INTERVIEW MIT DIRK ROTZSCH

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Geboren in Sachsen, als ein Teil noch Bezirk Leipzig hieß (neben Karl-Marx-Stadt und Dresden), konkret in der Stadt Leipzig, dann lange in der sächsischen Provinz gewohnt, im richtigen Leben Koch, jetzt Küchenleiter – nebenher in Bands gespielt (Ration V, Lament, Raum41), Autor für Zeitschriften, Portale, Anthologien und in eigener Sache (Novelle „Michel“, Co-Autor „Liebe mit Laufmaschen“).

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Aktiv bin ich in unserer Stadt Halle in der AG Sozialpolitik in einer überregionalen Sammlungsbewegung 

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Da ich ja schon seit einiger Zeit Neu-Hallenser mit sächsischem Migrationshintergrund bin (Hallenser behaupten, wenn sie mich sprechen hören, dass es ein Migrationsvordergrund sei), kann ich nur aus meiner Zeit sprechen, als ich in einer Kommune in Sachsen im Umweltausschuss war, da war es immer sachlich und ergebnisorientiert. Ich könnte dir heute nicht einmal mehr sagen, wer da in welcher Partei war. Aber die Quintessenz wird überall die gleiche sein: Wenn es allen wirklich um Ergebnisse geht und keiner Diener zweier Herren ist, wird es funktionieren.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Wer nicht mitgestaltet, der wird gestaltet und selten so wie mensch es sich für sich wünscht. Da die parlamentarische „Demokratie“ sehr anfällig durch Manipulation von Lobbyisten ist, ist es wichtig, dass die Mehrheit sehr deutlich macht, was sie nicht will, sonst schlagen die Politikdarsteller über die Stränge.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Zum Beispiel, indem mensch kritische und unabhängige Medien stärkt, denn Möchtegern-Autokraten – wie kürzlich noch in Österreich – versuchen, zuerst die Medien gleichzuschalten. Profis wie Erdogan und Putin haben genau das geschafft, sonst gebe es die nicht mehr.
Dabei möchte ich ganz klar sagen, dass ich nicht denke, dass die deutsche Medienlandschaft diesen Ansprüchen genügt.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Erbe … ein Erbe kann man ausschlagen: in Hinblick auf einige Zeiträume würde man es gern, denn es war eben kein Vogelschiss in der Geschichte, was da passiert ist. Mein Verhältnis zu unserer Geschichte ist ein ambivalentes – aber seine Herkunft zu leugnen, ist Quatsch, und es gibt immer lichte Momente in unserer Geschichte, bei der sich die Welt die Augen rieb … Und dann reißen wir alles wieder mit dem Arsch ein, wie ein verhaltensauffälliges Kind, das mit zu viel Lob nicht klar kommt (z. B. Flüchtlingskrise 2015).

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Vom Mainstream wünsche ich mir diese „Nach mir die Sintflut“- Mentalität aufzugeben und endlich dem Wachstumswahn und der Umweltzerstörung abzuschwören. Ansonsten wünsche ich mir Empathie, Gelassenheit und Respekt. 

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Ein hehres Ziel am Horizont, analog zu den 10 Geboten der Christenheit – aber da stehen wir noch ziemlich am Anfang eines langen Weges.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Ich vermisse in der Aufzählung familiäre Erziehung: mensch sollte nicht die Erziehung delegieren, und soziale Kompetenz lernt man zuerst zu Hause, und oftmals spiegeln Kinder mit ihrem Verhalten, was in den Familien los ist. Ansonsten sind das natürlich wichtige Katalysatoren, um aus Kindern keine emotionalen und intellektuellen Kretins werden zu lassen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürgerin aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Ganz einfach: Arsch hoch, wählen gehen und vielleicht sich mal die Arbeit machen, die Wahlprogramme zu lesen. Ein Fünftel der sächsischen Bevölkerung scheint es letzthin nicht gemacht zu haben oder sie sind wissenschaftsverweigernde Menschenhasser, die irgendwo im 20 Jahrhundert hängen geblieben sind. Es ist paradox, sich patriotisch zu nennen und Technologien zu verteidigen, die ihr schönes Deutschland zerstören und nebenbei die ganze Welt – aber vielleicht haben sie ja noch eine zweite Welt in der Hinterhand (die Rückseite des Mondes vielleicht) oder zumindest ein Land … ein Gauland.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Sorry, es fällt mir nach zu vielen Jahren AfD schwer, irgendwelche milden Erklärungen zu finden, es ist schlicht Dummheit. Zur Klientel der AfD dürfte nach Wahlprogramm ein Unternehmer zählen, der viele Grundstücke und Mietwohnungen besitzt und Verbrennungsmotoren baut und ein Kohlekraftwerk sein eigen nennt, gerne Arbeitgeberleistungen spart, Arbeitnehmerrechte abschaffen möchte – neben der gesetzlichen Rente und Krankenversicherung – da müssten sich doch viele Ostdeutsche angesprochen fühlen (Ironie aus). Dazu kommt noch rassistische Folklore, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit und Frauenfeindlichkeit – ist doch ein zukunftsweisender Mix (so jetzt aber wirklich den Ironie-Knopf aus). 

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Nun, die ständigen Angriffe auf die Kulturszene, die, sobald sie sich politisch engagiert, als extremistisch diffamiert wird, die GEZ abschaffen – das lässt nichts Gutes erwarten und ein Blick nach Ungarn und Polen zeigt, wo die Reise bei Kultur und Medien hingeht und in Österreich hatten wir ja schon einen Vorgeschmack.
Es ist auch völlig absurd, eine frühe Sexualerziehung bei Kindern zu verhindern, weil es die Kinder zu früh mit Sexualität konfrontiert. Das Tabu macht doch den Missbrauch erst möglich – ich denke, hier muss ich kein Beispiel aus der jüngeren Geschichte einer Religionsgemeinschaft nennen, zumal die Digitalisierung schon für genug Schieflage sorgt bei den Kids – Stichwort Pornographie. Das Kriminalisieren von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften – das war schon vor 35 Jahren peinlich und ich hätte nie gedacht, dass das ernsthaft noch diskutiert wird. Erschreckend finde ich auch die Haltung zu behinderten Menschen und Inklusion. Als von einem AfD-Abgeordneten eine Anfrage im Bundestag gestellt wurde, ob es einen Zusammenhang zwischen Inzucht und Behinderung gäbe, schaute ich zweimal hin, ob nicht statt des Bundesadlers schon wieder das Hakenkreuz hängt. Ein absoluter Skandal, aber die Entrüstung hielt sich in Grenzen. Mit Inklusion können die auch nichts anfangen, dabei sind es ihre Wähler, und das meine ich nicht zynisch, die nah am Rollator und Rollstuhl sind. Und wenn Teile der AfD allen Ernstes die Windkrafträder für den Klimawandel verantwortlich machen, klingt das schon sehr nach Aluhut.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Aufhören, die schweigende Mehrheit zu bleiben und sich nicht darauf verlassen, dass der Andere sich schon engagiert – so wie eine Impfung, die nur funktioniert, wenn sich 95 % impfen lassen. 

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Man könnte sie alle auf Exkursion nach Nordkorea schicken … nein im Ernst. Ein anderes Beispiel: meine Schwester lebt seit ein paar Jahren in den USA, darf aber (noch) nicht wählen. Sie lebt in einem fortschrittlichen Bundesstaat mit jeder Menge verbindlichen Richtlinien für Klimaschutz und dort fährt man schon richtige E-Autos und keine Elektro-Tretroller und dann haben die zum Entsetzen so eine Figur als Präsident, der eigentlich nicht mal wirklich die Mehrheit der Amerikaner hinter sich hat. Hätten da ein paar Desillusionierte ihre Stimme abgegeben, dann wäre es wenigstens eine Frau gewesen.
So schüttelt die ganze Welt (außer Russland) den Kopf über diesen 12jährigen im Körper eines alten Mannes.   

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?
 
Mit Mathematik. Wie kann mensch in einem Landstrich, wie zum Beispiel der Altmark, Angst vor Überfremdung haben – wahrscheinlich ein Ausländeranteil von 1 Prozent. Oder Brandenburg.
Oder wieviele Migranten leben im Vogtland? 
Da lacht der Ruhrpottler oder der Hamburger und schüttelt sein Ayran. Die Angst, in der Wüste zu ertrinken, ist eine eher abstrakte. In Görlitz und der Niederlausitz hat mensch eher Probleme mit EU-Bürgern aus Polen, aber die PIS Partei und die AfD sind ja gute Kumpels, da könnte man es ja auf dem kurzen Dienstweg klären … Die Ängste werden geschürt um abzulenken und es klappt ja immer prima. Der teuerste Wirtschaftsflüchtling ist immer noch der, der sein Liarjet mit der Nase gen Panama geparkt hat. Oder ein fast schon Kalauer: 100 Kekse, der Banker kommt und frisst 99 schnell auf, um hinterher zum Hartz IV-Empfänger zu sagen: „Pass schön auf, das dir der Ausländer nicht den einen Keks wegnimmt“.
Oder: In Europa leben 508 Millionen Menschen, die zicken rum wegen 13.000 Bootsflüchtlingen – selbst eine Million Flüchtlinge sind 0,5 Prozent. 
Den Menschen in Europa in der Unterschicht und teilweise Mittelschicht geht es immer schlechter, das ist Fakt. Aber ein Migrant hat damit nix zu tun. Eher ein Wirtschaftssystem, dass sich überlebt hat.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil man ihn/sie im Osten meist nur aus der BILD kennt und weil man seit Menschengedenken Feindbilder braucht: Jesus hatte die Pharisäer, Luther machte dann gleich weiter mit den Juden insgesamt, den Nazis ist nichts Besseres eingefallen und die neuen Nazis brauchen halt Muslime.
Dabei will ich hier an dieser Stelle ganz klar sagen: jede Religion hat schon ihre Unschuld verloren und sollte absolute Privatsache bleiben. Aber wir fangen ja nicht an, nur weil ein durchgeknallter Christ Menschen erschossen hat, jeden Christen zu kriminalisieren.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politikerinnen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politikerinnen und Bürger*innen?

Parteien und ihre Mitglieder sind eine Minderheit! In Deutschland leben 82 Millionen Menschen, wenn es hochkommt sind eine Million Menschen in einer Partei organisiert – wir brauchen neue, wirklich demokratische Modelle. Als sich die Demokratie entwickelte, gab es da Parteien?

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Die Jugend artikuliert gerade Dinge, die für uns alle von Belang und essenziell sind. Die AfD hat eher dafür gesorgt, dass sie so lange unterm Deckel blieben, weil die Gazetten lieber skandalisieren als analysieren. Was sie ihren Lesern nicht mehr zutrauen, haben die Kids schon mal gemacht: haben mal Analysen gelesen, sich mit Wissenschaft beschäftigt, aber es gibt in allen Generationen kluge Köpfe, es sind halt nur nicht die Lautesten. Und jeder konnte es schon seit Jahrzehnten wissen: Klimawandel, Klimakatastrophe, Klimaflüchtlinge … aber es ist kommoder, den Kopf in den Sand zu stecken, vorzugsweise in den Pauschalreisestrandsand. Die AfD macht es heute nicht anders: leugnen, was sie nicht in der Lage sind zu ändern.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Die Zivilgesellschaft ist das Gegenteil von Barbarei – der ethische „aufrechte Gang“, aber die Zivilgesellschaft gibt es nicht zum Null-Tarif und die Währung ist Zivilcourage.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Sie erst einmal schätzen. Angeblich sind dafür vor 30 Jahren die Menschen im Osten auf die Straße gegangen. Heute findet man es wieder geil, Mauern zu bauen. Mensch exhibitioniert sich im Netz, dass Mielke nicht nur feuchte Augen bekommen würde. Wir betrauern Mauertote und im Angesicht ertrinkender Bootsflüchtlinge geifern wir: „Absaufen, Absaufen!“

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Kein Ruhekissen – siehe USA oder 1933 in Deutschland: Da haben der NSDAP auch 32 Prozent  gereicht, um die ganze Welt ins Elend zu stürzen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Was wäre die Alternative, die nächste Mauer steht in Griechenland oder auf Ceuta. 

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