INTERVIEW MIT JULE NAGEL

Jule Nagel, Leipzig, geb. 1978, MdL und Stadträtin für DIE LINKE, Antifaschistin und Aktivistin

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin seit nunmehr 20 Jahren politisch aktiv, zuerst ehrenamtlich, dann als Mitarbeiterin einer Europaabgeordneten und nun seit 2014 Mitglied des Landtages in Sachsen. Außerdem wurde ich erstmals 2009 für den Leipziger Süden in den Stadtrat gewählt. Ich habe zudem 2000 das linXXnet mitgegründet. Das linXXnet symbolisiert den politischen Ansatz, den ich vertrete: Offen, vernetzt, pluralistisch und bewegt. Wir sind kein klassisches Parteibüro, sondern eine Schnittstelle zwischen Partei, Bewegung und den kleinen individuellen Kämpfen gegen Unrecht. Seit Ende der 1990er engagiere ich mich gegen Neonazis, Rassismus und weitere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, für soziale und politische Rechte von Marginalisierten, für Freiheitsrechte und vieles mehr.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es gibt einen glasklaren Unterschied zwischen der politischen Arbeit in Leipzig und anderen Orten in Sachsen. In Leipzig gibt es eine gewissen Offenheit, im Stadtrat, aber auch bei den Menschen auf der Straße. Hier lässt sich gut um Argumente und die besten Lösungen streiten.
Ich bin oft in Sachsen unterwegs und auch im Landtag präsent. Gerade die Arbeit in Dresden war für mich ein gewisser Schock: Demokratietheoretisch und auch bezüglich der politischen Kultur. Insbesondere die CDU agiert mit einer unglaublichen Arroganz der Macht und lässt Vorschläge, die ihnen nicht in den Kram passen, abprallen. Natürlich ist auch die AfD ein Faktor: Seit 2017 hat sich die Rhetorik dieser rassistischen, national-konservativen Partei extrem verschärft.
Kraft und Hoffnung geben aber immer wieder die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteure, die es überall in Sachsen gibt.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich denke gerade in diesen Zeiten ist es wichtig aktiv zu werden, denn es geht um den humanistischen und demokratischen Konsens dieser Gesellschaft. Das kann im eigenen persönlichen Umfeld und im Alltag beginnen: Indem man menschenfeindlichen Sprüchen etwas entgegenhält, sich aktiv an Diskussionen über Probleme und Problemlösungen beteiligt. Ich denke aber, generell ist es wichtig, sich und seine Gedanken einzubringen. Es gibt zahlreiche partei-unabhängige Initiativen und Vereine, man kann Projekte auf die Beine stellen, man sollte sich gegen Mieterhöhungen oder für ökologische Belange einsetzen. Unser linXXnet versucht genau für solche Bewegungen und Ideen Platz zu schaffen und Unterstützung zu geben.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich denke, die Themen sind bereits stark in der Öffentlichkeit. Auch wenn wir über einen Rechtsruck sprechen müssen, der sich in den vergangenen drei bis vier Jahren Raum verschafft hat, nehme ich eine starke Politisierung der Gesellschaft wahr.
Ich denke, dass es normal sein muss, Aktionen zu veranstalten, um auf Probleme hinzuweisen. Das Versammlungsrecht ist das wichtigste Grundrecht, das kollektive öffentliche Meinungsbildung ermöglicht, es gibt die Möglichkeit Veranstaltungen und Diskussionen durchzuführen. Es ist wichtig die Stimme zu erheben, wenn Unrecht geschieht. Das ist Aufgabe eines und einer jeden, nicht nur „der“ Politik. Die jungen Leute von Friday for Future zeigen zudem gerade, welche Dynamik und Wirkung Engagement erzeugen kann. Genau wie die Protestbewegung gegen LEGIDA in Leipzig.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Zu unserem Erbe gehört der dunkelste Teil der Menschheitsgeschichte, der Nationalsozialismus. Auschwitz, von den Deutschen erdacht und betrieben, markiert die Abgründe der Zivilisation. Das muss weiterhin in den Köpfen präsent sein und der Anspruch „Nie wieder Faschismus“ Leitlinie des täglichen Handelns sein. Heißt: Kein Mensch darf ausgegrenzt und erniedrigt werden, weder durch staatliches noch durch individuelles Handeln. Das ist leider nicht die Realität.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das sind die Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Übrigens solche, die von Gesetzen fast am Meisten bedroht sind, wenn man sich die neuen Polizeigesetze vor Augen hält, mit denen repressive Kompetenzen der Polizei maßlos erweitert werden, oder die zahlreichen Asylrechtsverschärfungen, mit denen Geflüchtete entrechtet und prekarisiert werden, oder die Untätigkeit bezüglich der Gleichstellung der Geschlechter und übrigens auch Gleichstellung der Menschen, die im Westen und Osten wohnen bezüglich Löhnen, Renten und anderen sozialen Sicherungssystemen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Diese Faktoren sind essentiell. Ich denke, dass neben der „harten“ Infrastruktur, also Verkehrsanbindung, medizinische Versorgung oder Internet, diese Elemente zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehören und das Leben vor allem auch im ländlichen Raum lebenswert machen. Es sind die Bereiche, die gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und die sich jenseits der kapitalistischen Logik, dass alles zweckmäßig sein muss, bewegen und das ist gut und wohltuend.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Indem sich jede und jeder einmischt, Diskussionen in alle Bereichen seines/ihres Lebens führt. Indem Ansprüche an die Politik formuliert werden. Es wird zudem verschiedene Möglichkeiten geben seine Meinung auch auf die Straße zu tragen: z. B. bei den Unteilbar-Demonstrationen am 6.7. in Leipzig und am 24.8. in Dresden.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Das lässt sich nicht kurz beantworten. Ich denke, dass es ein Geflecht von Gründen gibt, genau wie die Wähler*innen der AfD sehr verschieden sind. Sicher ist bei vielen, vor allem im Osten, immer noch die Enttäuschung über die Benachteiligung und den Niedergang der Infrastruktur ausschlaggebend. Das reicht aber als Erklärung nicht. Wir müssen darüber sprechen, dass es doch bei relevanten Teilen der Bevölkerung tief verankerte menschenfeindliche Einstellungen gibt, dass das Zusammenleben mit Migrant*innen und die Bereitschaft humanitäre Hilfe zu leisten nicht als Normalität empfunden werden und dass mit demokratischen Prozessen gefremdelt wird. Der Kahlschlag der sozialen Sicherungssysteme durch CDU, SPD und auch Die Grünen und die Neoliberalisierung des Lebens hat tiefe Wunden gerissen. Das Ding ist, dass die AfD hier gar keine Vorschläge macht, sie ist selber eine wirtschaftsliberale Partei, die von Eliten geführt wird. Ich hoffe sehr, dass das zumindest Teile ihrer Wählerschaft noch checken und sich für eine soziale und demokratische Perspektive entscheiden. Dazu müssen sich aber auch die Parteien ändern, runter von ihrem hohen Roß kommen und Politik partizipativer gestalten und die Interessen von armen und abstiegsbedrohten Menschen stärker auf den Schirm nehmen, übrigens egal welche Herkunft diese Menschen haben.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Es ist klar: Ein Durchmarsch der AfD wird verheerende Folgen auf alle die Bereiche haben. Die AfD wird bei Kunst, Kultur, Demokratieförderungen oder Integrations- und Antidiskriminierungsarbeit einen harten Kahlschlag vollziehen. Zudem ist zu erwarten, dass sie – wie die CDU insbesondere in Sachsen über Jahre auch praktiziert hat – alle kritischen und unangepassten Akteure diskreditiert. Mit der AfD ist eine Gleichschaltung von Politik und Gesellschaft zu erwarten. Für den sozialen Bereich erwarte ich von der AfD keine Konzepte, im Gegenteil werden Armutslagen sicher weiter verhärten. Auch im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit ist schlimmes zu erwarten, insbesondere für Akteure, die sich aktiv für die Menschenrechte einsetzen.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Das beste ist sie zu besuchen, ihnen zuzuhören, ihnen Öffentlichkeit und Anerkennung zu geben. Durch die offizielle Politik gilt es Förderprogramme zu stärken und auch langfristige Förderung zu ermöglichen, damit die Initiativen nicht Jahr für Jahr zittern müssen, ob es weitergeht.
Auch eine Vernetzung von demokratiepolitischen Akteuren über die eigenen Bezugsräume hinaus macht Sinn und kann Stärke geben.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Indem man klar macht, dass ihre Stimme etwas bewirkt und ihre Bedürfnisse auch in den fünf Jahren zwischen den Wahlen gehört und ernst genommen wird. Viele Menschen haben ja das Vertrauen verloren, weil sich sowieso nichts ändert. Heißt: Politik muss sich ändern und flexibler werden! Am 1. September geht es in Sachsen zudem um den demokratischen und humanistischen Grundkonsens der Gesellschaft. Das muss ganz klar und deutlich formuliert werden.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Ich wiederhole es: Zuhören, aber auch Grenzen markieren, wenn Neiddebatten losgetreten oder Schwächere zu Sündenböcken gemacht werden.
Es muss weiter darum gekämpft werden, dass die ökonomische Benachteiligung von „Ossis“ ein Ende hat und auch ihre Lebenserfahrungen vor 1989 nicht einseitig diskreditiert werden. Hier muss Politik handeln.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Insbesondere im Osten gibt es nicht viel praktische Erfahrung im Zusammenleben mit Migrant*innen. Ich habe schon oft erlebt, dass sich Abwehrhaltungen in Luft aufgelöst haben, wenn Menschen aufeinander zugegangen sind. Das muss viel mehr passieren. Vor allem müssen die, die „Angst“ haben oder Abwehr an den Tag legen, verstehen, dass Migrant*innen Menschen wie du und ich sind, und dass es durchaus spannend sein kann andere Lebenserfahrungen, andere Gewohnheiten und Einflüsse zu erleben. Das erfordert Mut und Offenheit anderes zuzulassen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja. Das ist so und die Wahrnehmung, dass es so ist, hat sicher auch zu großen Unmut geführt, der oft auch antidemokratisch vorgetragen wird. Ich bin sicher, dass Politiker*innen mehr Kraft investieren müssen, vor Ort ins Gespräch zu kommen und Kritiken und Anregungen aufzunehmen. Damit meine ich explizit nicht das Durchschneiden von Bändchen.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich stimme dem zu und füge neben jungen Menschen noch die hinzu, die Zielscheibe von Attacken sind: Migrant*innen, LGBTIQ, Muslime und Menschen anderer Religionszugehörigkeit. Sich permanent nur an denen auszurichten, die die Menschenrechte von Minderheiten mit den Füßen treten, ist ein fataler Fehler.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Wichtig, sie sind das Rückgrat einer lebendigen Gesellschaft, zumindest wenn sie einen demokratischen und der Menschenwürde und Freiheit verpflichteten Grundkonsens haben.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ein Slogan, der in der Zeit übelster rassistischer Hetze und Gewaltausbrüchen in Chemnitz empowern sollte und allen, die sich gegen rechte Hetze einsetzen, Hoffnung und Mut geben sollte. Von Akteuren aus dem ländlicheren Raum wurde allerdings berechtigterweise eingewendet: Nein, wir sind nicht mehr. Das halte ich für eine wichtige, ernstzunehmende Perspektive, einen Hilferuf. Ich denke, dass mensch nicht den Fehler machen darf, sich die Verhältnisse schön zu reden. Gerade die, die Tag für Tag dort kämpfen, wo sie Beschimpfungen und Bedrohungen ausgesetzt sind, die brauchen Aufmerksamkeit und Unterstützung. Da reicht ein Konzert und ein Slogan nicht.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

… bedeutet, sich nicht unterkriegen zu lassen und gemeinsam gegen die Bedrohungen von Demokratie, Menschenwürde und Freiheit und kritischem Denken vorzugehen. Heißt: zusammenhalten und offensiv für eine vielfältige, soziale und solidarische Gesellschaft kämpfen.

Foto: Herzkampf

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