INTERVIEW MIT CHRISTIN MELCHER
wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?
Ich bin Landesvorstandssprecherin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen und aktiv in der Leipziger Zivilgesellschaft. Als Bündnisgrüne steht für mich im Mittelpunkt, viele Menschen in Leipzig und in Sachsen für das Miteinander zu begeistern. Eine freie, vielfältige und gerechte Gesellschaft ist mein Motor. Ob Bündnisse wie „unteilbar“, „Leipzig nimmt Platz“ oder „Druck.Machen!“, Initiativen wie das „Leipziger Brückenfest“ oder die „Leipziger Kita-Initiative“ – ich bin der Überzeugung, dass wir nur miteinander etwas besser machen können. Besonders setze ich mich für gute Bildung von Anfang an ein, ob gute Qualität und gut bezahlte Erzieher*innen, gesundes Essen für alle oder Bildungsbiographien, die nicht durch das Elternhaus oder durch Selektion im Bildungssystem vorgeprägt werden.
wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?
Politik zu machen, ist ein außerordentliches Privileg. Ich finde es wichtig, aktiv mit den Menschen vor Ort die Gegebenheiten besser zu machen, die beste Lösung für Herausforderungen zu finden, aber auch die Komplexität von demokratischen Prozessen und Entscheidungen sichtbar zu machen. Leider gibt es aber auch eine Kehrseite: Allzu oft werden Konzepte, Lösungen oder weltoffene, kreative Ideen einer aktiven Zivilgesellschaft von einer konservativen Landesregierung ausgebremst. Leider steht allzu oft nicht Leipzig oder Sachsen im Fokus der Landesregierung, sondern Parteikalkül und Taktik – das kann auch zermürben.
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?
Politik lebt vom Mitmachen und Mitgestalten. Nur wenn alle Interessen, Meinungen und Expertisen hör- und sichtbar sind, kann die beste Lösung gefunden werden – Lösungen, die auch von der Mehrheit getragen werden. Demokratische Entscheidungsprozesse und Selbstwirksamkeitserfahrungen der Bürger*innen sind wichtig für unser Miteinander, schaffen Akzeptanz und Verständnis, während bloßes Meckern nichts ändert.
wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?
Demokratie muss praktischer werden. Die Jüngsten müssen schon in der Kita oder in der Schule positive Erfahrungen mit Mitbestimmung machen können, sie müssen erleben, dass ihre Stimme etwas wert ist und positive Selbstwirksamkeitserlebnisse erfahren. Die Fridays for Future-Bewegung macht es deutlich: Während die einen es nicht für rechtens halten, sehe ich das als politische Bildung, Beschäftigung mit den Grundwerten unserer Demokratie schlechthin. Die einen wollen verbieten, wir sagen „Macht weiter so und nehmt euch das Recht, politisch hörbar und sichtbar zu sein. Verändern wir gemeinsam diese Welt!“. Gleichzeitig müssen wir aber auch deutlich machen: Wenn Verfassungsfeinde oder Rechtsradikale den Boden unserer Grundwerte missachten, wenn die Grenzen des Sagbaren sich massiv verschieben und daraus Taten, Hass und Gewalt werden, müssen wir alle gemeinsam Grenzen aufzeigen und widersprechen.
wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?
Ich möchte, dass wir uns als Menschen sehen. Wenn wieder über „Flüchtlingsstrom“ oder „Asylanten“ gesprochen wird, zeigt sich schon eine Entmenschlichung, gleiches gilt für „Hartzer“, aber auch über „die Politiker“. Wir sind alles Menschen, wir lieben, wir essen, wir trauern, wir lachen und weinen. Ich wünsche mir, dass wir dies in unserer Sprache und in unserem Tun bedenken.
wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?
Sagt was. Schweigen wir nicht bei der Familienfeier, wenn der Onkel wieder rassistische Parolen raushaut. Sagen wir was, wenn der Kollege wieder den Mitarbeiter mit Migrationsgeschichte schikaniert. Der Kampf für unsere Grundwerte beginnt genau dort.
wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?
Es würde noch rauer, noch polarisierender werden. Schon jetzt gehen Risse durch Familien, durch Generationen, durch Dörfer und Gemeinden, durch Sportvereine und Kollegien. Doch nicht nur das Erstarken der AfD würde dies verschärfen, sondern auch eine mögliche Regierungsbeteiligung von diesen Verfassungsfeinden. Ich möchte mir nicht ausmalen, was das für unsere Bildungslandschaft bedeuten würde, für den Klima- und Umweltschutz oder für die Gleichstellung.
wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?
Wichtig ist vor allem eine langfristige Sicherstellung der Gelder und Fördermittel. Viele Initiativen müssen wieder und wieder jedes Jahr um die notwendigen Gelder bangen. Das hat zur Folge, dass es wenig Planungssicherheit gibt, befristete Arbeitsverträge und gute Projekte, die einfach auslaufen. Demokratie-Projekte brauchen endlich den Stellenwert, den sie verdienen, das beginnt mit einer langfristigen Finanzierung.
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?
Herz auf, Angst raus. Es wird tatsächlich bei der Landtagswahl, darum gehen, ob es gelingt, dass die Neugierigen, die Weltoffenen, Kreativen und jene, die auf etwas Besseres hoffen, ihre Version für ein anderes Sachsen in den Vordergrund stellen können. Zuversicht und der Wille gemeinsam Sachsen besser zu machen, kann eine Kraft sein, die Angst beseitigt.
wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?
Weil es leider sehr viele Rassist*innen gibt, um das auch mal klar und deutlich zu sagen. Und rassistische Einstellungen und solch Gedankengut wurde viel zu viele Jahre in Sachsen verharmlost.
wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?
Politik bedeutet den Bürger*innen ein Angebot zu machen. Die Menge an Bürgeranfragen, Wahlprüfsteinen oder Einladungen zu Diskussionen zeigen deutlich, dass sich Menschen für Politik interessieren. Politik ist nicht einseitig, sondern geht in zwei Richtungen: Wir machen Angebote, Bürgersprechstunden, Diskussionsveranstaltungen, sind erreichbar auf unterschiedlichen Kanälen – das kann jede*r nutzen, muss es aber auch wollen. Gleichzeitig müssen wir aber Politik weiterhin erfahrbar machen, komplexe politische Entscheidungsprozesse erklären, Disput aushalten und uns verständlich ausdrücken.
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?
Wir kämpfen für eine Welt, in der auch meine Kinder und Enkelkinder noch leben können. Nichtsdestotrotz ist das aber weniger eine Frage der Generationen, als eine Frage des Selbstverständnisses, wie ich an politische Entscheidungsträger herantrete. Es macht eben einen Unterschied, ob ich nur meckere oder konkrete Lösungsansätze habe.
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
Eine aktive Zivilgesellschaft und Zivilcourage ist das Rückgrat unserer Demokratie und das notwendige Korrektiv für politisches parlamentarisches Handeln.
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
Die Demokratie stärken wir durch weitere Beteiligungsinstrumente, eine bessere Vermittlung von demokratischen Entscheidungsprozessen, Ehrlichkeit und Transparenz. Wir müssen auch Benachteiligte besser einbinden und ihnen den Zugang zu politischen und demokratischen Entscheidungsstrukturen erleichtern. Altersgerecht vermittelte politische Bildung ist ein Schlüssel, das alltägliche Erleben von demokratischen Entscheidungen, die Vermittlung unserer Grundwerte und die klare Abgrenzung zu jenen, die diese Basis verlassen, sind wichtige Bausteine für den Erhalt unserer Demokratie.
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!
Ich war in Chemnitz. Die vielen Menschen, ob jung, ob alt, die ein Zeichen gegen Menschenfeindlichkeit gesetzt haben – dass sowas in Sachsen möglich ist, hat mich in meiner Haltung und in meinem Engagement gestärkt und empowert. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mehrheit der Menschen in Sachsen demokratisch, weltoffen und tolerant ist und hoffe, dass solche Ereignisse Menschen ermutigen, ihre Haltung auch kund zu tun.
wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!
Es ist eine Ansage und eine Einladung an alle Neugierigen, Weltoffenen – für diejenigen, die etwas besser machen und dieses Land gemeinsam verändern wollen.