INTERVIEW MIT DR. GESINE MÄRTENS
wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.
Ich lebe und arbeite seit 22 Jahren im Leipziger Süden, hier sind meine Töchter aufgewachsen, hier wohne ich, hier bin ich am stärksten mit der Stadt verbunden. Hier arbeite ich im Beratungszentrum für Frauen mit Menschen, die Gewalt in ihrem sozialen Nahraum erlebt haben.
wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?
Ich bin Frauen*politikerin und ich bin GRÜNE und mische gern überall mit, wo diese Themen gut zusamenpassen. Seit 2014 auch im Leipziger Stadtrat. Leipzig soll eine Stadt sein, in der Frauen* und Männer* jeder Herkunft gleichberechtigt miteinander leben. Wir brauchen eine Stadt, die in Kategorien der Gleichstellung denkt, spricht, plant, baut und wirtschaftet und auch feiert. Wir brauchen stereotypenfreie Rollenvorbilder für Frauen, Männer und andere und keine sexistische Werbung.
wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?
Ich habe das Gefühl, unsere Verantwortung wächst von Tag zu Tag. Es wird auf uns ankommen, die Spaltung unserer Gesellschaft zu verhindern. Es wird auf uns ankommen, Hass und Gewalt keinen Raum zu bieten. Und es wird auf uns ankommen unsere Freiheit zu verteidigen. Das ist ganz schön heftig und meistens macht es Spaß. Die 100ste Gegendemo gegen eine handvoll Rechte macht keinen Spaß, aber muss ja …
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?
Ganz einfach: Wenn wir nicht zulassen wollen, dass andere über unser Leben in diesem Land und auf der ganzen Welt bestimmen, dann müssen wir es selbst tun. Wir müssen bei dieser Selbstorganisation unserer Gesellschaft mitwirken: also Politik machen. Wer sollte es denn sonst tun?
Welche Plattform Du nutzt, ist egal. Parlamentarisch, außerparlamentarisch, in Parteien, Vereinen, Netzwerken, mit Deiner Kunst oder Deiner Wissenschaft.
wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?
Indem wir eine Gesellschaft schaffen, in der demokratische Beteiligung bis hin zur Selbstverwaltung auf allen Ebenen funktioniert. Sonst kannst Du Dir den Mund fusselig reden …
wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?
Demokrativersagen, Demokratie
wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?
Akzeptanz statt Toleranz … und freie Liebe, da bin ich altmodisch.
wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?
Fast alles, und ich habe echt keine Lust mehr, über die Gültigkeit von Menschenrechten zu diskutieren. Es macht mich unfassbar wütend, dass die Menschheit sich hier im Schneckentempo bewegt.
wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?
Kunst und Kultur sind der eigentliche Mehrwert unserer Gesellschaft. Wofür leben wir sonst? Alles andere ist wichtig und unabdingbar in unserer unperfekten Welt. Zum Glück bräuchten wir es nicht. Menschen können auch ohne Bildung glücklich sein, ohne ein Bild, ein Lied, einen schönen Gedanken kaum.
wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?
Eine der wirklich demokratischen Parteien wählen und alle Freunde und Nachbarn mit zur Wahl nehmen. Für alle, die das hier lesen, heißt es wohl vor allem: Oma und Opa und Tante Friedel überzeugen. Das wär schon was.
wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?
Die Einfachmacher haben nicht gewonnen, wir sind zusammen mehr.
wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?
Wir werden unsere Debatten ernster führen, klarer Handeln und kleinliche Gräben zuschütten. Dann haben die Einfachmacher keine Chance.
wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?
Hingehen, Mitmachen, Spenden, Hingehen, Mitmachen, Spenden, Hingehen, Mitmachen, Spenden, Hingehen, Mitmachen, Spenden, Hingehen, Mitmachen, Spenden, Hingehen, Mitmachen, Spenden, Hingehen, Mitmachen, Spenden, Hingehen, Mitmachen, Spenden.
wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?
Eine bessere Politik machen. Ansonsten gilt: Wir sind auch frei in unserer Entscheidung, ob wir wählen oder nicht.
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?
Rechtspopulismus ist keine Folgeerscheinung der Wiedervereinigung, sondern eine Begleiterscheinung des Neoliberalismus. Wir brauchen eine gerechtere Weltgesellschaft. Gleiche Löhne und gleiche Renten in Ost und West wären aber trotzdem ein guter Anfang.
wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?
Niemand hat Angst vor seinen muslimischen Mitarbeiter*innen oder dem dunkelhäutigen Fußballprofi. Aber wir lassen uns schnell Angst vor Phantomen einreden, vor dem Ungreifbaren, Unbegreiflichen.
wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?
Was heißt hier fühlen? Ein Großteil der Bevölkerung hat tatsächlich heute keine politischen Repräsentanten mehr in unserem System.
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?
Wir sollen auf die wirklichen Bedürfnisse eines jeden Menschen eingehen.
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
Kann eine Generälin eigentlich auch Zivicourage habe? Es sind große Schlagworte für eigentlich einfache Dinge: freies Handeln und das freie Wort.
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
Indem wir sie leben und jede*n anstecken.
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!
Das gute Gefühl, mit meine Wünschen und Ansichten nicht allein zu sein.
Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!
Da es kein richtiges Leben im falschen gibt, den unabänderlichen Zwang, diese Gesellschaft zu verändern.