INTERVIEW MIT KARSTEN KRIESEL

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Geboren und aufgewachsen in Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt. Seit fast zwei Dekaden Wahl-Leipziger. Nacht-, (Sub-)Kultur-, Stadt-, Natur- und Familienmensch. Punk – behaupten manche, ich widerspreche nicht. Dramaturg, Journalist und Veranstalter – sagen andere, auch hier: Haut hin.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin in keiner Partei, keiner Organisation oder Initiative und tue mich schwer mit abgeschlossenen Programmatiken, Manifesten oder sonstigem. Vielleicht liegt das auch an meiner zutiefst, in der Familie über Generationen ausgeprägten, atheistischen Grundhaltung: Alles religiös Betriebene, alles, was behauptet „die Wahrheit“ zu kennen, ist mir fast automatisch suspekt. Heilig ist mir kaum etwas. Dennoch gibt es Dinge, für die ich eintrete. Wenn es sein muss, gibt es dafür auch meine Stimme, meinen Körper, z. B. auf Demos, meine Unterschrift, auch meinen Namen und mein Gesicht: Natürlich bin ich etwa „gegen Rechts“ und das recht kompromisslos, das ist für mich seit jeher eine Selbstverständlichkeit. Mein Hauptmetier ist allerdings die Kunst & Kultur, dafür arbeite ich leidenschaftlich. Hier bin ich gern frei, provokant, aber gern auch gnadenlos hedonistisch und humorvoll. Ich ziehe gern Verbindungen, zeige Mechanismen auf, bringe Menschen zum Lachen, Weinen und Nachdenken. Als Journalist, wo ich ebenfalls überwiegend mit Kunst und Kultur zu tun habe, wenn auch als „Beobachter“, ist es kaum anders: Auch hier wird mein Engagement geweckt, wenn ich merke, es sind Dinge auszusprechen, zu analysieren und zu begründen, die ich für wichtig halte, in die Öffentlichkeit zu tragen.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es fühlt sich ambivalent an: Einerseits war das so aktiv nie geplant, sondern hat sich ergeben, indem man eben das macht, was man macht. Wenn man sich die aktuellen Wahldrohungen der AfD, gerade in Sachsen, anschaut, bin ich wohl gesamtberuflich so ziemlich das perfekte Feindbild, meine private Erscheinung entkräftet das nicht gerade. Aber ich maße mir nicht an, was ja Politik auch immer beinhaltet, für andere Leute zu sprechen oder wen zu belehren. Zum selbstständigem Denken, zur Eigeninitiative anleiten, beispielsweise in der Theaterpädagogischen Arbeit, das geht klar. Man ist ja schon davon überzeugt, dass der Blick, den man auf die Gesellschaft oder Weltlage hat, ein halbwegs unverklärter und vernünftig gangbarer ist. Vor allem, wenn man ihn für sich selbst begründen kann. Da fühlt es sich natürlich auch gut an, sich in eine Position hineingearbeitet zu haben, in der man diesen Blick öffentlich ins sächsische Kaltland tragen kann.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Bis vor ein paar Jahren habe ich geglaubt, dass es in der Menschheitsgeschichte wohl noch nie so eine perfekte Zeit zum Verweigern und Faulsein gegeben hat. In gewissen Punkten stimmt das auch immer noch: Wir haben uns hier in Europa ein ziemlich dickes Polster angefressen. Und selbst wenn man sich dieser Haltung hingibt, stecken hier schon mal zwei wichtige politische Entscheidungen drin: Erstens: Man lebt den Luxus von Frieden, Freiheit und Wohlstand, den sich Europa erarbeitet hat. Zweitens: Dieser Luxus hat Auswirkungen auf andere Regionen der Welt: Gute, synergetische und leider auch viele schlechte, weil unser Luxus in weiten Teilen ein geliehener und ausgrenzender ist … Man kann also selbst im hedonistischsten Leben überhaupt nicht unpolitisch sein. Und was passiert, wenn man sich nicht informiert, nicht kümmert, nicht beteiligt, das erleben wir gerade verstärkt: Die Lücken meiner fehlenden Beteiligung füllen andere, mache ich meine Lobby nicht geltend, tun das andere mit ihrer …

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, ein Weg wäre, den Menschen klar zeigen, was ihnen fehlt, wenn Demokratie und Grundwerte auf dem Spiel stehen. Die, die im Moment am lautesten gegen alles krakeelen, was nicht in ihre kleine Welt passt, würden sich ziemlich umschauen, wenn alles Realität würde, was sie fordern. Das wäre ein ziemlich trostloses Leben …

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe marschiert montags durch Dresden, unsere Zukunft freitags auf der ganzen Welt. Mit ein bisschen Glück entscheidet sich der Mensch in den nächsten Jahren nicht dafür, dass es umgekehrt ist. Oder anders: Wir kommen theoretisch mit ein paar Mausklicks an das gesamte Wissen der Welt. Wir haben mit unserer Geschichte das Schlechteste und vielleicht auch das Beste, wozu der Mensch fähig ist, durchlebt: Das könnte als lehrreiches Erbe für eine ziemlich rosige Zukunft sorgen, wenn wir all diesen Input „vernünftig“ nutzen. Einerseits. Andererseits ist das dem Menschen allzu oft nicht gegeben. Und so haben wir auch ein Erbe angehäuft, dass es der Zukunft sehr schwer macht: Unser Leben zerstört den Planeten. Unsere Gesundheit macht andere krank. Unser Luxus lässt andere verhungern, unsere Freiheit macht andere zu Sklaven. Jeden Tag. Jede Kaufentscheidung trägt das mit. Vielleicht, ziemlich sicher sogar, kann das nicht jeder jeden Tag ändern. Aber jeder sollte es wissen. Denn dann überdenkt man vielleicht hier und da sein Erbe, tut hier und da den ein oder anderen kleinen Schritt für die Zukunft.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Entspannung. Nicht immer der/die Lauteste sein wollen. Und dort, wo man trotzdem klar einen Standpunkt haben muss, den nach Möglichkeit ganz unpopulistisch begründen können. Mehr Musik, mehr Kunst, mehr Humor.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Meine Eltern, obwohl tendenziell konservativ, haben es irgendwie geschafft, mir ein Weltbild einzuimpfen (und ja, ich bin unbedingt fürs Impfen!), in dem die Neugier Fremdes größer ist als die Angst. Sie haben mir eine Welt gezeigt, in der Freiheit etwas Tolles, Luxuriöses und Schützenswertes ist: Reisefreiheit, Freiheit der Berufswahl, Meinungsfreiheit und Freiheit in der eigenen Erscheinung, ohne dass man dafür ernste Konsequenzen fürchten muss: Alles Dinge, von denen ich im Zuge des Endes der DDR als Kind schon bewusst mitbekommen habe, dass sie jetzt gerade erst entstehen für viele Menschen. In meiner Welt ist die Gleichheit der Menschen und Geschlechter etwas so selbstverständliches, dass ich nach der Wende sehr verdutzt auf Lebensmodelle wie „Hausfrau“ reagiert habe, auf angebliche Unterschiede von Mann und Frau. Als ich 1994 mit damals zwölf erfahren habe, dass in Deutschland Homosexualität AB JETZT nicht mehr strafbar ist, 1997, dass Vergewaltigung in der Ehe AB JETZT nicht mehr strafbar ist, bin ich jeweils aus allen Wolken gefallen. Ich hatte das seit Jahrzehnten für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Ja, Selbstverständlichkeit ist wohl die richtige Antwort auf die Frage, was mir diese Dinge bedeuten.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Abseits des rein organischen Überlebens sind dies wohl die Säulen dessen, was den Mensch überhaupt zum Menschen macht.
Es gibt seit der Steinzeit keine menschliche Kultur, die sich nicht auch über Kunst reflektiert hat. Als soziales Wesen strebt der Mensch nach einer sozialen Gesellschaft, und wenn diese sich selbst ernst nehmen will, gehört ein soziales Netz, Jugendarbeit, psychologische Betreuung einfach dazu, um am Ende allen Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Wie sehr „Medien“ unser heutiges Leben bestimmen, ist bei jedem Blick auf die Straße offenbar, wo sich die Menschen kaum mehr direkt anschauen. An Medienkompetenz kommen wir in einer medial durchzogenen Welt überhaupt nicht drumherum. Wenn man aber sieht, wie sich Menschen in sozialen Medien benehmen, was Journalisten und bestimmten Medienorganen an Hass entgegenschlägt, der aus Falschannahmen und Verschwörungsglaube herrührt, dann haben wir in dieser Hinsicht noch einigen Nachholbedarf …

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Ich glaube durchaus, dass die Mittel hier an bestimmten Stellen drastisch sein müssen. Klare Kante und Grenzen. Raus aus den Blasen und in die Blasen der anderen stechen. Gern auch ziviler Ungehorsam. Als Kultur-Punk ist mir auch das Mittel der Spaßquerilla sympathisch. Rechts zu sein, bedeutet per Definition Abgrenzung und Ausgrenzung, das qualitativ unterschiedliche Werten von Menschen. Der Weg zur Unterdrückung und Vernichtung, der Weg vom Wort zu Tat ist da sehr kurz, wie wir gerade wieder erleben. Deswegen gilt für mich ganz klar: Keine Toleranz für Intoleranz. „Erweiterte Toleranz in Richtung Rechts“, wie es gerade wieder gefordert wird, empfinde ich als blanken Hohn, denn nichts anderes ist in den letzten Jahren passiert. Vielmehr müsse es als selbstverständlich gelten, dass diese „Meinungen“ nicht in den demokratischen Konsens passen, Menschen, die dies offen vertreten nicht in Gremien, öffentlichen Ämtern, in der Disko, im Theater, in der Kneipe oder sonstwo willkommen sein sollten. Ausgrenzende und gewaltverherrlichende Standpunkte bewegen sich schnell über den Rand der Meinungsfreiheit. Wir müssen aufhören, bestimmtes Vokabular in den Kanon des Sagbaren aufzunehmen, wie es seit ein paar Jahren verstärkt geschieht. Wer gegen Minderheiten hetzt, im Angesicht von Gewalttaten verbal Beifall klatscht oder diese gar heraufprovoziert, der hat im demokratischen Spektrum für mich nichts verloren. Dafür gebe ich auch gern 10 – 15% auf, die dann eben nichtwählend an ihren Stammtisch zurückkehren. Mit denen hatte ich vor der AfD auch schon nichts gemein. Für jeden einzelnen muss das heißen: Sich selbst zeigen: Ich wähle nicht Rechts! Keine Angst vor Trotzreaktionen. Keine Scheu vor Widerspruch gegen rechte Hetze. Dafür muss man überhaupt nicht links sein. Aber leider ist das unter anderem seit Jahren ein Grundproblem vieler Konservativer, wie der CDU. Die Annäherung an die AfD in bestimmten konservativen Kreisen, weil sie ihre Felle davon schwimmen sehen, empfinde ich als unerträglich und nebenbei völlig wirkungslos. Ich bin bei Weitem kein Fan der CDU, aber ich glaube, es gäbe weniger AfD-Prozente, wenn die CDU denen weniger versucht hätte nachzueifern, als vielmehr echten christlichen Konservatismus als Markenkern dagegenzusetzen und sich von „Rechts“ klar abzutrennen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Erstmal finde ich Sieg hier ein zu starkes Wort. Prozentual sind diejenigen, die nicht die Rechtsradikalen wählen, immer noch in einer Mehrheit. Wer hier von Sieg redet, redet am Ende die Sieger, die er nicht habe möchte, mit herbei. Daher finde ich Dinge wie Framing, Informationspolitik, Berichterstattung und soziale und mediale Blasen hier wichtige Stichworte. Es begegnen einem leider recht häufig Menschen, die scheinbar nicht allzu viel darüber nachdenken, warum sie sich für eine politische Richtung oder ein Werturteil entscheiden. Die für komplexe Probleme nach allzu einfachen Pseudolösungen suchen. Und die AfD hat in einem Maße die Informationspolitik gekapert, die in vielen Kreisen die Themen setzt und selbst Widerspruch an ihr zum Erfolg ummünzen kann. Würde man ab und zu das Internet einfach abschalten (und die Bildzeitung von der Bäckertheke schmeißen), sähen die Wahlergebnisse wohl anders aus. Diese geschlossenen, für andere Meinungen, ja allein Informationen, von außen zum Teil völlig resistente Blasen sind sicherlich ein Grund, der sich jedoch nicht auf Sachsen und Brandenburg beschränkt. Offenbar sind Teile der Bevölkerung Ostdeutschlands durch die spezifische Geschichte hier besonders prädestiniert, Rattenfängern hinterherzurennen, zumindest die, die ein zu naives Anforderungsdenken haben: Mit der Wende glauben „Jetzt geht es los mit dem Schlaraffenland“ und ein paar Jahre später merken, dass dies nicht eintritt, zumindest nicht von selbst. Die Schuld bei anderen suchen und dann schöne Sündenböcke präsentiert bekommen: Die da oben und die da von außen, alle wollen mir was wegnehmen: Zack, braune Soße im Kopf, fertig. Ist bestimmt viel zu einfach diese Erklärung und es gibt noch einen ganzen Kartoffelsack voll anderer Faktoren. Aber da ich keiner von den nach Rechtsruckenden bin, kann ich es mir am Ende auch nicht erklären.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Wenn man sich deren Programm anschaut, bekommt man schwer Angst, das klingt verheerend. Ich glaube auch, je stärker die AfD in den Parlamenten vertreten ist, umso schwieriger wird es, Dinge im Sinne der offenen Gesellschaft, Bildung, Soziales, Kunst & Kultur durchzusetzen. Allerdings würde ich auch hier vor Panik warnen: Viele der Ziele sind undemokratisch und nach dem Grundgesetz nicht durchsetzbar, eine Regierungskoalition mit AfD-Beteiligung halte ich trotz der momentanen CDU-Kapriolen für unwahrscheinlich. Und zu guter Letzt glaube ich auch, dass sich, was andere Parteien leider gerade zur Unkenntlichkeit verschleift (siehe SPD), bei der AfD ein Vorteil sein könnte: Politisches Geschäft ist allzu oft Kompromiss, populistische Forderungen werden bis zur Gesetzlage oft so weit geschliffen, bis sie an Radikalität verloren haben, Regierungspolitiker bekommen angesichts von Ämtern allzu schnell Eurozeichen in die Augen und verlieren ihre idealistische Kraft …

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Sichtbar und hörbar machen! Den entsprechenden Protagonist*innen und ihren Anliegen eine öffentliche Stimme geben und sie nicht im Gegenteil als idealistische Spinner oder gar Extremisten hinstellen (Yes, Sachsen-CDU, das ging gegen Dich!) Und, was noch viel wichtiger ist: Indem man nach eigenen Kräften teilnimmt an dieses Initiativen, nur auf die Schulter klopfen reicht ja nicht. Es werden Workshops organisiert oder Aktionen? Dann braucht es auch Teilnehmer und Mittler, die Workshops und Aktionen teilnehmerstark werden lassen. Es gibt coole Konzerte, allerdings nicht im Kiez, sondern auf dem Land? Dann ab ins Auto oder den Bus, am besten in der Gruppe, dann machts mehr Spaß, und hin da!

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Die gestiegene Wahlbeteiligung zur Europa- und Kommunalwahl vor ein paar Wochen hat es gezeigt: Jeder mit Einfluss sollte aktiv dafür einstehen. Ich habe dieses Mal sogar von vielen sonst eher oberflächlichen Celebrities und anderen Personen des öffentlichen Lebens demokratische Wahlbekenntnisse gehört. Aufstand und Aufklärung durch die Anständigen, wie es immer so schön heißt, halte ich für einen wichtigen Weg. Bei vielen Menschen kann eben Helene Fischer mehr erreichen als K.I.Z. Der Weg muss dann natürlich weiter gehen bis zu jedem Einzelnen: Ihr, die ihr Wählen geht: bekennt Euch! Bis in der in der öffentlichen Wahrnehmung Wählen gehen als minimalste demokratische Beteiligung selbstverständlich ist.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

In welche Gesellschaft? Wohin zurück? Da steckt für mich ein zu sozialarbeiterischer Anspruch dahinter, man müsse immer jeden an die Hand nehmen und in einen ominösen gemeinsamen Energiekreis führen. Stehe ich selbst nicht manchmal als schräger Kultur-Vogel viel mehr „out of society“ als … äh … sagen wir Handwerker Meyer aus Freiberg? Geht es irgendjemandem schlechter, seitdem alle davon reden, wie schlecht es allen geht? Wer einem angeblich alles etwas wegnehmen will? Seid ihr nicht fett und rosig, solltet ihr nicht glücklich sein? Was hat euch bloß so ruiniert? Ok, die letzten Sätze habe ich mir von den „Sternen“ geklaut. Dennoch: Ängste haben, glaube ich, viele von uns, die Frage ist ja nur immer, wie und wohin wir sie kanalisieren. Wer seine eigene Situation, gerade im Osten, mit der „Angst vor Überfremdung“ verbindet, dem kann ich wahrscheinlich auch nicht mehr helfen. Schlagworte wie „benachteiligt“ und „abgehängt“ fühlen müsste man viel mehr auf den Zahn fühlen: Benachteiligt wem gegenüber? Abgehängt wovon? Menschen verlieren viel aus den unterschiedlichsten Gründen, viele Existenzsorgen haben ihre Ursache oft in himmelschreienden Ungerechtigkeiten vom bürokratischen Klein-Klein über kapitalistische Fehlverteilungen bis zu globalen Zusammenhängen. Und nicht jeder davon wird AfD-Wähler. Wir konstruieren hier manchmal, denke ich, zu sehr homogene soziokulturelle Räume, die es so nicht gibt: Viele Menschen haben schon lange vor Pegida und AfD Leben geführt, die mit meinem nichts zu tun haben und die ich in mein soziokulturelles Umfeld auch nicht „zurück“ holen möchte, umgekehrt ist es sicher genauso. Trotzdem sind wir natürlich alle Teil einer Gesellschaft.
Aber um an dieser Stelle noch etwas Konstruktives zu sagen: Natürlich dürfen wir dieses sprich- und wortwörtliche Hinterland nicht den Populisten überlassen, sondern muss auch die „Abgehängten“, gerade bei öffentlichen politischen Äußerungen, in der journalistischen Berichterstattung, in kultureller Arbeit etc. mit meinen und einbeziehen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Das liegt, denke ich, weniger an schlechten Erfahrungen als an Klischees. Diese sind zum Teil uralt und in unserer westlichen Welt kulturell gefestigt: Siehe das Bild von Farbigen in bestimmten Kinderserien, siehe die Politik selbst aus der vermeintlichen Mitte wie der CDU über Jahrzehnte. Es liegt zum Teil gerade daran, dass man keine kennt – der strukturelle Rassismus im weitgehend weißen Osten zeigt das recht gut. Es liegt natürlich an Fake News in völlig irrational geschlossenen Infoblasen. Klar, eine bestimmte Vorsicht vor Neuem und Fremdem ist uns angeboren. Aber es liegt ja in meiner Verantwortung, in welche Richtung ich diese auspräge: In Angst und Ablehnung oder vielmehr Neugier oder einfach eine alltagstaugliche Vorsicht, wie ich sie etwa brauche, wenn ich über die Straße gehe.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Sind denn Politiker keine Bürger? Gibt es denn DEN/DIE Politiker*in? Der hinter dieser Frage liegende Anspruch nervt mich manchmal und zwar in mehrfacher Hinsicht: Was steckt denn da für ein Sozialarbeiter- oder gar Taxifahrer-Bild dahinter, dass man ständig von Politikern abgeholt werden will? Wir sind doch nicht mehr im Kindergarten mit einer eins zu zehn Betreuung! Ob Meine Meinung in einem politischen Programm vertreten ist, erfahre ich erst, wenn ich erstens die Programme kenne (und wenn alle AfD-Wähler wüssten, wie sehr sie eigentlich gegen sich selbst wählen, dann …) und zweitens überhaupt eine klare Meinung zu bestimmten Dingen entwickelt habe, die über den Rand einer Bild-Schlagzeile hinausgeht. Dass ich wahrscheinlich selten ein Parteiprogramm finde, dem ich zu 100% zustimme, ist für mich ein alter Hut, deswegen kann ich mich ja alle paar Jahre entscheiden, bestimmte Kursrädchen zu korrigieren. Dass es Politiker*innen gibt, die gefühlt mehrere Leben von mir entfernt sind und sich aus ihrem Elfenbeinturm heraus nie in mich hineinversetzen können, ist für mich ebenso eine Binsenweisheit, die es nicht erst seit 2015 gibt. Ebensowenig kann ich mich in das Leben irgendeines Pegida-/AfD-„Absaufen“-Horsts aus Dresden hineinversetzen, sorry Dresden und sorry an andere coole Horste … Aber es gibt auch Politiker, die nicht schon von Bürokratie und Kapital verschluckt sind, die Ohren haben und Augen, die sehr wohl wissen, wo der Schuh bei verschiedenen Leuten drückt.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Unbedingt! Die Jugend ist die Zukunft und dieser klischeehafte Spruch bereitet mir seit ein paar Monaten endlich mal weniger Kopfzerbrechen, sondern ist wieder mit Hoffnung verbunden. Ich kann es sowieso nicht mehr hören: Seit etwa 2015 höre und sehe ich nix anderes mehr als die Bedürfnisse, der besorgten Bürger. Uns hört ja keiner zu? Bullshit! In jeder Talkshow, jeder zweiten Äußerung von Politikern, jedem dritten Artikel steckt eure Agenda. Und was merkt man, wenn man tiefer auf die „Bedürfnisse“ eingeht, versucht, mit Wutbürger*innen zu reden? Dann merkt man schnell, dass ganz viele Sorgen & Ängste der Besorgten keine wirklichen Sorgen & Ängste, sie sind nur Hass! Wer AfD wählt, wählt Nazis, wer sich zu PEGIDA und Konsorten auf den Platz stellt, wird nicht in die rechte Ecke gestellt, der steht in der rechten Ecke.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ich hätte in so vielen Fällen die Fresse halten können, wahrscheinlich wären mir metaphorisch wie wortwörtlich ein paar blaue Augen erspart geblieben: Aber es hätte sich auch nix bewegt. Ein paar Leute sind dadurch um ihre blauen Flecken drumherum gekommen. Ein paar Leute sind dadurch ins Grübeln gekommen. Das finde ich schon mal gut. Naja, und dann ist da ja auch noch der alte kategorische Imperativ von olle Kant: Ich fände es schon auch cool, wenn sich Leute mir gegenüber korrekt verhalten, wenn Not am Mensch ist, also sollte ich nämliches tun.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Demokratisch leben, und nicht nur so tun, als ob!

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Dass es trotz aller Unkenrufe immer noch stimmt. Nicht immer und überall, aber insgesamt mehr, als es uns unsere Panik manchmal weismachen will. Und dieser Fakt könnte wichtiger kaum sein, im momentanen Lärm: Ihr seid nicht das Volk! Ihr seid nur ein besonders hartnäckiger Pickel am Arsch des Volkes!

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich empfehle jedem den Roman „Vorhofflimmern“ des preisgekrönten Journalisten Michael Kraske. Was „Wir bleiben hier“ bedeuten kann, habe ich noch nirgendwo besser gelesen.
Ich kann jeden verstehen, der auf der Suche nach einem besseren Leben woanders hingeht, im Kleinen wie im Großen.
Dass ein Hashtag wie dieser jedoch überhaupt aufgestellt, gesagt und überlegt werden muss, verunsichert mich schon. Denn es zeigt, dass No-Areas längst Realität sind, allerdings nicht für dumpfe Deutsche, sondern für offen agierende Menschen außerhalb des rechten Spektrums. Dass wir schon in den 1990ern mit gefärbten Haaren und bestimmten T-Shirts besser nicht aufs Dorf, zum Stadtfest/Rummel, in die Sächsische Schweiz oder bestimmte Chemnitzer Stadtteile gefahren sind, war damals so normal wie im Rückblick beunruhigend.
Wir sind doch das Land, dass Leute aufnimmt, die nicht mehr leben können, wo sie herkommen, aus verschiedenen Gründen. Dass es innerhalb des Landes für viele Leute eine ernsthafte Überlegung ist, aus politischen Gründen und Bedrohungszuständen umzuziehen und bestimmte Gegenden rechter Meinungshoheit zu überlassen, sollte uns allen schwer zu denken geben. Ich habe den allergrößten Respekt an alle, die ähnlich oder oft noch aktiver handeln wie ich, und nicht auf einer Insel wie Leipzig leben! Lasst #wirbleibenhier und #wirsindmehr so lange wie möglich und so selbstverständlich wie möglich wahr bleiben!

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