderung, tatsächliche Integration u. a. bringt.
Zweitens: Gehen Sie bis dahin mit auf die Straße und stärken sie die Menschen und Parteien, die für ein offenes, freies, vielfältiges und freundliches Sachsen kämpfen, z. B. am 6. Juli Demo #UNTEILBAR – Solidarität statt Ausgrenzung, ab 14 Uhr Windmühlenstraße in Leipzig oder am 24. August in Dresden.
Drittens: Wählen Sie selbst die politischen Kräfte, die sich seit Jahren für Demokratieprojekte, für mehr politische Bildung und Medienkompetenz an den Schulen einsetzt oder die Erinnerungskultur und den Aufbau von Gedenkstätten finanziell viel stärker fördern wollen, wie z. B. BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren haben in Sachsen 27 % der Wähler*innen die AfD gewählt. Bei der Europawahl am 26. Mai waren es mit 25,3 % für die AfD etwas weniger, aber immer noch viel zu viele. Dagegen haben 74,7 % der Wähler*innen diese Partei nicht gewählt. Es liegt jetzt in der Hand der Demokrat*innen zu verhindern, dass die AfD mit ähnlichen Ergebnissen in den Landtag einzieht. Das ist möglich, wenn die Wahlbeteiligung steigt und niemand seine/ihre Stimme verschenkt. Die Streichung der Kulturförderung, die Abschaffung von Qualitätsjournalismus, eine ausgrenzende Sozialpolitik kann noch verhindert werden.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Projekte und Akteure brauchen mehr Sichtbarkeit, Finanzierung und Vernetzung. Die Strukturen zu stärken und Verlässlichkeit zu schaffen, das ist Aufgabe von Politik. Da müssen wir viel mehr Verantwortung übernehmen. Es darf nicht sein, dass zu oft alles auf ehrenamtlichen Engagement beruht. Den Demokratieinitiativen wird zudem immer noch oft Misstrauen entgegengebracht, anstatt sie bei ihrem Kampf gegen Rechtsextremismus zu unterstützen. Sich vor sie zu stellen und mit ihnen gegen Rassismus zu kämpfen, darf von niemanden diskreditiert werden.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Vielen, mit denen ich spreche, ist der Wert ihrer Stimme nicht bewusst. Sie sehen nicht das Angebot und die Unterschiede zwischen den Parteien. Das müssen wir als Politiker und Politikerinnen im Wahlkampf deutlicher machen. Es ist entscheidend, wie stark welche Partei im Landtag sitzt, damit sie die Interessen und Themen, die dem einzelnen wichtig sind, gut vertreten kann.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Darauf habe ich keine einfache Antwort. Wir sollten aber nicht den Fehler machen diese Menschen, die sich (berechtigt oder auch nicht) als Verlierer fühlen, erneut zum Opfer zu machen. Stattdessen ihnen zeigen, dass sich Mitmachen und Gestalten vor Ort mehr lohnt als sich wütend zurückzuziehen. Zu erleben, dass ich selbst für meine Nachbarschaft etwas erreichen kann, wenn ich aktiv werde, ist eine Erfahrung, die positive Kraft gibt und vielleicht auch Ängste abbauen kann.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Es gibt zu wenig wirkliches Kennenlernen und zu viel Nebeneinander. Wenn mehr persönliche Begegnung da wäre, würde sich das Gefühl des Fremdsein verringern. Dazu braucht es aber Offenheit und Neugierde.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ich verstehe, wenn Menschen das Gefühl haben, Politik sei weit weg von ihnen und löse Probleme zu langsam. Mir geht es selbst oft zu wenig voran. Es ist deshalb wichtig zu erklären, warum Entscheidungen manchmal nicht leicht getroffen werden können oder wie Mehrheiten zustande kommen. Die vermeintliche Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen wird immer dann kleiner, wenn ich in meinen Gesprächen erzähle, dass ich viele Probleme selbst kenne – vom Unterrichtsausfall meiner Kinder, mangelnde Internetanschlüsse bis zu fehlenden ÖPNV-Angeboten in Sachsen. Jede Politiker*in ist auch Bürger*in in Sachsen, das ist mir wichtig.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Mir ist bei meiner politischen Arbeit wichtig, immer auch die Interessen der Menschen im Blick zu haben, die nicht wählen können, z. B. weil sie nach uns leben werden. Alles, was wir heute entscheiden, in der Klimapolitik, bei globalen Krisen, aber auch der Frage von Bildungsinvestitionen oder Flächenversiegelung für Infrastruktur in Sachsen, hat Einfluss auf die Entwicklung in der Zukunft. Diese Verantwortung müssen wir ernst nehmen und dürfen nicht nur auf uns und unsere liebgewonnenen Lebensgewohnheiten schauen. Das alles ist aber nur gemeinsam umsetzbar und deshalb muss es mehr gesellschaftliche Debatten über unterschiedliche Möglichkeiten der Zielerreichung geben. Davor sollte sich niemand wütend verweigern.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ohne Engagement für das gesellschaftliche Miteinander außerhalb der Parlamente kann es keine widerstandsfähige Demokratie geben. Deshalb lebt eine freie parlamentarische Demokratie von kritischer Zivilcourage und der Organisation von Beteiligung und Meinungsbildung. Wir brauchen Bündnisse unterschiedlicher Akteure für die Stärkung der Gemeinwohlinteressen.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir uns alle noch stärker bewusst machen, dass von weniger Freiheit und Demokratie niemand mehr hat. Die errungenen Freiheiten der Medien, Kultur und Wissenschaft muss viel stärker überall auch im Alltag verteidigt werden.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!


Ich verbinde damit die Hoffnung, dass am 1. September zur Landtagswahl in Sachsen eine große Mehrheit den nationalistischen, rassistischen Parteien und denen, die am rechten Rand mitschwimmen, eine klare Absage erteilen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Für mich persönlich heißt das, niemals in Resignation zu verfallen. Wann, wenn nicht jetzt können wir gemeinsam mit so vielen auch hier in Sachsen für eine Zukunft arbeiten, die das Leben auch in Jahrzehnten noch für alle gut ermöglicht mit gesunder Natur, verträglichem Klima, reichhaltiger Kultur und Bildung und Menschen, die gern hier herkommen und hier bleiben wollen.

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