INTERVIEW MIT ENRICO LÜBBE

wbh: Möchten Sie unseren Leser*innen kurz von Ihrer Arbeit und Ihrem Leben erzählen.

Ich kenne die Stadt Leipzig bereits seit 1993, als ich – nach Kindheit, Jugend und Abitur in Schwerin – hierher zum Studieren kam. Ich bin seit 2013 Intendant am Schauspiel Leipzig, zuvor war ich fünf Jahre Schauspieldirektor in Chemnitz. Nach nunmehr 26 Jahren in Sachsen, also weit mehr als der Hälfte meines Lebens, würde ich dieses Bundesland schon als mein Zuhause bezeichnen.

wbh: Wo sind Sie aktiv, wofür engagieren Sie sich und treten sie ein?

Als Leiter einer städtischen Kulturinstitution habe ich täglich mit vielen Menschen zu tun – auch sehr unterschiedlichen Menschen mit oft divergierenden Ansichten und Meinungen. Ich empfinde diese Vielfältigkeit als bereichernd und wichtig, auch wenn einige harte Kontroversen auszuhalten, herausfordernd sein kann. Aber das gehört für mich zu gelebter Demokratie dazu und dafür trete ich ein.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Ich würde mir nicht anmaßen zu behaupten, dass ich Politik aktiv mitgestalte. Aber ich bin mir bewusst, dass das Schauspiel Leipzig einen gesellschaftlichen Auftrag hat und wir daran auch gemessen werden. Und ich sehe durchaus, dass unsere Arbeit in der Stadtgesellschaft wahrgenommen wird und nach außen wirkt. Ich denke, dass beispielsweise 2015 unsere eindeutige Positionierung zum Thema Flüchtlinge, Migration und Menschenrechte wichtig war. Seither hängt das Goethe-Zitat „Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter“ an unserer Fassade. In der gegenwärtigen Situation haben wir bewusst das Spielzeitmotto „Miteinander/Ensemble“ gewählt.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, sie sind die letzten Monate und Jahre schon deutlich mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die Frage ist, wie man Themen wie Demokratie, Grundwerte deutlicher mit einem positiven Image besetzt.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Hui, die Frage ist kompliziert! Ich breche es mal runter und antworte mit Karl Valentin: „Früher war die Zukunft auch besser!“

wbh: Was wünschen Sie sich für ein besseres menschliches Miteinander?

Ich wünsche mir eine deutlich bessere Kommunikation – auf allen Ebenen und Kanälen. Direkter, ehrlicher. Mit weniger Hass. Mehr Respekt und Toleranz. Weniger Neid, Missgunst und Gebrüll.

wbh: Was bedeuten für Sie Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Sie gehören zu den Grundwerten meiner Weltanschauung.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sie können Grundlegendes dazu beitragen. Der Bereich Bildung kann mir für unser zukünftiges Zusammenleben nicht hoch genug wertgeschätzt werden: Vieles, was wir unseren Kindern an Werten, an Wissen, an Kompetenzen mitgeben, wird unsere zukünftige Gesellschaft prägen. Auch die Arbeit im Bereich Soziales, in den Jugendhäusern finde ich extrem wichtig und bewundere die Menschen, die sich dort tagtäglich engagieren.

Das sind für mich die gesellschaftlichen Grundmauern: Bildung, Jugend, Soziales. Darauf bauen wir Kunst- und Kulturschaffende unsere Arbeit auf, wenn wir gesellschaftlich relevante Fragen stellen, unterschiedliche Positionen auf die Bühne holen, auch provozieren. Konkret das Theater gewinnt meiner Meinung nach gerade wieder an Bedeutung, denn so eine Kommunikationssituation wie bei uns wird in unserer Gesellschaft leider immer seltener. Bei uns sitzen bis zu 700 Leute in einem Raum, erleben gemeinsam eine im besten Fall emotional und intellektuell anregende Zeit, können sich direkt austauschen. Das ist ein großes Privileg des Theaters in einer Zeit, in der die Vereinzelung und Egozentriertheit spürbar um sich gegriffen hat.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Wählen gehen!

wbh: Was sind Ihres Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Die Gründe sind sicher komplex und lassen sich nicht mit einfachen Antworten erklären. Hinter jeder Stimme steckt eine Wählerin oder ein Wähler mit individueller Motivation. Ich glaube aber auch, es wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel verschlafen, bewusst oder unbewusst „übersehen“, auch totgeschwiegen. Dass es in vielen ostdeutschen Bundesländern Probleme gab und gibt, ist lange bekannt. Dass es tiefe emotionale Verletzungen nach 1989/90 im Osten gab, die bis heute nachwirken, dass es radikale Gruppierungen gibt, die immer größeren Zulauf finden – das ist schon lange bekannt. Dennoch wurde über Jahre beispielsweise von früheren sächsischen Ministerpräsidenten behauptet, Sachsen hätte kein rechtes Problem. Anscheinend wollte sich niemand in seiner Amtszeit dieses heikle Thema auf die Agenda setzen. Die Übergriffe in Chemnitz im letzten Jahr sind nicht vom Himmel gefallen: In meiner Zeit in Chemnitz wurde beispielsweise das jüdische Restaurant „Shalom“ bereits mehrfach angegriffen, aber erst im letzten Jahr, als Chemnitz explizit zum Thema Rechtsextremismus in die Schlagzeilen kam, wurde das ein großes mediales Thema.

Spätestens seit dem Aufdecken des NSU kommt niemand mehr an den rechten Problemen in Sachsen und anderen ostdeutschen Bundesländern vorbei. Die Aufregung wurde 2015 mit Heidenau, PEGIDA etc. erneut groß, der Fokus auf Sachsen und viele ostdeutsche Bundesländer wurde so stark wie die Jahre davor kaum. Aufmerksamkeit scheint etwas zu sein, was viele Ostdeutsche seit Jahren vermissen. Und die Themen Extremismus, AfD und Ostdeutschland garantieren viel Aufregung und Unruhe in Deutschland und darüber hinaus. Die letzten Wahlen zeigten denn auch wieder, dass sich mit relativ wenig Aufwand ein „speziell ostdeutscher Reiz“ setzen lässt, der große überregionale Wahrnehmung garantiert. Vielleicht ist dies für einige wichtig(er), als sich tatsächlich mal mit Inhalten auseinanderzusetzen?

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Das muss man sehen und abwarten. Vor allem auch, welche Koalitionen sich im neuen Sächsischen Landtag finden und wer in die Regierungsverantwortung kommt, welche Ministerien wie besetzt sein werden etc. Wir haben vor der Sommerpause im Schauspielhaus öffentlich aus den Parteiprogrammen zur Sächsischen Landtagswahl gelesen. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre übrigens, die für Jede und Jeden zugänglich ist. Dort kann man am besten erfahren, welche Auswirkungen welche Regierung für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben können.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Hingehen, sich vernetzen, sich gegenseitig stützen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Ich versuche es immer damit, ihnen zu erklären, warum ich es schade finde, dass sie ihre Stimme nicht nutzen und wie wichtig dieses Grundrecht für eine funktionierende Demokratie ist. Aber letztlich ist es die eigene Entscheidung und auch das Recht einer Jeden und eines Jeden, nicht zu wählen. Auch wenn ich es persönlich nicht gutheiße.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Zunächst einmal, indem man ihnen zuhört und ihre Ängste, Sorgen ernst nimmt – egal ob man sie teilt oder nicht. In der Formulierung „gefühlte (Wende-)Verlierer“ steckt das Wort GEFÜHL. Und Gefühle sind nicht immer rational oder logisch oder „richtig“. Es ist eine große Herausforderung (so habe ich es zumindest oft in Gesprächen erfahren) gegen „Gefühle“ zu argumentieren und zu überzeugen. Dennoch sollte und muss man sich dem stellen.

Ich glaube, dass eine weitere Konfrontation und gesellschaftliche Spaltung vermieden werden muss. Es gibt für unser Land klare Grenzen, die im Grundgesetz deutlich benannt sind. Die gehören eingehalten. Punkt. Aus. Aber jede Bewegung innerhalb dieses Rahmens sollten wir aushalten können, egal ob es uns gefällt oder nicht.

wbh: Warum haben Ihres Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Ich weiß gar nicht, ob sie tatsächlich alle Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“ haben oder Migrant*innen oder Muslimen. Vielleicht sind es eher diffuse, irrationale Sorgen, die mit jeder einzelnen persönlichen Biographie zu tun haben – Biographien, die teilweise von massiven Veränderungen geprägt sind, von Verlustängsten. Und da ist der sogenannte „böse schwarze Mann“, den man gerade hier in Ostdeutschland ja fast gar nicht sieht, nur ein Sinnbild und Ausdruck für viele diffuse, irrationale und extrem unterschiedliche Ängste und für eine Form der Überforderung.

wbh: Meinen Sie, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Mag sein, dass sich viele Menschen nicht abgeholt „fühlen“. Aber so funktioniert eine demokratische Gesellschaft eben auch nicht, dass sich Jede oder Jeder mit ihrer oder seiner Meinung immer auf Platz 1 der Tagesordnung vertreten findet und „einzeln abgeholt“, immer sichtbar und immer gehört wird. Das gehört eben auch zur Demokratie dazu, dass es Mehrheitsentscheidungen gibt (die zumeist Kompromiss-Entscheidungen sind) und mit denen ich mich arrangieren muss. Wer politisch etwas ändern möchte, gestalten möchte, darf sich doch gerne politisch engagieren. Ich persönlich habe sehr viele Menschen in der Politik kennengelernt, die zu einem Großteil ehrenamtlich viel für ihre Stadt, ihr Land, unseren Staat leisten. Ich habe großen Respekt vor deren Arbeit und finde es beschämend, wenn sie zum Teil persönlich aufs Schlimmste angegriffen und diffamiert werden.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie sehen Sie das?

Ich würde diese Gruppen nicht gegeneinander ausspielen.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ich halte sie für sehr wichtig.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir immer wieder positiv hervorheben, welch hohes Gut unsere Demokratie ist und wie dankbar wir unseren Vorfahren sein müssen, dass sie dies für uns erkämpft haben. Aber wir müssen eben auch ehrlicherweise immer betonen, dass Demokratie harte Arbeit bedeutet – für ALLE Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.

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