INTERVIEW MIT SASCHA KODYTEK
wbh: Möchten Sie unseren Leser*innen kurz von Ihrer Arbeit und Ihrem Leben erzählen.
Ich wurde in Zeitz geboren, wo ich in einen katholischen Kindergarten ging. Mit meinen Kindergärtnerinnen diskutierte ich darüber, dass Krokodile Steine fressen, um beim Jagen unter Wasser zu bleiben. Man wollte mir nicht glauben, aber es stimmt bis heute.
Diese Art, sich für einen als richtig erkannten Standpunkt einzusetzen, habe ich auch in Leipzig nicht aufgegeben, wo ich dann zur Grundschule ging und aufwuchs.
In Leipzig spielte ich mit Leidenschaft bei den Leipzig Lions American Football, war dort Defense Captain und in der Schule politsch aktiv in der Schülervertretung. Mit 18 Jahren bin ich bei den Eltern raus und nach Dresden gezogen, weil es dort die beste sächsische Football-Mannschaft gab. In Dresden habe ich Abi gemacht und Schülerproteste für eine Verstärkung der politischen Bildung in Sachsen mitorganisiert. Außerdem war ich in dem Bündnis „Dresden für Alle“ engagiert und stand auf einem der Transporter, der Hygieneartikel und Kinderspielzeug in die Geflüchtetenunterkunft nach Freital brachte. Nach meiner Station in Dresden ging ich nach Oslo zu meinem Vater und dann nach Paris, wo ich ein Jahr als Kinderbetreuung und Haushaltshilfe arbeitete. Schließlich bin ich in Halle gelandet, wo ich anfing Jura zu studieren.
Heute bin ich wieder in Leipzig, wo ich an verschiedenen Projekten arbeite.
An meinem Leben schätze ich die Kontraste. So habe ich beispielsweise unter der Woche als Werksstudent in der Lobbyabteilung der European Energy Exchange – die größte Engergiebörse Europas – gearbeitet und mir am Wochenende als Möbelpacker noch etwas dazu verdient. Zwei völlig unterschiedliche Berufswelten, aus denen ich jedoch viel lernen konnte.
In der Politik hören die Kontraste bei den Themen nicht auf. Einerseits habe ich mich für eine Fahrradgarage am Leipziger Hauptbahnhof eingesetzt, deren Bau jetzt auch vom Leipziger Stadtrat beschlossen wurde, andererseits organisierte ich Pulse of Europe-Demonstrationen und habe jetzt eine Kampagne gestartet, um die Regierungsbeteiligung der AfD zu verhindern.
Hinter all dem liegt ein Roter Faden: Ich bin fest davon überzeugt, dass man sich gerade machen muss, für die Dinge, die man richtig findet. Ganz egal, welches Thema das ist. Ob in der Freundschaft, beim Sport oder in der Politik. Nichts geschieht von allein und wer will, dass Gutes geschieht, muss anpacken.
wbh: Wo sind Sie aktiv, wofür engagieren Sie sich und treten sie ein?
Als Sprecher und Kopf hinter Zukunftsachsen.org setzte ich mich mit meinem Team dafür ein, dass die AfD hier in Sachsen nicht regiert und wir stattdessen durch taktisches Wählen eine stabile Regierung ohne AfD ermöglichen. Als politischer Arm des Radreviers mache ich mich für bessere Radinfrastruktur in Leipzig stark und in der Kreuzberger Kinderstiftung bin ich für Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland aktiv. Auf Facebook habe ich eine unregelmäßige Kolumne, wo ich über die großen und kleinen Fragen des Lebens und der Gesellschaft philosophiere. Dann und wann kommen andere Projekte und Themen dazu und andere gehen wieder. Mein Engagement ist also immer nur eine Momentaufnahme. Ich kralle mich selten an Themen fest.
Denn grundlegend interessiert mich die Frage, wie sich eine Gesellschaft und Wirtschaft gestalten lässt, die nicht nur die essenziellen, sondern auch ökologischen und psychologischen Bedürfnisse des Menschen erfüllt. Getreu dem Motto, dass der Mensch ein Einzelgänger ist, der doch nur in der Gruppe überleben kann, glaube ich, dass wir einen entsprechenden gesellschaftlichen Rahmen benötigen, um glücklich werden zu können und ein erfülltes, friedliches Leben zu leben. Die Gestaltung dieses Rahmens und wie er sich durch politische und wirtschaftliche Anstrengungen verwirklichen lässt, gehört zum Kern meines Engagments. Dazu gehören Fahrradwege ebenso wie Bildungschancen und eine gesunde politische Kultur.
wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?
Gut! In Sachsen sowie überall in Deutschland habe ich die Möglichkeit und Freiheit, zu sagen und zu organisieren, was ich für richtig halte. Das ist ein hohes Gut und es ist schön, in einer Gesellschaft zu leben, die grundsätzlich nicht auf Unterdrückung, sondern auf Dialog setzt. Das wäre in Russland, China oder Saudi-Arabien so nicht möglich.
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?
Es gibt da einen schönen Spruch: „Es mag sein, dass Du dich nicht für Politik interessierst, aber Politik wird sich immer für jeden Bereich deines Lebens interessieren.“ – So ist es auch. Die Entscheidung, sich nicht für Politik zu interessieren oder nicht mitzugestalten, bedeutet nur, sich dafür zu entscheiden, sich treiben zu lassen. Unsere Gesellschaft ist immer in Bewegung. Die Frage ist bloß: Will man Teil dieser Bewegung sein oder nicht? Weil ich Ansprüche und Werte habe, ist es mir wichtig Teil der Bewegung zu sein und deshalb gestalte ich aktiv mit.
wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?
Ich bin überzeugt: Diese Themen sind bereits stark im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert. Wir leben immerhin in einer der liberalsten, friedlichsten und schlausten Gesellschaften, die es jemals auf der Erde gab.
Die Frage ist bloß, ob die Menschen neben Beruf, Familie und Privatleben Zeit haben, sich mit unserer komplexen Welt ausreichend auseinanderzusetzen. Ich glaube, daran hapert es noch. Viele Themen überfordern einfach. Weil die Dinge in der Realität anders sind, als sie auf den ersten Blick scheinen und es sehr einfach ist, Menschen in einer Sache, von der sie keinen Dunst haben, zu irritieren. Das geht von genmanipulierten Pflanzen über Windräder hin zu Videoüberwachung und Marktradikalismus.
Deshalb denke ich, dass wir das Repräsentanten-Prinzip unserer repräsentativen Demokratie für die politische Sacharbeit stärken sollten und gleichzeitig für lokale Fragen oder Grundsatzfragen moralischer Natur die direktdemokratischen Elemente ausbauen müssen. Sprich: Wir müssen alles dafür tun, dass „Die da oben“ einen Vor- und Nachnamen bekommen und „Die da unten“, ihre Verantwortung für die Entwicklung der Gesellschaft nicht einfach an andere Stelle abschieben können.
wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?
Wir haben eine Welt geschaffen, in der die absolute Armut, der Hunger, die Kindersterblichkeit, die Tode durch Krieg, drastisch zurückgegangen sind. Unsere westliche Welt ist aus mittelalterlicher Sicht das Paradies. Aber auch dieses Paradies hat seine Tücken. Ist es nachhaltig? Ist es offen für Jeden und Jede? Kann es zu einem globalen Paradies werden? Also: Kann sich der globale Lebensstandart an unseren angleichen, ohne dass wir unsere Ressourcen erschöpfen? Werden die Menschen mit zunehmendem Lebensstandart und abnehmenden Herausforderungen nur noch essen, trinken, arbeiten und sich amüsieren? Oder bleiben sie kreativ und aktiv? Die Antworten auf diese Fragen werden über unsere Zukunft entscheiden.
wbh: Was wünschen Sie sich für ein besseres menschliches Miteinander?
Miteinander bedeutet für mich nicht nur, dass zwei Seiten miteinander reden, sondern auch, dass sich zwei Seiten zuhören. Das fehlt mir zunehmend und das wünsche ich mir.
wbh: Was bedeuten für Sie Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?
Das ist eine große Frage! Ich finde die Bedeutung dieser Begriffe in der Philosophie der Aufklärung.
wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?
Sehr wichtig! Über Kunst und Kultur bilden wir als Menschen überhaupt erst unsere Werte und Moral. Und da heißt Kultur keinesfalls nur Goethe oder Camus, sondern auch Bierzelt und Drachenbootrennen. Alles, was wir Menschen an Traditionen sowie Interpretations- und Ausdrucksweisen für unsere Bedürfnisse und Wünsche geschaffen haben, macht unser Zusammenleben überhaupt erst möglich. Kultur ist der Leim, der uns Menschen zusammenhält.
wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?
Wenn wir die Regierungsbeteiligung der AfD sicher verhindern wollen, sollten wir taktisch wählen. Also Parteien wählen, die nach der Wahl auch eine stabile Regierung abseits der AfD bilden können. Laut Umfragewerten und den Ergebnissen der Europawahl sind das SPD, CDU und Grüne. Sie können nach der Wahl die Kenia-Koalition bilden. Wer eine dieser Parteien wählt, macht so eine stabile Regierung abseits der AfD möglich.
Und das ist wichtig. Denn nach der Wahl geht es um Mehrheiten, nicht um Mitgefühl. Jeder, der sich für eine anständige Welt einsetzt, sollte wählen gehen und sich überlegen, in dieser Situation Parteien zu wählen, die nach der Wahl auch eine Mehrheit bilden. Nur so können wir einen Rechtsruck im Parlament sicher verhindern.
wbh: Was sind Ihres Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?
Wenn ich das wüsste, würde ich alles daransetzen, die Gründe zu beheben, die dazu führen, dass Menschen einer Partei hinterherrennen, die auf Wissenschaft, Sachlichkeit und Anstand pfeift.
wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?
Die AfD ist eine hochgradig ideologische Partei. Und ich glaube, sie würde versuchen ihre Ideologien in jedem dieser Bereiche durchsetzen wollen.
Der Wert von Menschen würde z. B. stärker an ihren Wert für die Gesellschaft gekoppelt werden. Ein Handwerker ist mehr Wert als ein Arbeitsloser oder ein unausgebildeter Migrant. Kunst, Lehre und Kultur wären nicht mehr frei, sondern würden durch einen ideologischen Filter laufen. Ich glaube nicht, dass die AfD zensieren würde, aber sie würde klar in wertvolle und wertlose Kunst oder Lehre unterscheiden. So wie sie das schon jetzt in ihrem Wahlprogramm im Bereich Gender (Geschlechterunterschiede und -gemeinsamkeiten) macht.
Es gäbe wertvolle und wertlose Taditionen. Eine stärkere Einteilung in Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft.
Ich glaube auch, dass das viele Leute gar nicht stören würde. Solange man selbst zur Mehrheitsgesellschaft gehört und die Erwartungen erfüllt, die an einen gestellt werden, ist das Leben unter Parteien wie der AfD angenehm. Die Frage ist: Was sind das für Erwartungen? Wollen wir in so einer Gesellschaft leben? Kann eine so gleichgemacherische Gesellschaft kreativ und lebendig sein?
wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?
Indem man hingeht, nachfragt, was sie brauchen, eigene Ideen mitbringt und sich einsetzt. Wer keine Zeit hat, aber etwas Spenden kann, sollte überlegen zu spenden.
wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?
Man muss den Leuten immer wieder sagen, dass dieses Land IHR Land ist. Und dass aus diesem Land nur etwas werden kann, wenn sie sich dafür einsetzen und interessieren.
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?
Für einen jungen Menschen wie mich ist das eine komische Frage. Aus meiner Altersgruppe fühlt sich kaum noch einer wie ein „Ossi“. München gehört zu mir ebenso wie Dresden. Deshalb fällt es mir schwer, mich in diese Erfahrung hineinzuversetzen.
Was Gerechtigkeits-Fragen nach Rente, die Treuhand, Anerkennung der Berufsabschlüsse usw. angeht, denke ich, dass da nach der Wende viel schief gelaufen ist und man da nachbessern muss, was nicht schon nachgebessert worden ist. Und die Kapitalisten haben den Osten erstmal ganz schön aufgekauft. Mich würde mal interessieren, wie viel der Firmen und Gründstücke im Osten, auch im Besitz von Menschen sind, die hier leben und arbeiten.
Dennoch: Die Wende ist jetzt 30 Jahre her.
Ich frage mich manchmal, ob das nicht genug Zeit war, um sich in diesem neuen System einzurichten. Vielleicht haben viele Leute im Osten einfach gedacht, dass es nach der Wende so weitergeht wie davor, nur eben ohne Stasi und dafür mit BMW und LEVIS statt Trabi und Planwirtschaft.
wbh: Warum haben Ihres Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?
Neben dem allgemeinen Rassismus sehe ich den Hautgrund darin, dass unüberbrückbar scheinende kulturelle Unterschiede zu den MigrantInnen islamischen Glaubens gesehen werden. Dafür gibt es auch stichhaltige Gründe: Ein Großteil der Staaten, in denen der Islam Staatsreligion ist, steht auf dem globalen Demokratie-Index schlecht da. Schwule und Lesben leben dort bei weitem nicht so frei wie bei uns und die Gleichstellung der Frauen ist in vielen dieser Staaten nicht auf dem Stand des Westens. Es gibt eine schwächere bis fehlende Trennung von Staat und Religion, dazu kommen noch unterschiedliche Traditionen und Konzepte von Ehre, Ehe usw.
Der Schluss, dass diese kulturellen Eigenheiten jedoch auf alle Muslime automatisch übertragbar sind, ist aber pauschal und damit falsch.
wbh: Meinen Sie, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?
Diese Kluft gibt es und die Gründe dafür liegen auf beiden Seiten. PoliktikerInnen müssen besser erklären und BürgerInnen sollten mehr Interesse für die Arbeit ihrer RepräsentantInnen aufbringen. Außerdem braucht es ein System, dass beides möglicher und einfacher macht. So lässt sich die Kluft schließen.
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie sehen Sie das?
Ob 70 oder 17, beide Altergruppen sind Teil unserer Gesellschaft. Da pauschal eine Bevölkerungsgruppe zu bevorzugen, halte ich für schwach. Stets muss gefragt werden: Worum geht es? Ist das Anliegen berechtigt? Ist es gut für die Gesellschaft, wenn wir den Bedürfnissen der einzelnen Gruppe entsprechen?
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
Sehr wichtig! Eine Demokratie ist ohne gar nicht lebensfähig.
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
Mit Interesse, Engagement und Sachlichkeit.
wbh: Was verbinden Sie mit: Wir sind mehr!
Ein Konzert in Chemnitz, auf dem ich getanzt habe.
wbh: Was bedeutet für Sie: Wir bleiben hier!
Es bedeutet für mich, nicht aus politischen Gründen aus Sachsen wegzuziehen. Sondern hier zu bleiben, weil meine Zukunft in Sachsen liegt.