INTERVIEW MIT MARTINA JACOBI FÜR DEN SCHWEIZERHAUS PÜCHAU E.V.

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin durch die Arbeit nach Leipzig gekommen. Für mich war Sachsen eine zufällige Wahl, die mit einem interessanten und verantwortlichen Job im Bereich Soziokultur und Kinder- und Jugendarbeit zu tun hatte.
Inzwischen arbeite ich im Landkreis Leipzig u. a. für den Kunst- und Kulturverein Schweizerhaus Püchau e.V. Dieser Verein wurde von mir mitgegründet und besteht seit fast zehn Jahren. Ich bin in der Organisation des Schweizerhauses tätig. Ich befasse mich also mit allen formalen Zusammenhängen, schreibe Konzepte, treffe Menschen und plane Projekte etc. Zum Glück kann ich nach wie vor noch regelmäßige Kurse im Bereich Bildende Kunst umsetzen. Ich mag das Büro, aber ebenso mag ich die Arbeit mit Menschen aller Generationen.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Unser Verein setzt sich für kulturelle Bildung für alle Generationen im ländlichen Leipziger Raum ein. Wir gestalten künstlerische Beteiligungprozesse, die hauptsächlich für Kinder und Jugendliche, aber auch vermehrt für ältere Menschen bzw. generationsübergreifend angeboten werden.
Dafür betreiben wir in Püchau (einem Ortsteil von Machern) ein Offenes Atelier, in Wurzen in einem ehemaligen Ladengeschäft einen Raum für Kunst und Kultur und haben die „Mobile Initiative Kultur“ gegründet, um auch in entlegenen Orten im Landkreis Leipzig und Nordsachsen Angebote der kulturellen Bildung umsetzen zu können.
Wir schaffen Begegnungs- und Bildungsräume, die sich als dezidiert offen für alle Menschen verstehen. Wir möchten Begabungen und Fähigkeiten fördern, Miteinander und Solidarität stärken und ganz einfach: gute Momente zwischen unterschiedlichsten Menschen schaffen – egal welchen Alters oder welcher Herkunft.
Unsere Kurse, Projekte und Workshops sind Übungsfelder für demokratisches Handeln. D. h. sie sind immer praktisch in der Auslegung, wir vermitteln Methoden und befähigen Menschen sich künstlerisch auszudrücken, sich auszutauschen und nehmen dabei gesellschaftliche Themen ins Blickfeld.

wbh: Was ist existenziell und notwendig für deine und eure Arbeit?

Existentiell für unsere Arbeit ist Vertrauen. Sowohl das Vertrauen der Menschen, die zu uns kommen, als auch das, was wir in uns tragen. Wir arbeiten sehr viel mit Kindern und Kindern im Übergang zum Erwachsen-werden. Vertrauen ist dort alles.

wbh: Woran mangelt es?

Wir sind ein Kunst/Kultur- und Bildungsverein auf dem Land. Wir werden seit bald zehn Jahren projektfinanziert und erhalten Förderung zumeist nur über ein Jahr. Wir haben keine fest angestellten Mitarbeiter*innen. Das bedeutet, dass viele „Drumrum-Sachen“ im Ehrenamt gestemmt werden. Natürlich muss sich das ändern, wenn man mit kultureller Bildung wirklich Nachhaltigkeit erreichen möchte.

wbh: Im Idealzustand: Was wünschst du dir für bessere Grund- und Rahmenbedingungen für deine und eure Arbeit?

Grundständige langfristige und damit planbare finanzielle und personelle Ausstattung und damit Anerkennung der geleisteten Arbeit der Menschen und deren Bedeutung für die Gesellschaft. Das gleiche sehe ich auch für den gesamten Bereich Pflege und Betreuung.

wbh: Was sind deine Wünsche an die Politiker*innen?

Kommt rum!

wbh: Was sind deine Wünsche an die Bürger*innen in deiner Stadt?

Macht mit!

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Für uns geht das gut in Kooperationen mit anderen Einrichtungen und mit Menschen, die Angebote stellen und gestalterisch bei uns tätig sind. Es hilft auch, wenn einfach jemand das Kochen für den Ferienkurs übernimmt oder sich darum kümmert, dass ein Text lektoriert wird.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Alle unsere Handlungen sind auf irgendeine Weise politisch.
Es geht darum eigene Haltungen, Handlungen und Werte reflektieren zu können und demokratisch zu ver/handeln.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Über Kinder und Jugendliche. Sie treffen den Kern der Dinge häufig sehr genau. Außerdem haben sie oft gute Ideen, wie man Aktionen starten kann und den nötigen Mut, auch erst einmal Unrealistisches anzupacken.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Aus Vergangenheit erwächst Verantwortung, Zukunft ist das, was wir gemeinsam gestalten können.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Tatsächlich fände ich Freundlichkeit, Höflichkeit und Großzügigkeit als Neustart ziemlich gut.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das sind unsere Grundlagen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Für mich hat das große Bedeutung. Ich arbeite seit vielen Jahren in diesen Zusammenhängen und sehe die Erfolge, Hilfen und Stärkungen bei den Menschen.

Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Wählen gehen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Ich kann die beiden vorausgegangenen Felder nicht zusammenfassend beantworten.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Man kann mit ihnen sprechen, wenn man den persönlichen Zugang hat, und sie einladen gemeinsam wählen zu gehen.
Langfristig helfen hier nur kulturelle und politische Bildung und praktische, auch niederschwellige Zugänge. Etwa im „Kinderwahlbüro – Quark oder Brause“ einer Schule oder KiTa, damit gelernt und erlebt wird, dass sich Beteiligung lohnt und wirklich etwas bewirken kann. Und das es wertvoll ist – die Wahl – zu haben.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Alle Menschen, die hier leben, sind Teil der Gesellschaft.
Kraft und Anstrengung sollten zum Beispiel auf bürgerschaftliches Engagement, auf offene Orte und Aktionen, Kooperationen, Kunst, Kultur und Bildung ausgerichtet sein.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Das sind traditionelle und erlernte Muster. Jeder von uns trägt in irgendeiner Form solche und andere diskriminierende und ausgrenzende Muster in sich. Man kann sie im Grunde gut reflektieren, wenn man offen mit ihnen umgeht und sich informiert.
An diese Muster kann man allerdings auch sehr gut andocken und damit verbundene Ängste instrumentalisieren.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Insgesamt sehe ich das nicht so. Ich finde die Bürger*innen sind hochpolitisiert, sie mischen sich ein und sind auch in Parteien/Vereinen sehr engagiert.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Junge Menschen haben ein Recht darauf, dass man sie ernst nimmt und einbindet. Das sollte selbstverständlich sein.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Im ländlichen Raum sind besonders die Strukturen im Ehrenamt oder in Selbstorganisation sehr wichtig und meist die einzigen, die überhaupt noch direkte/r Ansprechpartner*innen vor Ort sind. Ohne sie geht es nicht. Zivilcourage brauchen wir als Korrektiv und Unterstützung für Menschen, die sich zum Beispiel in einer Situation nicht allein helfen können, aber auch für Themen, die in der Öffentlichkeit wenig Wahrnehmung finden.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir uns beteiligen und einmischen, uns solidarisieren und kooperieren, offen und gastfreundlich sind. Das kann jeder in seinem kleinen oder großen Umfeld tun.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Wir-Begriffe sind ja immer so ein bisschen komisch. Wir sind mehr! Wir (wer ist das?) sind mehr (als wer denn?). Also ich kann damit nicht so viel anfangen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig arbeitet die Herkunft des Slogans gerade neue auf. Es gibt nun klare Nachweise der Erstnennung, die auch uns überrascht haben. Einer der damaligen „Erst-Rufer“ ist Mitglied in unserem Verein und immer noch hier. Insofern stimmt hier das WIR für uns.

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