INTERVIEW MIT HOLGER MANN

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ja, ich gebe da gern Einblicke und bitte nur um Verständnis, dass ich meine Familie vor zu viel Öffentlichkeit schütze.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Aktiv bin in als Vorsitzender der Sozialdemokrat*innen in Leipzig und derzeitig auch als Mitglied der SPD-Landtagsfraktion in Sachsen. Ich engagiere mich in mehreren Bildungs- und Bürgervereinen. Ersteres, weil ich davon überzeugt bin, dass Bildung ein Menschenrecht ist und diese für Chancengerechtigkeit unverzichtbar ist. In den Bürgervereinen Gohlis und Möckern-Wahren arbeite ich mit Menschen zusammen, die ihre Umgebung gemeinsam gestalten wollen und den Dialog suchen. Beides braucht es, damit der Leipziger Norden noch lebenswerter wird.
Weniger aktiv, aber aus tiefer Überzeugung unterstütze ich mit Mitgliedschaft und Beiträgen seit mehr als 20 Jahren u. a. die Gewerkschaft ver.di oder den Bund für Umwelt und Naturschutz.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Das kommt auf den Tag an und die Thematik. Nicht immer erreicht man so viel wie in den letzten vier Jahren bei Lehrer*innen, KiTas, Schulhausbau, Forschung oder Digitalem. Immer mehr Menschen haben eine latente Lust auf Anarchie und Schwarzmalerei. Ich habe aber gelernt, dass man mit der richtigen Mischung aus Entschlossenheit, Engagement und Kompromissbereitschaft viel bewegen kann, auch wenn man keine 50% hinter sich hat. Das gibt Kraft für mehr.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Zunächst geht unser Gemeinwesen alle an und nur so kann jede*r mitgestalten. Ich höre öfter: Das entscheiden doch eh „die da oben“. Ich sage dann immer: Nur wenn ihr sie entscheiden lasst. Meist gehen genau die Menschen nicht zur Wahl, die Unterstützung des Staates am Nötigsten hätten. Dabei kann in unserer Republik jede*r über 18 wählen und gewählt werden oder auf andere Art und Weise selbst politisch aktiv werden.
Ich selbst habe mehrfach – auch schon vor dem Mandat – die Erfahrung gemacht, dass man als Einzelner Diskussionen anstoßen oder Mitstreiter*innen für neue Ideen begeistern kann.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Dialog und Debatte, Transparenz und Verlässlichkeit sind hier die Begriffe, die mir zuerst einfallen. Zudem ist die praktische Erfahrung bei einer Entscheidung mitgewirkt, einen Kompromiss vermittelt oder ein Verwaltungshandeln verändert zu haben, unersetzlich. Demokratie muss man erleben und gestalten können, nur so werden wir sie stärken.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Puh, sehr viel. In jedem Fall eine vielfältige Kultur und eine große, wenn auch nicht immer stolze Geschichte. Zudem ein Gemeinwesen das Chancen und Möglichkeiten bietet, sich zu verwirklichen, wie es sonst nur einem kleinen Teil der Menschheit auf der Welt möglich ist.

Wie die Zukunft wird, hängt davon ab, wie wir alle unsere Freiheiten nutzen. Ich arbeite dafür, dass wir sie zum Wohle der Gemeinschaft und in fairem Ausgleich einsetzen. Andere streiten für das Recht des Stärkeren. Die Zukunft ist also offen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Das viele wieder lernen, sich gegenseitig zuzuhören und nach gemeinsamen Fortschritten suchen, anstatt sich nur in Selbstgewissheit zu ergehen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Wie schon gesagt, sehr viel. Freiheit ist Verpflichtung und Chance zugleich. Menschenwürde beginnt mit Respekt vor der oder dem Anderen, mit Austausch auf Augenhöhe und hört bei der Durchsetzung von materiellen Rechten, wie dem Recht auf Bildung, Wohnen oder soziale Sicherheit, nicht auf.

Für Gleichberechtigung streiten wir stetig, am stärksten sicher für die zwischen den Geschlechtern und wollen hier zum Beispiel die Parität im Parlament durchsetzen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sehr, deshalb setze ich mich seit langem für Chancengerechtigkeit ein, versuche im entsprechenden Landtagsausschuss Menschen über gute Bildungs- und breite Kulturpolitik zu unterstützen. In Jugendhäusern und -verbänden habe ich selbst ein politisches Bewusstsein entwickelt, die ersten Erfahrungen mit Sub- und Soziokultur gesammelt und die Chance bekommen mich ehrenamtlich einzubringen. Das ist bzw. sollte heute nicht anders sein.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Zunächst am 1. September eine der zahlreichen sozial-orientierten Parteien wählen, gern auch mit anderen diskutieren und dafür werben. Als Kandidat im Leipziger Norden freue ich mich über jede Wahlkampfunterstützung, das dürfte anderen in Parteien nicht anders gehen. Daneben gibt es viele kleine und mit „unteilbar“ auch eine große Initiative, die dafür wirbt. Kurz: Augen auf, Po hoch, in Wahlprogramme lesen oder den Wahl-o-mat nutzen, in jedem Fall die eigene Stimme nutzen!

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Die Entsolidarisierung der Gesellschaft, das Werben um die Wähler*innen der NPD und DVU, der Wunsch vieler Menschen nach Veränderung, ohne zu reflektieren, was die AfD in Regierungsverantwortung für ihr Leben selbst bedeuten würde. Zu guter Letzt auch, dass die Demokratie noch zu wenig Unterstützung hat. Damit meine ich die noch kurze Erfahrung mit Parlamentarismus, die vergleichsweise schwachen Parteien, aber auch gesellschaftspolitisch tätige Vereine und Verbände.
Zu guter Letzt natürlich auch viele gefühlte und objektive Ungerechtigkeiten, für welche die AfD geschickt Sündenböcke aufbaut.
Meiner Meinung nach auch, dass zu viel über die AfD geredet und berichtet wird. Das steht in keinem Verhältnis zu ihrer Problemlösungskompetenz und ihrem teilweise erschreckend schwachem Personalangebot.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Für die Gesellschaft eine weitere Spaltung, für „die Politik“ – oder besser: die Parteien in – noch größere Schwierigkeiten, akzeptable Kompromisse zu vermitteln. Für die Kunst und Kultur, übrigens auch die Religionen und Medien, drohende Einschränkungen ihrer Freiheiten und Kürzung der öffentlichen Finanzierung, nicht zuletzt im sozialen Bereich. Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch befördert die angebliche Alternative neoliberale Politik.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Im Land fördern wir diese Initiativen maßgeblich über das Weltoffene Sachsen, aber auch durch zusätzliche Mittel für die Kulturräume und eine Stärkung der politischen Bildung nicht nur in der Schule. Ich und mit mir viele Sozialdemokrat*innen zeigen Gesicht, wo immer nötig und treten Ausgrenzung und Diskriminierung entgegen.

Zu guter Letzt hat gerade Gleichstellungs- und Integrationsministerin Petra Köpping viel dafür getan, dass Menschen, die für Menschlichkeit eintreten, Unterstützung, Beratung und Anerkennung erfahren.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Reden und werben, aber auch daran erinnern, dass sie Ihre Stimme sonst entwerten. Ich sage immer, wenn du nicht mitbestimmst, dann entscheiden andere für dich. Diese kleine Verantwortung – sich aller paar Jahre zu entscheiden – kann und will ich niemanden abnehmen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Das ist nicht einfach, da Angst ein schlechter Ratgeber ist und häufig zu irrrationalen Entscheidungen führt. Ein Beispiel: Unsicherheit kann durch mehr Solidarität und einen Ausbau der Sicherungssysteme bekämpfen.
Tatsächlich gewinnen gerade aber Neid, Konkurrenzdenken und Ausgrenzung an Zuspruch. Das ist ein sich selbst verstärkender Effekt. Dass Migrant*innen in Deutschland seit Jahrzehnten zur Stabilisierung der Sozialsysteme beitragen und mehr in die Rente einzahlen, als sie herausbekommen, geht da schnell unter.

Ich habe deshalb die Erfahrung gemacht, dass wir Menschen vor allem im persönlichen Kontakt und am konkreten Problem und seiner Lösung erreichen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Ein Teil ist Urinstinkt des Menschen, den er sich über tausende von Jahren in der Evolution angeeignet hat und der tief im Unterbewusstsein schlummert. Der hält mit der rasanten Veränderung der Welt nicht Schritt. Ein anderer Grund ist die geringe interkulturelle Erfahrung. Auch die DDR war, ob ihres Misstrauens vor fremden Einflüssen, weit weniger international, als ihre Propaganda vorgab, sondern selbst im inneren sehr diskriminierend. Beispiele dafür sind die Separation der Gastarbeiter*innen aber auch der russischen Soldaten.

Was die „neue“ Angst angeht, so fußt sie nur zu kleinem Teil auf eigener Erfahrung und zu einem viel Größeren auf medialer Vermittlung. Gerade hat eine Studie nachgewiesen, dass die AfD gezielt Vorurteile vor Minderheiten schürt, indem sie selektiv Kriminalitätsdelikte nach Herkunft verbreitet. So werden (Vor-)Urteile verstärkt und leider auch häufig die Chance unbelastet Erfahrungen zu sammeln, genommen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja, das ist leider so, aber wiederspricht häufig der Realität. Noch nie in der Geschichte, konnte man gewählten politisch Verantwortlichen so nahekommen und sie so einfach erreichen. An meinem Beispiel: In zwei Büros in Leipzig biete ich den Dialog durch öffentliche Veranstaltungen und monatliche Bürger*innensprechstunden an. Neben Post, Telefon und Email kann man mich in drei sozialen Medien direkt erreichen. Davon machen nur vergleichsweise wenige Menschen Gebrauch. Ich klopfe auch regelmäßig an Haustüren, aber häufig wird dann offenbar: Immer mehr wollen keinen Kontakt, haben ihrerseits kein Interesse oder Vorbehalte. Aber viel mehr Dialogangebote können Politiker*innen kaum machen.

Ab und an höre ich auch: „Für mich macht ihr nichts!“. Das stimmt nicht, aber Politik ist kein Pizzadienst. Wenn die Erwartung ist, dass jeder individuelle Wunsch erfüllt wird, muss das scheitern. Schon die Wünsche der über 90.000 Menschen in meinem Wahlkreis sind teils sehr konträr, ganz zu schweigen davon, dass nicht wenige davon den Gesetzen widersprechen.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Mit Etiketten tue ich mich schwer und schon von meinem Selbstverständnis will ich niemanden ausgrenzen. Richtig ist aber, dass wir Mandatsträger*innen auf Kooperation und Dialog angewiesen sind und jede*r nur begrenzte Ressourcen hat und überlegen muss, wofür man sie einsetzt.
An meinem Kühlschrank hängt der treffende Spruch: Man bekommt die Welt nicht besser gemeckert.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Unverzichtbar. Der Staat ist nur die Summe seiner Teile und es gilt das Diktum von Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Der beste Verfassungsschutz sind deshalb auch Bürger*innen die sich für ihren demokratischen Staat einsetzen und diesen gestalten.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Mach was, warte nicht, bringe dich ein. Die Möglichkeiten sind riesig.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ein Beispiel von gelebter Demokratie, das Werben von Kulturschaffenden für mehr Gemeinsinn auch eine notwendige Bestärkung und Selbstversicherung in unserer durch Digitalisierung zunehmend entpersonalisierten und teilweise auseinanderdriftenden Lebenswelt.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ganz persönlich: Ich will die Geburtsstadt meiner drei Kinder nicht verlassen, noch dass andere Menschen Leipzig oder Sachsen verlassen, weil sie sonst physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt werden.
Dafür lohnt es sich zu kämpfen, jeden Tag.

Foto: Hammermännchen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert