INTERVIEW MIT IRENA RUDOLPH-KOKOT, geb. 1973 in Moskau

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin mit zwei Kulturen und Sprachen aufgewachsen und was viel wichtiger für mein heutiges Engagement ist, auch in zwei Ländern mit ihrer jeweiligen Geschichte. So habe ich erfahren, dass Teile der Familie meiner russischen Mutter sich von ihr wandten, da sie einen Deutschen geheiratet hatte. Meine russische Großmutter erzählte mir, welche Menschen sie alles im Krieg verlor. Auf der anderen Seite erlebte ich wenig echte Aufarbeitung in dem deutschen Teil der Familie und den leider zu oft plakativen Antifaschismus in der DDR. All das hat mich geprägt.
Heute bin ich Personalratsvorsitzende in einem Eigenbetrieb der Stadt Leipzig, von Beruf Verwaltungsfachwirtin und aktive Gewerkschafterin bei ver.di und dem DGB. Außerdem engagiere ich mich in Projekten, Initiativen und Vereinen, die sich gegen Nazis und für eine solidarische Gesellschaft einsetzen, zum Beispiel im Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Für mich ist konsequenter Antifaschismus wichtig. Deswegen engagiere ich mich im Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“. Für mich ist Antifaschismus eine demokratische Selbstverständlichkeit. Politisch schlägt mein Herz für die vielen abhängig Beschäftigten und für Menschen mit Migrationsgeschichte. So bin ich aktive Gewerkschafterin in Gremien von Ver.di und dem DGB. Aber auch in der SPD begleite ich genau die genannten Themen in den Arbeitsgemeinschaften für Arbeitnehmer*innenfragen und Migration und Vielfalt.
Ich möchte eine Gesellschaft, welche die Vielfalt als Bereicherung begreift und in der alle Menschen die gleichen Chancen haben, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen. Ich möchte, dass Menschen überall demokratisch mitbestimmen können, vor allem auch in den Betrieben. Ich möchte, dass die Daseinsfürsorge prinzipiell nicht dem Markt unterworfen werden darf, damit alle Menschen den gleichen und guten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Pflege, Bildung, Wohnen, Verkehr sowie zu Versorgung mit Wasser und Energie haben. Ich möchte mich nicht darum streiten, wie man das gesellschaftliche (Fern-)Ziel nennt, Hauptsache die obigen Ziele werden erreicht.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es ist eine sehr kleinteilige und kräftezehrende Arbeit. Man muss Geduld haben und darf sich nicht entmutigen lassen. Außerdem erfährt man allerlei Anfeindungen, vor allem aus dem politisch rechten Lager. Im Moment treibt mich die Kampagne #umkrempeln, von der ich hoffe, dass auch die letzten Skeptiker in den Parteien von R2G begreifen, dass wir nur gemeinsam die Chance haben, Sachsen progressiv zu gestalten.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Politik ist kein Lieferdienst. Jede*r sollte einen Teil dazu beitragen. Dazu ist es nicht zwingend nötig, in eine Partei zu gehen, aber sich gesellschaftlich zu engagieren schon. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass in einer Parteiendemokratie die direkte Gestaltung natürlich in einer Partei besser umzusetzen ist.
Das Engagement in inhaltlichen Kampagnen, wie zum Beispiel bei Fridays for Future, kann Politik aber auch beeinflussen und dieses Engagement ist enorm wichtig für die Aushandlungsprozesse, wohin unsere Gesellschaft steuern soll.
Ich persönlich ziehe vor allen Menschen den Hut, die sich in ihrer Freizeit für eine positive Entwicklung in unserer Gesellschaft, frei von Egoismen, einsetzen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich bin ein großer Fan davon, dass schon ab der Kita in den Bildungsplan aufzunehmen. Aber nicht nur theoretisch, nein, sondern mit aktiver Mitbestimmung bis ins Berufsleben hinein. Dann wächst es zu einer Selbstverständlichkeit.
Auch die Medien spielen eine sehr wichtige Rolle. Meiner Meinung nach fehlen oft positive Erzählungen. Das muss sich ändern. Es reicht nicht „Tue Gutes und erzähle darüber“, wenn Medien das dann nicht aufgreifen. Das ist bestimmt nicht einfach, aber meiner Meinung nach zwingend notwendig.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Ich würde ja hier schreiben, dass das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte unser Erbe ist. Nur trifft das auf mich nur zur Hälfte zu, da ich die zweite Hälfte der Geschichte aus russischer Sicht sehe. Aber für Deutschland ist es ein Erbe, mit dem wir alle gemeinsam in der Gesellschaft verantwortungsvoll umgehen müssen. Das heißt für mich, dass dieser Teil der Geschichte in den Lehrbüchern und -plänen einen sehr großen Teil einnehmen muss. Auch der Besuch von Gedenkstätten muss viel stärker verankert werden, gerade weil Zeitzeugen immer seltener werden.
Die Zukunft kann und muss sich auf Grundlage der gezogenen Lehren aus dem dunklen Kapitel des Landes gestalten. Das heißt für mich, dass das Nationale nicht im Vordergrund stehen darf, sondern immer die Humanität und die Solidarität.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Es wäre gut, wenn Menschen sich positiv begegnen. Neid und Missgunst sollte es nicht geben. Hilfsbereitschaft, Empathie, solidarisches Denken und Handeln – all das wünsche ich mir.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das alles sind Grundlagen einer solidarischen vielfältigen Gesellschaft, also einer, wie ich sie mir vorstelle. Diese Grundlagen sind leider heute immer noch nicht selbstverständlich und müssen immer wieder erkämpft und verteidigt werden.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

All diese Sachen haben etwas mit Teilhabe an der Gesellschaft zu tun und all diese Faktoren sind notwendig, um mündig an demokratischen Entscheidungsprozessen teilnehmen zu können. Heißt kurz – enorm wichtig.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Sich einbringen in Initiativen wie #unteilbar zum Beispiel. Sich endlich einen Ruck geben und zu Demonstrationen gegen Rechte gehen. Aufmerksamkeit erzeugen für Demokratie und Zivilgesellschaft. Wählen gehen und Freunde und Bekannte dazu animieren. Und vielleicht auch Parteien oder Kandidat*innen im Wahlkampf unterstützen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Es reicht nicht auf die Lebensbrüche durch den Systemwandel zu schauen, denn das trifft alle „neuen“ Bundesländer. Ich denke, dass speziell in Sachsen durch eine entsprechende Bildungspolitik und das Forcieren der „Obrigkeitshörigkeit“ das Ankommen in der bundesdeutschen Demokratie kaum stattgefunden hat. Lange wurden Niedriglöhne begünstigt, Mitbestimmung im Betrieb unterdrückt und den Menschen eingeimpft, dass sie froh sein müssen, überhaupt eine Arbeit zu haben. So wurde eine Stimmung der Verlustangst immer weiter angeheizt. Leider haben sich zu wenige Menschen davon emanzipiert. Deswegen brauchen wir auch so dringend eine neue positive gemeinsame Erzählung mit der Aussicht, dass es nicht schlechter, sondern besser werden kann.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Ich finde es grundfalsch, sich an dieser Partei abzuarbeiten. Lasst uns lieber gemeinsam für das Positive werben! Diese Annahme muss sich nicht zwingend bewahrheiten. Lasst uns Sachsen lieber #umkrempeln!

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Da gibt es verschiedene Wege. Der beste ist einfach mitzumachen. Der einfachste, aber auch sehr notwendige, ist zu spenden. Dazwischen gibt es noch viele Zwischentöne – Hilfe in den sozialen Medien durch Erzeugen von Aufmerksamkeit, der Besuch von Demonstrationen und Veranstaltungen, Unterstützung bei Fördermittelvergaben etc. Ansonsten bleibt noch, zu den Projekten gehen, Interesse zeigen, zuhören und sie bekannt machen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Diese Aufgabe ist auf jeden Fall die von uns allen. In Familie, Betrieb, Freundeskreis immer wieder die Diskussion suchen und das Umfeld auffordern, sich an den Wahlen zu beteiligen. Ehrlicher Weise ist das auch eine Frage von Bildung und von Gewohnheit. Ich finde, dass wir den Fokus auf Gesellschaftswissenschaften in den Schulen in den letzten Jahren akut vernachlässigt haben. Das muss sich ändern. Und das Üben von Mitbestimmung kann auch im Betrieb stattfinden. Lasst uns die Gründung von Betriebsräten endlich fördern und mitbestimmte tarifgebundene Unternehmen zum Soll erheben! Dann klappt es auch bei den politischen Wahlen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Ich finde nicht, dass es zwingende Folge von Verlustängsten ist, dass man fremdenfeindlich wird. Es gibt genug Gegenbeispiele. Und oft sind es Menschen, denen es gut geht, die gegen Menschen mit Migrationsgeschichte hetzen. Sozialneid war und ist nicht zielführend. Vielen muss man das ganz klar sagen.
Mit Menschen, die es im Leben etwas schwerer haben – egal aus welchem Grund –, muss sich die Gesellschaft solidarisch zeigen. Das heißt, dass es aus meiner Sicht Aufgabe des Staates ist, die öffentliche Daseinsfürsorge und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für alle zu sichern und das absolut unabhängig von Herkunft und Alter.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Vieles resultiert aus Unkenntnis. In etlichen Ecken Sachsens gab es lange Zeit kaum Menschen mit Einwanderungsgeschichte, bei denen es sofort sichtbar war. Der größte Teil waren Russlanddeutsche und Kontingentflüchtlinge, welche es nach ihrer Ankunft auch nicht leicht hatten und in der Folge sich abkapselnde Communities bildeten. Ein anderer Teil waren die noch aus DDR Zeiten gebliebenen Menschen aus Vietnam. Auch hier gab es vor allem Anfang der 90er Jahre starke Anfeindungen und auch hier führte dies zur öffentlichen Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft bei gleichzeitiger privater Abschottung in eigenen Communities. Deswegen gab es in vielen Ecken Sachsens kaum private Kontakte zu Menschen mit Einwanderungsgeschichte.
Auch das partielle Versagen des Staates im Jahr 2015 war für eine positive Aufnahme der zu uns geflohenen Menschen nicht hilfreich. Was hilft, sind tagtägliche Begegnungen und das positive Erleben.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Nun, allen, die das ansprechen, sage ich ganz klar, dass es nicht „die Politik“ oder „die Politiker*innen“ gibt und dass jede und jeder sich politisch engagieren sollte, wenn Entscheidungen stören oder man etwas verändern möchte. Es fehlt die stetige Erzählung, dass die Mehrheit der Politiker*innen im Ehrenamt arbeiten. Dass es sogar Landesparlamente in Teilzeit gibt und schließlich, dass „diese Politiker*innen“ alle Menschen wie Du und ich sind.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der Besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ein wichtiger Punkt. Es sind viel zu wenig junge Menschen in fast allen Parteien (wenn man es insgesamt betrachtet) in Mandaten und Ämtern. Das muss sich ändern, denn unsere Jugend ist politisch. Deswegen lasst sie selbst gestalten, denn sie müssen ja mit der heute von uns allen für morgen gestalteten Zukunft leben. Ich denke, dass der ausgewogene Altersmix die besten Entscheidungen für alle hervorbringen kann. Hier ist hoffentlich klar geworden, dass es mir nicht darum geht, dass meine Generation für die Jugend deren Bedürfnisse stillt, sondern, dass die jungen Menschen es selbst in die Hand bekommen zu gestalten.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Für eine Demokratie ist eine aktive Zivilgesellschaft überlebenswichtig. Sie zeigt im positiven Sinne Missstände und Handlungsbedarfe auf, indem sie da einspringt, wo staatliches Handeln entweder an Grenzen stößt oder noch Zeit benötigt, selbst Handlungsoptionen zu entwickeln. Ein gutes Beispiel ist die Seenotrettung. Erst jetzt wird die Diskussion auch auf staatlicher Ebene laut, dass die Staaten selbst handeln müssen.
Wir müssen alle an uns arbeiten und laut werden, wenn wir Missstände entdecken. Ich versuche es im Rahmen meiner Möglichkeiten zu tun.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Sehr viel dazu habe ich schon in die Antworten der vorherigen Fragen gepackt. Politisch möchte ich noch anfügen – eine Partei, die demokratisch gewählt wurde, ist nicht zwangsläufig eine demokratische Partei. Mit diesem Thema müssen wir uns viel stärker auseinandersetzen. Auch damit, was eine Demokratie aushalten muss und was nicht.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ganz klar verbinde ich den Slogan mit den Ereignissen in Chemnitz. Dort hatte ich an dem Tag der zahlreichen Angriffe auf Geflüchtete und Protestierende allerdings nicht den Eindruck, dass der Slogan zutrifft. Ehrlicherweise würde ich das in Sachsen nur für Leipzig unterschreiben. Und es gab gerade aus dem Umland ja auch genau den Einwand, dass dieser an manchen Orten in Sachsen nicht zutrifft. Vielleicht ist es eine Arbeitsaufgabe, zu erreichen, dass der Slogan überall in Sachsen zutreffend ist.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Vor allem weiterkämpfen – für ein solidarisches, gerechtes Miteinander in Vielfalt. Klar haben wir gerade in Sachsen noch viel zu tun, aber Aufgeben gibt es nicht. Macht einfach alle mit beim Sachsen #umkrempeln!

Foto: Martin Neuhof

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert