INTERVIEW MIT MARKUS RENNHACK

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Auf die Gefahr hin schon bei der ersten Antwort langweilig zu werden: Mit Blick auf den Anlass dieses Interviews möchte ich ein bisschen weiter ausholen als das bloße „Ich bin Musiker, Musikunternehmer und Politologe“.
Ich hatte das große Glück, meine Berufung schon als Teenager gefunden zu haben und bis heute immer sehr nah dran gewesen zu sein, sie auch offiziell „Beruf“ nennen zu dürfen. Ich mache seit meinem vierzehnten Lebensjahr Musik, immer unabhängig, immer kompromisslos, entsprechend auch immer wahnsinnig prekär. Ich habe Jahre erlebt, in denen ich die täglichen Brotscheiben abzählen musste. Trotzdem habe ich nie an diesem Weg gezweifelt, denn ohne Musik würde ich vermutlich eingehen.
Also hieß es lange Zeit auch kämpfen. Kämpfen gegen normative Lebensentwürfe, kämpfen gegen kafkaeske Bürokratie. Nach der Schule bin ich aus dem Westerzgebirge nach Leipzig gezogen. Hier habe ich in musikalischer Hinsicht das Tor zur Welt gefunden und nebenbei so lang wie möglich per Studium zumindest frei vom Gängelsystem des deutschen Sozialstaats gelebt. Ich war ganze 16 Semester eingeschrieben, was im tabellarischen Lebenslauf nach Faulheit aussieht. Tatsächlich habe ich mein Politikwissenschaftsstudium aber durchaus ernsthaft in der Rekordzeit von 5 Semestern geschafft, aufgeteilt in drei Intensivphasen und unterbrochen von zweieinhalb Albenproduktionen und zahllosen Konzerten.
Danach war ich ein sperriger Sonderfall im System Hartz4 – ausgebildet, diesen Quatsch zu durchschauen und die Sachbearbeiter mit rechtswissenschaftlichen Kniffen und Max-Weber-Zitaten an die Grenzen ihrer Dienstanweisungen zu bringen, aber auch generell gar nicht sinnvoll erfassbar. Das kann jeder freiberufliche Künstler bestätigen: Alle Erfolge zählen nicht, wenn der Businessplan nicht aufgeht. Und das geht er in der Kulturwirtschaft praktisch nie. Du kannst am Morgen noch vom Bürgermeister für den Pressetermin als Kulturschaffender die Hand geschüttelt bekommen, am Nachmittag bist du wieder der asoziale Schmarotzer, der wegen der Weigerung, für einen unflexiblen 40h-Schichtjob sein dekadentes „Hobby“ aufzugeben, mit Sanktionen bekehrt werden muss. Ein Glück, dass ich Brotscheibenzählen schon vom Studium her gewohnt war.
Noch größeres Glück aber, dass ich irgendwann 2014 meinen langjährigen Verleger Rajk in Berlin getroffen habe und wir spontan beschlossen haben, dass ich bei ihm als Mitarbeiter einsteige und wir Kick The Flame vom Ein-Mann-Unternehmen zum mittlerweile wohl größten Musikverlag der Region haben wachsen lassen. Es macht mich glücklich, mit dieser Arbeit so vielen anderen Autoren und Musikern eine Infrastruktur bieten zu können, die den Rücken freihält und Dinge ermöglicht, statt zu verkomplizieren und zu bremsen.
Rückblickend glaube ich heute mehr denn je, dass Empowerment die richtige Einstellung ist, Menschen zu begegnen. Überall, ob Ämter, Schulen oder Stammtische. Ganz besonders, wenn es Begegnungen sind, die nicht auf Augenhöhe stattfinden. Da kann eine Behörde noch so offiziell von Kunde und Agentur sprechen, von „gemeinsamen Bemühungen“ etc. – wenn die zugrundeliegende Haltung von Geringschätzung und Misstrauen geprägt ist, wird immer am Ende nur Demütigung und Verdrossenheit rauskommen. Ich habe auf dem Weg zum Jobcenter seinerzeit immer „Schlachtrufe BRD“ gehört, linksextreme staatsfeindliche Musik. Und ich war tatsächlich auch in Bombenlegerstimmung.
Ich habe kein Verständnis für Politikverdrossenheit, der das Solidarische fehlt. Die sich an den Mitmenschen abarbeitet, statt an den Verhältnissen. Aber ich kann den Weg dahin durchaus nachvollziehen. Es ist der leichte Weg, auf dem man nicht kämpfen muss, auf dem man sich einfach treiben lassen kann, bis einen jemand auffängt und mitzieht. Und die Resonanz ist dann halt am stärksten, wenn dieser jemand genau diesen Zorn, diese Verletzungen und diese Ohnmacht bespielt und instrumentalisiert.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Mich treiben drei Themen um, die mir sehr am Herzen liegen. Ich habe im Studium das Konzept des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) kennengelernt und mir interdisziplinär alles dazu reingezogen, was greifbar war. Das reichte von meinem Stammfach Politikwissenschaften über Soziologie bis hin zu Philosophieseminaren über Gerechtigkeitskonzepte usw. Dass ich meine Jura-Wahlpflichtprüfung im Bereich Arbeitsrecht abgelegt habe, war auch davon motiviert. Wir Politologen wissen schon lange, dass die moderne Vollbeschäftigungsgesellschaft passé ist und die postmoderne Herausforderung darin besteht, zu einer Gesellschaft zu finden, in der Erwerbsarbeit nicht mehr das zentrale Element ist. Ein BGE – in welcher Form auch immer – ist hier eine elegante Lösung. Ich habe mich dafür vor allem in den frühen Nullerjahren sehr intensiv in den Diskurs geworfen.
Mein zweites Herzensthema ist das Urheberrecht. Wie fast jeder Musiker habe ich auch sehr naiv angefangen und erstmal nur gemacht, ohne an Geld und Musikbürokratie zu denken. Und wie jeder Musiker habe ich quasi von Tag eins an gehört, wie doof die GEMA sei und wie Kacke Kommerz usw. Ich habe ungefähr fünf Jahre lang bitter notwendiges Einkommen verschenkt, weil ich die Geschichten nicht hinterfragt habe. Seit 2003 bin ich in der GEMA, die ich nicht nur als mein Inkassounternehmen, sondern viel mehr als meine Gewerkschaft verstehe. Und spätestens seit meiner ersten Tantiemenausschüttung ist meine Mission, den Lügen und Halbwahrheiten in meiner Szene Aufklärung entgegenzusetzen, damit andere nicht genauso lang wie ich das wichtige Standbein auslassen.
Das hat sich schnell erweitert zur generellen Urheberrechtsdebatte, in der uns Autoren ja auch immer von diversen Stakeholdern und halbinformierten Leuten erzählt wird, dass Sharing gleich Caring sei und die Musikindustrie en bloc eine Contentmafia. Richtig schlimm wurde es, als die Piraten um 2012 ihren Hype hatten und wegen ihres offenen Konzeptes einige BGE-Aktivisten wie Susanne Wiest und Johannes Ponader dort hineindrängten. Da war die Anti-Urheberrechtspartei plötzlich auch die BGE-Partei und hat diesen Spagat mit der These vom BGE als Ersatz für Vergütungsansprüche versucht. Das hat mich damals sowohl als BGE-Aktivist als auch als Urheber die Haare raufen lassen.
Seit 2012 habe ich dann also die Debatte nicht mehr nur in der Szene geführt, wo wir ja wenigstens alle den gemeinsamen Hintergrund des Musikmachens hatten. Ich bin rausgegangen und habe mich in jede Debatte eingeklinkt und sowohl die Idee des BGE gegen den Piratenmurks verteidigt, als auch für ein starkes Urheberrecht argumentiert. Da das BGE leider noch nicht so viel Reichweite hat, ging es irgendwann nur noch um das Urheberrecht. Und weil ich sowohl einen praktischen als auch einen fachlichen Hintergrund mitbringe, war ich bald deutschlandweit als Sachverständiger unterwegs und bin das im Prinzip auch heute noch.
Mein drittes Herzensthema ist Umweltschutz. Da man aber nur begrenzt Energie aufbringen kann, ist das ein sehr stilles. Hier nerve ich wohl eher passiv aggressiv mein direktes Umfeld, mit meiner fleischlosen Ernährung und allgemein sehr konsumasketischem Lebensstil. Offen gesagt bin ich hier auch viel zu inkonsequent, um öffentlich den Zeigefinger zu erheben.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Großartig, wenn man was erreicht, frustrierend, wenn nicht. Also meistens frustrierend, mit ein paar tollen Momenten. Mir hilft, dass ich eigentlich auch sehr gern diskutiere, womit ich nicht streiten meine. Ich lerne gern und ich mag Herausforderungen. Meine Mitgestaltung ist ja fast immer informell und mittelbar. Nur in der GEMA kann ich mir als Delegierter der „kleinen“ Komponisten manchmal selbst auf die Schulter klopfen, wenn ich an einem Antrag zum Verteilungsplan mitgewirkt habe. Aber das ist auch alles sehr kleinteilig.
Ich habe Hochachtung vor Kommunalpolitikern, vor Verbandsleuten und all den anderen Menschen, die im Maschinenraum der Gesellschaft fern vom Rampenlicht dafür sorgen, dass alles irgendwie läuft. Während meiner Arbeit im Verlag und als Delegierter bekomme ich ein bisschen das Gefühl dafür und bin umso glücklicher, wenn ich wieder nach Draußen darf, auf ein Podium oder am allerliebsten natürlich mit der Gitarre und meinen Bandkollegen auf die Bühne.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich bin mir offen gesagt gar nicht sicher, ob diese Frage so allgemein gestellt werden kann. Ich möchte bspw. nicht, dass Rassisten und Faschisten aktiv Politik mitgestalten. Ich bin auch regelmäßig unglücklich über Kampagnen für hohe Wahlbeteiligung, da ich als Politologe natürlich weiß, dass Nichtwähler- und Protestwählermilieus weitgehend deckungsgleich sind.
Ich halte es für wichtig, sich erstmal grundsätzlich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob man selbst eher von weltanschaulichen Konzepten oder von konkreten gesellschaftlichen Problemen getrieben ist, bevor man politisch aktiv wird. Letzteres ist super, weil man quasi sofort lösungsorientiert ins Thema einsteigen kann. Aber in beiden Fällen kommt man nicht umhin, sich die Anschlussfrage zu stellen, ob man sich gerade wirklich für alle Betroffenen engagiert oder ob man ein Partikularinteresse bedient und wie schwer dieses in Abwägung mit anderen Interessen wiegt. Die Antwort auf das „wie“ der Mitgestaltung heißt meines Erachtens „verantwortungsbewusst“.
Es kann nicht schaden, sich mit John Rawls Konzept des Schleiers der Unwissenheit (über die eigene Betroffenheit von Entscheidungen) zu beschäftigen, den man sich überwerfen möge, bevor man die Gesellschaft gestaltet. Überhaupt halte ich die Lektüre von Moralphilosophie für unterschätzt, wenn es um aktive Politik geht.
Klar, ich möchte natürlich auch, dass jeder mit einer solidarischen Haltung aktiv Flagge zeigt und das Maul aufmacht, wenn Nazithesen laut werden. Aber ich fürchte einerseits, dass wir hier schon in manchen Regionen froh sein dürfen, wenn man danach nicht gleich aufs selbige Maul kriegt, es also einfach leicht dahingesagt ist, wenn man in Leipzig wohnt. Das bloße „Macht mal, wenns brennt“ reicht nicht, wir brauchen wirklich tiefere, kompetentere und interessantere Debattenkultur, die auch das Gegenüber fordert und nicht nur Reflexe abfragt.
Und andererseits wünsche ich mir auch grundsätzlich im Kleinklein, dass nicht Mehrheitsentscheidungen unser Leben prägen, bei denen sich niemand erkennbar in die Lage der nachteilig Betroffenen eingefühlt hat. Denn unser aktuelles Problem mit „besorgten Bürgern“ geht ja nicht zuletzt darauf zurück, dass sich so viele abgehängt fühlen wegen genau dieser Erfahrung.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Ich finde diese Frage wunderbar. Unser Erbe ist eine intakte, aber stark angeknackste Gesellschaft. Eigentlich läuft hier alles vergleichsweise reibungslos, aber trotzdem lauert gefühlt ständig der Abgrund. Wir schauen alle ängstlich in die Zukunft, nur die Ängste unterscheiden sich. Also erlauben wir uns nie wirklich eine Zukunft, sondern reihen nur Gegenwart an Gegenwart und früher war natürlich immer alles einen Ticken besser als heute und die anderen sind alle doof, weil sie die falsche Angst mit sich herumtragen.
Natürlich lässt sich Wandel nicht aufhalten. Wir ignorieren das aber, statt im Positiven zu umarmen und im Problemfall effektive Lösungen zu wagen. Und wenn die Kinder in den Brunnen gefallen sind, dann beschäftigen wir uns lieber mit Schuldfragen, statt die Ärmel hochzukrempeln. Wir machen es denen, die schon an den Lösungen arbeiteten, als wir noch ignorierten, dann noch schwerer. Denn Schuldfragen werfen ja das Problem auf, dass man die vorherige Ignoranz noch viel stärker legitimieren muss. Da stören Leute, die es schon immer besser gewusst haben.
Ich bin überzeugt, dass unser kulturelles und gesellschaftliches Erbe erst richtig aufgearbeitet werden muss, bevor wir eine Zukunft haben. Wir müssen eine kritische und gleichzeitig positive Haltung zu unserer Identität finden. Ich sage das im Bewusstsein, dass mir viele Linke hierin widersprechen werden. Ganz besonders, wenn ich noch eins drauflege und sage, dass wir in Ostdeutschland ganz besonders auch unsere DDR-Vergangenheit ganz dringend aufarbeiten müssen, noch dringender als die Nazizeit, bei der wir uns zumindest über sämtliche Lager hinweg, einschließlich der Rechten, einig sind, dass sie ein Schandfleck in unserer kulturellen Vita ist.
Das Problem mit der DDR ist nämlich, dass vor 40 Jahren eine legitime subversive Protestkultur blühte, die sich intensiv an einem totalitären Regime abarbeitete, das heute im Rückblick überwiegend ostalgisch verklärt als ein bisschen Stasi, ein bisschen Mauer und der schrullige Honecker ganz harmlos aussieht, damals aber eben die Menschen zwang, entweder mit der Faust in der Tasche zähneknirschend mitzulaufen oder aber für den harmlosesten Quatsch als Staatsfeind verfolgt zu werden. Das will und kann sich keiner mehr vorstellen, gerade, wer es wie meine Generation nur noch als Kind oder die nachfolgenden nur noch als Anekdote erlebt hat.
Erinnerungen an Regime verblassen, Kultur hingegen ist zählebiger. Und unsere spezifisch ostdeutsche Kultur hat einen reichen Schatz an konkreter Systemkritik hinterlassen, die ohne den zeitgeschichtlichen Kontext plötzlich offen für feindliche Übernahme ist. Wenn heute die AfD mit Slogans wie „die Wende vollenden“ und Nazis mit „Wir sind das Volk“ aufschlagen, dann docken die genau daran an. Wir müssen uns diese Kultur wieder zurückholen, indem wir uns den Kontext wieder ins gesellschaftliche Gedächtnis rufen und eben klarstellen, dass ein Schimpfen aufs System eben nicht einer Demokratie galt, sondern genau solch einem totalitären Staat, den sich AFD und Nazis wünschen. Wir müssen klarstellen, dass die Freiheitskämpfer zumeist selbst dezidiert sozialistisch und mindestens solidarisch eingestellt waren und sich nicht mit einer ausgrenzenden, menschenverachtenden Bewegung gemeinmachen würden. Unsere inoffizielle Ossi-Kultur war damals ja tatsächlich im Subversiven der Zukunft und dem Menschen und nicht zuletzt auch der Umwelt zugewandt.
Aber natürlich geht es nicht nur um Ostalgie versus Erinnerung. Landser covern Ton Steine Scherben, PEGIDA singt „die Gedanken sind frei“, Neonazis schmücken ihre Facebookseiten mit Zitaten von Fichte und Fontane und – ausgerechnet! – Heine. Fehlt nur noch Brecht … Das darf man denen wirklich nicht überlassen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Gelassenheit und mehr Achtsamkeit.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Sehr große Ziele, die laufend und insbesondere im Kleinklein neu errungen werden müssen. Ich finde es spannend, dass jeder dieser drei Begriffe, insbesondere aber die Freiheit, Grenzen haben, die sich nicht eindeutig ziehen lassen. Am ehesten vielleicht noch bei der Menschenwürde, die muss man ja „einfach“ nur unangetastet lassen. Aber gerade die Urheberrechtsdebatte hat mich gelehrt, dass auch die Frage, wann das Urheberpersönlichkeitsrecht weniger wiegt als die Kunst-, Meinungs- oder ganz schnöde die Konsumfreiheit, auch sehr schnell die Würde der Betroffenen berührt.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Extrem wichtig und leider auch mit destruktivem Potential behaftet. Wir brauchen nicht nur all das, sondern wir brauchen von all dem das Richtige. Ich finde es gut, dass ihr psychologische Betreuung hier mit aufzählt. Das hat ja ein unsinniges Stigma. Für mich geht das aber bereits damit los, dass wir Hilfestellungen im Umgang mit Situationen bekommen, in der Art, dass wir nicht irgendein Schema abarbeiten, sondern dass wir uns darüber klar werden, was mit uns und unserem Gegenüber passiert.
Ganz wichtig finde ich das, wenn Kinder ins Spiel kommen. Ich habe zwei Knirpse und psychologisches Know-How hilft mir, zu verstehen, was mit denen und was mit mir und was mit meiner Freundin los ist, während wir uns gemeinsam durch dieses Abenteuer wurschteln, eine Familie mit irgendwann vier mündigen Menschen zu sein. Ich suche das und nehme das gerne an. Und ich glaube auch, dass das in vielen Beziehungen hilft.
Man muss ja immer aufpassen, dass man nicht pathologisiert. Ich glaube nicht, dass bspw. fanatische Arschlöcher alle massiv psychisch gestört sind. Ich glaube vielmehr, dass wir alle einen leichten Knacks weghaben, ganz einfach, weil wir noch in einer Kultur leben, die uns nicht achtsam und bedürfnisorientiert und empowernd sozialisiert, sondern eher Ängste und Minderwertigkeitskomplexe kultiviert. Das schütteln wir nicht so schnell ab, das wird noch ein paar Generationen brauchen…
Umso wichtiger, dass niemand alleingelassen wird und es breite soziokulturelle und auch psychologische Angebote gibt. Was ich so von den Schulen höre, stimmt mich das im Moment aber eher pessimistisch. Da scheint noch nicht viel Fortschritt im Vergleich zu meiner Schulzeit Einzug gehalten zu haben. Ohne jetzt meine Lehrer dissen zu wollen. Mir geht es eher um die systematische Ausrichtung, die didaktischen Konzepte, Notenzwang, Leistungsdruck, Eintrichterung von Faktenwissen, also Lernen für die Prüfung, nicht fürs Leben. Ich hatte einige Lehrer, die haben uns trotzdem für ihr Fach begeistern können und uns intuitiv auf Entdeckungsreise geschickt. Aber das darf nicht lehrerabhängig, sondern muss systematisch sein.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Ich werde jetzt nicht sagen, dass jeder wählen gehen soll, auch wenn das zweifelsohne das Effektivste wäre. Dafür ist mir das Recht auf Stimmenthaltung aber einfach zu wichtig, gerade wenn man sich gezwungen sieht, immer und immer wieder ein kleineres Übel zu wählen. Das ist ein bisschen wie Geiselhaft. Ich wünsche mir natürlich, dass jeder eine demokratische Partei wählt. Ich wünsche mir aber noch mehr, dass jeder ganz aktiv mindestens der demokratischen Partei seiner Wahl ganz massiv auf den Keks geht mit programmatischen Vorschlägen und Kritik, auf dass wir endlich mal zu dieser partizipativen Politik finden, die wir auf dem Papier schon haben. Denn die müssen nicht nur die Parteien liefern, wir Bürger müssen sie auch aktiv einfordern.
Genauso wichtig finde ich, dass wir das elende Mimimi der „besorgten Bürger“ kompetent zur Rede stellen. Das ist meistens gar nicht so anstrengend, wenn man sich erst einmal dazu überwunden hat, den „Frieden“ zu stören. Tatsächlich ist meine Erfahrung, dass in gemischten Gruppen die Rechten oft einfach nur deswegen die Deutungshoheit haben, weil alle anderen peinlich berührt sind und hoffen, dass bald das Thema wechselt. Entsprechend hilft es dann nicht, einfach anders peinlich einzusteigen. Aber es lohnt sich eigentlich immer, ganz sachlich aber mit Haltung zu widersprechen oder wenigstens Zweifel zu Äußern. Dann kommen die anderen auch sehr schnell aus der Deckung. Endlich hat mal jemand was gesagt …
Der Witz ist ja, dass die Rechten eigentlich kein wirklich relevantes Thema haben. Migration und Islamismus? Viel zu weit weg, wenn man auf dem Land wohnt und wenn man in der Metropole wohnt, kennt man normalerweise genug Muslime um zu wissen, dass die nicht alle mordlüsterne Fanatiker sein können. Deutsche Leitkultur und identitäres Gedöns? Viel zu abstrakt! Klimaskepsis? Viel zu uncool. Mit den Kernthemen holen die jenseits ihrer Blase niemanden ab.
Die Gefahr liegt in der Instrumentalisierung von alltäglichem Unmut. In der Facebookgruppe meines erzgebirgischen Heimatstädtchens lässt sich das schon seit Monaten beobachten, wie die AfD-Anhänger jeden kleinen Schwachsinn versuchen zur Systemfrage hochzujazzen. Wenn da niemand gegenhält, dann kann das verfangen. Aber es ist so verdammt einfach zu entzaubern, wenn man einfach mal das Heißlaufen der Politikverdrossenheit mit ein paar freundlichen kompetenten Einwürfen abwürgt. Gerade, wenn sich jeder kennt und Trollereien eher schlecht rüberkommen, besteht die Chance, mit Argumenten wirklich was zu bewegen. Und sei es, die Protestwähler wieder zurück ins Lager der Nichtwähler, wenn denn die demokratischen Parteien keine brauchbaren Angebote liefern.

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Vor allem kurzfristig für die Soziokultur und mittelfristig auch für die Kultur im allgemeinen katastrophale Folgen. Wir rechnen mit Streichung von Fördermitteln und mit dem Versuch der Behinderung von allem, was sich auch nur ansatzweise gegen rechts positioniert. Mit vielem werden sie nicht durchkommen, gerade die Idee von der inhaltlichen Verpflichtung zu einer bestimmten Art von Kultur scheitert ja an der gesetzesvorbehaltlosen Kunstfreiheit – da sind die Erfahrungen mit totalitärem Zugriff einfach zu massiv gewesen. Aber der Umweg über die Fördertöpfe ist natürlich da. Und dass eine rechte Kulturpolitik hier nur mit Kahlschlag zum Ziel kommen kann, also mit der Trockenlegung ganzer Kulturbereiche, wenn dort viele gegen rechts aktive Projekte verortet sind, macht die Sache nur noch schlimmer.
Was unsere Gesellschaft insgesamt angeht: Ich denke, da wird sich nicht viel ändern. Wir haben den Rechtsruck nur in den Wahlergebnissen, in der Gesellschaft kam das schleichend, aber mit Ansage. Es ist ja auch nicht gerade so, dass wir eine sehr progressive CDU haben. Und wer heute AfD wählt, hat in vielen Fällen wohl bislang auch nur auf eine wählbare Alternative gewartet. Nicht unbedingt zu den demokratischen Parteien, wohl eher zur NPD. Kaum verhohlene Neonazis zu wählen, ist halt doch eine krassere Nummer, als die „wertkonservativen“ Pseudodemokraten. Die werden nicht gleich das Dritte Reich ausrufen, es aber vielleicht „der Schnösel-Elite mal so richtig zeigen“. Wenn man das Gefühl hat, dass man nicht zur Zielgruppe der kulturellen Angebote gehört, dann läuft es sich auch leicht Amok bei der Stimmabgabe.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Durch Mitmachen oder wenigstens offenem Beifall. Man muss eigentlich auch jedem Danke sagen, der im Alltag von frustrierten Leuten runtergemacht wird. Vom Busfahrer bis zum Polizisten. Solidarität einüben! Denn wie eingangs gesagt: Politikverdrossenheit ist die Wurzel, aber das eigentliche Übel ist die unsolidarische Haltung. Sonst könnte ja auch Aktivismus wachsen, die Welt für alle besser zu machen und nicht für alle anderen noch schlechter.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Die SPD wagt ja gerade in Sachsen ein spannendes Programm der Öffnung für Mitsprache. Und Kretschmer tourt durchs Land mit seinen Bürgergesprächen. Finde ich beides grundsätzlich sinnvoll, aber ändert nichts am Grundproblem der Existenzangst.
Ich bin wie gesagt für ein BGE. Konkret in der Form des ausbezahlten Einkommenssteuerfreibetrags wie wir das vom Kindergeld bereits kennen. Wenn die Existenzsicherung vom Erwerbseinkommen abgekoppelt wäre, sinkt nicht nur die Angst vor Armut, sondern bekommt die Frage des Berufs auch eine weniger drastische Bedeutung für die Identität. Da das Erwerbseinkommen „nur“ noch den gehobenen Lebensstandard finanziert, kann man nach wie vor stolz auf seinen Job und seinen Lifestyle sein, muss sich aber nicht mehr als asozialer Schmarotzer fühlen, wenn man arbeitslos wird. Man kann auch aufgrund des dann wirklich freien Arbeitsmarktes auch ein positiveres Gefühl zum Job entwickeln. Man geht nicht mehr malochen, um nicht gedemütigt zu werden, sondern man arbeitet für sich. Und was viele gar nicht auf dem Schirm haben: Wir haben ja nicht nur das entwürdigende Narrativ vom Arbeitslosen als jemanden, dem man per „Fördern und Fordern“ Hilfe aufdrängeln muss, sonst kriegt der sein Leben nicht auf die Reihe. Wir haben auch das Narrativ vom Steuerzahler, dem die Politik Rechenschaft ablegen muss, weil der ja alles bezahle. Da denkt intuitiv keiner an die Mehrwertsteuer, sondern insbesondere an Einkommenssteuer. Denn das ist die Steuer, die man am intensivsten wahrnimmt. Man kann sie per Steuererklärung beeinflussen und man bekommt vom Finanzamt nochmal einen Brief, quasi als Erinnerung: Du gehörst dazu. Oder eben nicht. Ein Einkommenssteuerbasiertes BGE macht automatisch auch jeden zum Einkommenssteuerzahler, also zum wichtigsten Typen in der deutschen Gesellschaft.
Und die Fördertopfabhängigkeit der Kulturprojekte, über die wir ja schon gesprochen haben, ist mit BGE zwar nicht weg, aber deutlich milder. Die freie Szene und überhaupt jedes Unternehmertum könnte angstfrei agieren. Ein Scheitern bedeutet schlimmstenfalls das Ende des Projekts, nicht das Ende der eigenen Existenz.
Die Angst vor Überfremdung kann man wohl nur durch Konfrontation mit Fremdem lösen. Ich denke aber ehrlich gesagt nicht, dass Überfremdungsangst wirklich so signifikant ist. Ich halte das eher für ein Ventil der stigmatisierten Existenzangst.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich mag die Anführungszeichen hier. Der Witz ist ja, dass niemand auf Bedürfnisse eingeht, sondern nur auf die plakativen Forderungen. Es hat doch niemand das Bedürfnis, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken oder dass Leute abgeschoben werden usw. Selbst die meisten der „besorgten Bürger“ begründen ihre menschenfeindlichen Positionen ja stets mit ökonomischen und sicherheitspolitischen Sorgen. Die Leute wollen für sich ein angenehmes Leben mit absoluter Garantie, dass das in der Krise auch so bleibt. Und die Jugend sieht, dass in ihrer Lebensspanne die Krise voll reinschlagen wird, wenn wir jetzt nicht endlich mal was unternehmen.
Klar hat da die Jugend recht. Genauso wie die Menschen, bei denen die Krise schon voll reingeschlagen ist, Recht haben. Nämlich das Recht, irgendwohin zu fliehen, wo es sich besser lebt. Es ist im Grunde genommen genau so simpel. Man muss schon ein ziemliches Arschloch sein, wenn man in dieser Situation nur an sich denkt. Deshalb machen wir ja all diese Verrenkungen, um die Situation möglichst komplex dastehen zu lassen. Niemand will Arschloch sein, aber konsequent will auch niemand sein. Je egoistischer, desto mehr Verrenkung ist notwendig. Aber auch: je verrenkter, desto egoistischer kann man sein.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Die Zivilgesellschaft ist das A und O. Zivilgesellschaft heißt ja Bürger, die sich als Souverän verstehen und nicht als Untertan. Es gibt Untersuchungen zur sogenannten Staatsbürgerkultur. Es fällt auf, dass in Ländern mit ausgeprägter Zivilgesellschaft auch die Politik oft gut abschneidet. Die Skandinavischen Länder sind ein Beispiel. Länder mit überwiegend verdrossener Bevölkerung neigen eher zu schwachen, anfälligen Systemen mit vielen Regierungskrisen, hoher Korruption etc. Was da was bedingt, ist die große Frage. Vermutlich bestärkt sich das gegenseitig. Deutschland hat übrigens eine Untertanenkultur (wenig Engagement, durchaus Kritik, hohe Erwartungshaltung an die Politik) im Wandel zur partizipativen Staatsbürgerkultur. Mein Stand ist aber frühe Nullerjahre, also nagelt mich nicht darauf fest! 😊
Wenn ihr Zivilcourage im Sinne von Einstehen gegen Übergriffe meint, dann halte ich das ebenfalls für sehr wichtig, auch wenn es verdammt schwer ist, den Anfang zu machen. Aber eine Situation hat ja auch immer ein Nachspiel und es ist nie zu spät, den Mund aufzumachen. Und sei es, dem Opfer hinterher beizustehen oder den anderen zu signalisieren, dass der Übergriff, dessen Zeugen man gerade gemeinsam war, nicht akzeptabel ist und man einfach zu schockiert oder zu ängstlich war, sofort Zivilcourage zu zeigen. Ist ja leider auch nicht immer ungefährlich.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Als plakatives Bekenntnis eine gute Alternative zum anstrengenden Diskurs.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Im Grunde das gleiche. Ich muss aber gestehen, dass ich zwar wegen der Musik NACH Leipzig gegangen bin, aber ein bisschen auch wegen der Nazis weg VON meiner Heimat im Zwickauer Umland. Mein Herz hängt noch immer am Erzgebirge und ich bin sehr gern dort, schreibe diese Zeilen sogar auf Heimatbesuch. Aber ich habe hier auch eine Jugend verbracht, in der es normal war, dass man auf die Fresse bekommen kann, einfach nur, weil man alternativ aussieht. Ich habe erst mit zeitlichem und örtlichem Abstand gelernt, dass es eben NICHT normal ist, ständig auf Überfälle vorbereitet zu sein. Dauerhaft will ich da nicht wieder hin, schon gar nicht mit meinen Kindern.

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