INTERVIEW MIT DR. MICHAEL SCHRAMM
wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.
Ich bin stellv. Leiter der Schaubühne Lindenfels und dort für alle administrativen Angelegenheiten und die Kulturvermittlung zuständig. Der Bereich Kulturelle Bildung/Kulturvermittlung, den es v. a. an freien Theaterhäusern in dem gewünschten Umfang leider noch nicht gibt, liegt mir besonders am Herzen und ist an der Schaubühne seit über zwei Jahren auf Wachstumskurs. Ich lebe seit fast 20 Jahren in Leipzig, mit Frau und Kindern im beschaulichen Marienbrunn gleich neben dem Völkerschlachtdenkmal.
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?
Es bleibt nichts anderes übrig, wenn man einen gewissen Anspruch an das gesellschaftliche Leben hat bzw. eine Idee oder einen Wunsch, wie dieses sein soll. Man kann natürlich sagen, das ist mir alles egal und ich will in Ruhe gelassen werden, aber dann braucht man sich nicht wundern, wenn andere über Dinge entscheiden, die mich und mein Leben betreffen und die mir vielleicht nicht gefallen.
wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?
Das ist eine rhetorische Frage. Sehr wichtig natürlich! Wobei ich die Aufzählung mit Bildung beginnen möchte und dann noch dreimal Bildung kommt. Alles andere ergibt sich von selbst, weil wir dann aufgeklärte Menschen haben, die sich kritisch und konstruktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen können.
wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg von Rechtspopulisten bei der Europa- und Kommunalwahl?
Irrationale Ängste und fehlende Bildung. Das ist überspitzt formuliert und ich bekomme da auch massiven Gegenwind, das ist mir klar. Es wird ja so unglaublich viel Geld im Bildungssektor ausgegeben und Sachsen ist PISA-Spitzenreiter usw., ich weiß … Aber „mangelnde Bildung“ meine ich ganz global; nicht nur dass man zur Schule gegangen ist oder regelmäßig Zeitung liest. Ich meine damit, dass man weiß, was gerade so abgeht und warum. „Breite Bevölkerungsschichten“ haben aufgehört, sich mit der Komplexität der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu befassen und kritisch zu hinterfragen, was gerade passiert. Es ist viel einfacher, wenn man gesagt bekommt, was gut oder schlecht ist; vom Algorithmus der sozialen Medien oder der Werbung. Aber sich kritisch – also die Voraussetzung hinterfragend – mit der Welt auseinanderzusetzen und sich klar zu machen, was passiert, wenn man z. B. die D-Mark wieder einführt oder das Schengen-Abkommen aussetzt, ist natürlich anstrengend und erfordert Hintergrundwissen, was vielleicht nicht jeder hat – dann muss man eben losgehen und es sich aneignen. Und das erfordert Ausdauer, weil man anfangen muss zu lesen und feststellt, dass Schengen oder der Euro ja ursprünglich recht gute Ideen waren, und die Montanunion vielleicht auch. Und schon ist man beim 2. WK und dann beim 1. und danach beim dt./frz. Krieg, und plötzlich merkt man, dass diese ganze EU ja dafür sorgt, dass es seit – wie lange eigentlich nochmal? – keinen Krieg mehr in Europa gab, aber das stimmt doch nicht, wegen des Balkans in den 90ern usw. Und nun fragt man sich, was passiert, wenn Schengen nicht mehr gilt, plötzlich wieder nationale Grenzen sichtbar werden und dann der französische Wein, das hippe belgische Bier oder die spanischen Erdbeeren – die kaufe ich eh nicht wegen der Ökobilanz! –, nicht zu reden vom Sprit, den Klamotten und den Smartphones usw. teurer werden und man in den Urlaub wieder drei Stunden länger braucht und diese ganzen Tausendlira-Scheine, da blickt doch kein Mensch durch … Und was machen die Briten da gerade eigentlich … Sind die noch ganz dicht? … Sorry, ich schreibe mich in Rage … kürzt das gerne. Es geht also darum, dass die Welt komplex ist und man sich klarmachen muss, dass es keine unkomplexen Antworten auf komplexe Fragen geben kann. Genau das suggerieren aber Rechtspopulisten (z. B. „Grenzen dicht = alles gut!“) und da einfache Antworten bequem sind und nicht viel Nachdenken erfordern, sind eben so viele Leute schnell dabei.
wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?
Hoffentlich keine, weil sich die anderen Parteien an ihre Ansagen halten und nicht mit der sogenannten AfD zusammenarbeiten werden. Alles andere will ich mir nicht vorstellen …
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?
Mit ihnen reden. Und zwar mit jedem einzelnen. Das ist utopisch, ich weiß, aber anders wird das nicht klappen. Die Menschen haben ja nicht Angst vor Überfremdung (Was ist das überhaupt?) oder fürchten um ihre Existenz (Das ist viel zu abstrakt.). Den Leuten geht es heute so gut wie nie und dennoch haben sie Verlustängste. Sie verstehen nicht, warum die Gemeindeverwaltung geschlossen wurde und die Buslinien eingespart werden und dann „plötzlich“ ganz viel Geld für Gflüchtete da ist. Oder warum junge Migranten mit Smartphones auf dem Marktplatz sitzen und den ganzen Tag nichts tun. Sie wissen nicht, dass die nicht arbeiten dürfen und das Smartphone alles ist, was sie haben; materiell wie ideell. Also muss man es ihnen erklären. Und da reicht es nicht, wenn das „die“ Politiker tun; jeder von uns ist hier gefragt.
wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?
Unwissenheit! Das ist vielleicht etwas plakativ … Aber ich behaupte, dass die meisten, die Angst vor dem Islam haben, weder den Koran gelesen noch jemals mit einem Imam gesprochen haben. Allerdings: Vor Fremdem Angst zu haben, ist ja nicht verwerflich, sondern ein sehr nützlicher Überlebensinstink. Aber dies dann nicht zu hinterfragen, sondern als Meinung zu kultuvieren und daraus dann ein Bedürfnis zu machen, ist schon problematisch. Aber eigentlich weiß ich keine Antwort …
wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politikerinnen und Bürgerinnen?
Die Kluft ist eine nur gefühlte und – falls sie da sein sollte – geht von beiden Seiten aus. Es stimmt schon, dass viele politische Entscheidungen nicht sofort für jeden nachvollziehbar sind, weil sich „die Politiker*innen“ nicht immer genügend Mühe geben, sie zu erklären. Andererseits ist es aber auch von den Bürger*innen zu erwarten, dass sie sich informieren. Also nicht „ES KANN DOCH NICHT SEIN, DASS …!!!!1!!1 DANKE MERKEL!“ in die sozialen Medien tippen, sondern hingehen zum/zur Abgeordneten und fragen, warum er/sie so abgestimmt hat und was man vielleicht selbst tun kann. Das geht auch jenseits von Parteipolitik. Wenn man was ändern will und gute Gründe dafür findet, dann wird man auch gehört. Das ist jedenfalls meine Erfahrung.
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?
Wutbürger*innen haben keine exklusiven Bedürfnisse, die haben nur Meinungen! Na klar müssen wir uns mehr um die Bedürfnisse der Jugend kümmern. Das fängt aber damit an, dass wir den Kleinen nicht das Rennen auf den Schulkorridoren verbieten und die Großen dazu „zwingen“ Instrumente zu lernen. Es braucht eine mutige Bildungsrevolution, nicht -reform, und kein ideologiegeladenes Kleinklein, wie das im Wahlkampf hin und wieder aufblitzt.
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
Noch eine rhetorische Frage. Was sind denn die Alternativen?
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
Noch viel mehr in Bildung investieren … nicht nur Geld!
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!
Im Grunde genommen sind die meisten Leute ja vernünftig. Jedem geht mal was gegen den Strich und dann ändert man das eben oder ist gelassen genug, sich damit abzufinden. Wenn wir jetzt davon ausgehen, dass die ca. 20%, die diese sogenannte AfD in Sachsen wählen, vielleicht gerade mal 10 – 15% der Gesamtbevölkerung ausmachen, dann könnte man gelassener sein, wenn alle anderen VERDAMMT NOCHMAL WÄHLEN GEHEN würden.
wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!
Das erinnert mich an das Bohei & Tamtam von 2018 und die Quartiersarbeit, die wir an der Schaubühne machen. Wir hatten im vergangenen Jahr das Straßen- und Stadtteilfest unter das Motto #WirBleibenHier gestellt und gemeinsam mit der IG-Metall, die damals gerade im Kampf um die Arbeitsplätze bei Siemens und Hallberg-Guss war, die große Sommerparade der Werktätigen veranstaltet. Da ging es um Gentrifizierungsfragen vor Ort in Plagwitz genauso wie um den Verbleib der letzten Industriearbeitsplätze im Leipziger Westen, der einst ein Zentrum der Industrialisierung gewesen war. Das hat damals viel Aufsehen erregt, dass sich die Kultur- und Kreativleute mit den Industriearbeiter*innen „verbündet“ haben. Für mich ganz persönlich bedeutet es, dass ich hier bleiben möchte, in Leipzig, in Sachsen, im Osten. Und dass „wir“ einiges dafür tun müssen und das Feld nicht den Lauten und Radikalen überlassen. Also erstmal wählen gehen!