INTERVIEW MIT BERND SCHALLENBERG
wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.
Ich bin Bernd Schallenberg, aus Magdeburg. Dort betreibe ich mit Salka Schallenberg einen Lokalsender mit Namen kulturmd. Wie es der Name vermuten lässt: Schwerpunkt Kultur. Das machen wir inzwischen etwa 18 Jahre. Nach dem Studium (Salka, Literaturwissenschaft, ich Musikpädagogik) haben wir das Unternehmen kulturmd.de gegründet.
Nebenher spiele ich etwas Gitarre, hier mal ein Konzert und dort eine Lesung begleiten.
wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?
Soweit möglich und es unser Zeitrahmen hergibt, bringe ich mich gern in die Schule der Kinder ein. Ich engagiere mich für ein tolerantes Miteinander. Dabei trete ich für die Gleichbehandlung von Linkshändern ein. Das ist besonders in der Schule immer noch ein Problem, weil die Lehrkräfte einfach keine Ahnung haben.
Für mich sind Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Respekt wichtige Dinge. Wir leben das mit unserer Familie. Das tragen wir alle nach außen.
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?
Wir wollen alle in Freiheit und Frieden leben. Dafür muss jeder etwas tun. Und jeder kann etwas tun. Kleine Schritte sind möglich. Freundlich grüßen oder unaufgefordert helfen, wenn es nötig wird zum Beispiel. In Gesprächen sollte man dem anderen zu hören und vor allem ihn ausreden lassen. Jeder ist Teil dieser Gesellschaft.
Weniger soziale Medien, mehr echte Kommunikation.
Für uns Digital-Migrants ist das immer noch etwas einfacher als für die Digital-Natives.
wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?
Über den Sender transportieren wir immer wieder Einladungen der Stadtverwaltung zum Bürgerdialog. Da ist man hier sehr rege. Wir empfehlen Bücher zum Thema, transportieren Ausstellungen der Landeszentrale für politische Bildung. Darüber hinaus besuchen wir regelmäßig die Moschee in Magdeburg und reden mit den Leuten. Auch die jüdischen Gemeinden finden bei uns Platz. Für uns als „gelernte DDR-Bürger“, die in einem religionsfeindlichen Umfeld aufgewachsen sind, ist Kirche ein Thema. Ebenso wichtig, die CSD-Bewegung, hier kann man hervorragend Toleranz lernen und üben. Wenn man diese bunte schrille Welt für sich akzeptiert, ist vieles deutlich einfacher.
wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?
Zu unserem Erbe zählt auf jeden Fall mindestens 1.000 Jahre europäische Geschichte. Deshalb 1.000 Jahre, weil z. B. Magdeburg mit dem ersten Römischen Kaiser deutscher Nation, Kaiser Otto der Große, unmittelbar verbunden ist. Daran geknüpft der Sachsenspiegel und das Magdeburger Recht an, welche bis heute die Rechtssprechung in Europa bestimmen.
Zum Erbe in Magdeburg gehören die zwei großen Zerstörungen der Stadt: 1631 (Magdeburgisieren) und 1945.
Die Revolutionen von 1919 und 1989, die zwingend zusammen betrachtet werden müssen.
Letztlich ist die DDR ein Erbe mit allem, was dazu gehört.
Die schwerste Last werden noch über Generationen hinweg die Folgen des Zweiten Weltkrieges sein.
Es gibt aber auch das familiäre Erbe. Was haben uns die Eltern hinterlassen? Meine Eltern haben zwei Scheidungswaisen hinterlassen.
Desweiteren hat jeder auch so etwas wie ein soziales Gedächtnis geerbt. Dinge, die man zwar nicht selbst erlebt hat, aber eventuell die Großeltern.
wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?
Ich denke, die Menschen sollten wieder mehr zusammenrücken, mehr miteinander reden. In der Hausgemeinschaft kann so etwas leichter gelingen. Im Öffentlichen Raum wären mehr nicht-kommerzielle Räume nötig, nicht nur draußen, einfache Räume nur zum Treffen und zwar über alle Altersschichten hinweg. Da könnte man zum Beispiel die Kulturhausidee aus der DDR wieder ins Spiel bringen.
wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?
Freiheit ist ein sehr hohes Gut. Dafür war ich 1989 Teil der Demonstrationen.
Freiheit bedeutet in erster Linie, seinen eigenen Kopf zum Denken benutzen. Dazu ist Bildung unerlässlich. Daraus leitet sich dann die Fähigkeit ab, eigenständig zu handeln.
Freiheit bedeutet ebenso, sich frei zu äußern, gerade heraus und ehrlich. Das heißt nicht, sich gegenüber anderen zu erhöhen und sich für den Nabel der Welt zuhalten.
Die Menschenwürde zu achten, geht nur, wenn man respektvoll miteinander umgeht.
Dann klappt auch die Gleichberechtigung.
Wir haben in unserem „Mini-Unternehmen“ 50 % Frauenanteil :-). Jeder hat seine Aufgabe und seine Spezialkenntnisse. Jeder greift dem anderen unter die Arme, wenn es sein muss.
wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?
Alles sind zentrale Pfeiler für die Gesellschaft.
Kunst und Kultur sind die Lebensadern einer Gesellschaft. Ohne diese Zutaten gäbe es keine Zivilisation. Bildung ist sehr entscheidend, wenn man eigenständig handeln will.
Medienkompetenz hängt schon immer mit Bildung zusammen. Man muss lesen können, um sich über Bücher und deren Inhalte auszutauschen. Das ist übertragbar auf sämtliche Medien.
Im Zuge der Digitalisierung unseres gesamten Lebens kommt die Medienbildung offenbar nicht hinterher, teils durch das hohe Tempo, teils ist es auch nicht gewollt. Medienkompetenz befördert mündige Bürger.
Der soziale Zusammenhalt ist der Klebstoff der Gesellschaft. Wir leben mit unseren Kindern genau das. Als Scheidungswaise will ich unbedingt vermeiden, dass unsere Kinder ähnliche Erfahrungen machen müssen.
Soziale Gerechtigkeit halte ich für eine funktionierende Gesellschaft für unerlässlich. Ich bin für ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Denn, wenn man genug Geld zum Leben hat, kann man auch deutlich freier entscheiden, was man tun möchte. Der Faktor Neid spielt dann eine unbedeutende Rolle.
Darüber hinaus sollte sich der Staat zum Dienstleister entwickeln und sich aus dem Leben der Bürger weitesgehend heraushalten.
Aber ebenso sind Hilfsangebote sehr wichtig. Jeder kommt einmal in eine Situation, wo er schnell Hilfe braucht.
wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?
Man sollte unbedingt sein eigenes Selbstbild überprüfen, sollte herausfinden, wo seine Probleme liegen und wer sie lösen könnte. Manchmal genügt es, nicht mehr zu jammern.
Jeder Bürger sollte im Vorfeld versuchen, mit den Politkern zu reden. Man darf dabei keine Angst haben. Auch wenn es schwer fällt. Viele hören sogar zu. Und ein großer Teil meint es wirklich ehrlich.
Beschimpfungen oder Ignoranz führen in die falsche Richtung.
wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?
Identitäts- und Heimatverlust. Zukunftsangst.
Das hat viel mit dem Ende der DDR und der Zeit danach zu tun. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft zerstörte auch das soziale Gefüge.
Wenn man damals nicht sofort mit dem Neuaufbau der Region begonnen hat, haben die Menschen heute keine Gegenwart und erst recht keine Zukunft. Hier in Magdeburg ist das recht gut gelungen.
Da müssen wir nun allerdings erst noch lernen, warum die AfD zweistellig in den Stadtrat eingezogen ist.
wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?
Die Mitglieder der AfD und alle in dem Umfeld der Partei sind Feinde der Demokratie. Sie werden größtmöglichen Schaden anrichten, die Gesellschaft spalten. Wir gegen die. Bist Du nicht für uns, dann sind wir gegen Dich. Die Pressefreiheit wird zuerst beseitigt. Dann die Kunst. Die Bildung wird verkümmern. Die sozialen Errungenschaften werden abgeschafft. Übrig bleibt wohl möglich ein dummes, kriegsbereites Volk. (Sorry für die Endzeitstimmung á la Orwell).
wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?
Indem man sich einfach mal damit beschäftigt, zu deren Veranstaltungen geht. Einen Flyer mitnimmt und mit Freunden darüber spricht. Indem man selbst mit anpackt.
wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?
Nichtwähler haben aus meiner Sicht ein sehr geringes Selbstvertrauen. Es ändert sich ja eh nix. Da hilft nur mantra-artige Wiederholung.
Ein Bsp.: Unsere mittlere Tochter (gerade 21) kurz vor der Europawahl: Ich gehe nicht wählen. Hier hat sich in den letzten 20 Jahren sowieso nichts verändert. Kurzes Lächeln im elterlichen Gesicht. Ich habe an das Schülerferienticket erinnert, darauf hingewiesen, dass man inzwischen mit der Straßenbahn überall hinkommt. Obendrein konnte sie ihr Abitur ohne Einschränkungen machen, hat eine gut bezahlte Lehre usw. usw. Noch kurz die Vorzüge vom freien Europa erwähnt, nämlich in Leipzig den Flieger gestiegen und ab nach Edinburgh zum Schulpraktikum geflogen. Zum Glück war es nur eine Laune.
Ihr Freund hingegen ist ein echter Wahlmuffel. Er sieht es zwar grundsätzlich ein, will aber erst sein eigenes Leben auf die Reihe bekommen. Dass dazu Demokratie notwendig ist, hat er noch nicht richtig verstanden.
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?
Man muss bei diesen Menschen das Selbstwertgefühl wieder aufbauen, ihnen zeigen, dass sie ein wichtiger Teil der Gesellschaft sind.
Hier gibt es in Magdeburg zwei gute Beispiele zum Thema Angst vor Fremden. Nach den Himmelfahrtskravallen 1994 hat die Polizei ein Fest der Begegnung installiert. Es findet seitdem jedes Jahr statt. Die Stimmung gegenüber Fremden ist relativ entspannt, obwohl die Probleme nicht weg sind.
Das andere ist die Meile der Demokratie. Dort hat die Zivilgesellschaft gezeigt, wie man sich erfolgreich wehren kann. Mit dem Einzug der AfD in den Landtag hat sich diese Form des Widerstands leider totgelaufen. Aber, es gibt neue Formen, um dem Rechts-Außen-Lager klar zu machen, dass wir sie nicht haben wollen.
wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?
Sie haben einfach Angst. Angst, weil sie noch nie einen „bösen schwarzen Mann“ gesehen haben. Angst, weil ihnen jemand die Geschichte davon eingebläut hat.
Meine erste Begegnung mit einem schwarzen Mann hatte ich als Junge. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon zur Schule ging. Am Ende unsere Straße war ein Arbeiterwohnheim. Dort wohnten Mosambikaner. Einer kam jeden Tag die Straße entlang. Eines Tages bin ich zu ihm hingelaufen und habe ihn die Hand gedrückt, einfach so. Mir hatte niemand irgendetwas erzählt. Außerdem hätte ich mir auch so meine eigene Meinung gebildet.
wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politikerinnen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?
Oft bekommt man tatsächlich den Eindruck. Aber wenn ich mir hier die Landesregierung und die Stadtverwaltung ansehe, dann sind diese beiden Parlamente doch sehr bürgernah.
Der Oberbürgermeister bietet regelmäßig Kindersprechstunden an. Die Landesregierung tut sehr viel zur Prävention. Sie steht unbeirrt hinter dem Verein Miteinander e. V. Dieser kümmert sich seit 20 Jahren um eine bessere Gesellschaft und kämpft aktiv gegen rechts.
Aktuell werden sehr viele Schulen über Stark III saniert. Schulbildung, Hort und Kita haben einen hohen Stellenwert.
Bei der Bundesregierung könnte man eher vermuten, dass sie sich vom Bürger entfernt hat. Da muss man aber fairerweise die Bemühungen um Europa als positives Beispiel benennen (bei allem Für und Wider).
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?
Erstmal, Wut, Hass und Angst sind schlechte Ratgeber. Dennoch muss man genau zu hören, was diese Leute bedrückt. Ich weiß, viele sind sehr beratungsresistent und realitätsfremd.
Die Jugend braucht Perspektive. Eine echte Chance im Leben. Eine Ausbildung, die Möglichkeit, im Ort oder im näheren Umkreis Arbeit zu finden.
Jugendklubs und andere Treffpunkte sind notwendig.
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
Beides hat einen hohen Stellenwert. Wenn jemand Hilfe braucht, dann helfe ich. Geht man ehrlich, respektvoll und aufrichtig miteinander um, kann man sich gegenseitig auch vertrauen. Ohne Zivilcourage geht es nicht.
Die Zivilgesellschaft sind wir alle!
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
Wir müssen darüber reden, immer und immer wieder. Die Menschen brauchen Mut zur Freiheit und Mut zum Mitgestalten. Das Mitreden sollte einfacher gehen. In wirklich zukunftsweisenden Fragen, etwa den Bau einer neuen Elbbrücke, könnte man auch auf einen Volksentscheid setzen.
Die Politiker sollten für Transparenz sorgen. Der Landtag Sachsen-Anhalts bietet z. B. eine lückenlose Dokumentation jeder Parlamentssitzung, jeder Anfrage und jeder Antwort darauf.
Jeder ist aufgefordert, sich davon ein Bild zu machen.
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!
Die Mehrheit will Frieden, Familienglück, Liebesglück, gut bezahlte Arbeit und sichere Rente. Niemand kommt mit gezogener Waffe auf die Welt. Diese Mehrheit hat die Kraft eine laut schreiende Minderheit in Grenzen zu halten. Wir müssen es nur alle gemeinsam wollen.
wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!
Einerseits bin ich heimatfühlig. Meine Stadt, meine Elbe, meine Familie. Wir können auch nicht einfach mal eben weg. 1989 sind auch geblieben, da ist dann die DDR abgehauen.
Andererseits vor Problemen weglaufen, bringt oft wenig.
Außer man muss vor z. B. Assads Bomben oder vor Erdogans Vorstellung von Pressefreiheit fliehen. Die Probleme, die wir hier im Land haben, können auch wir selbst regeln. Es gibt genug Möglichkeiten sich zu beteiligen. Davon bin ich überzeugt.
Foto: Dana Schallenberg