INTERVIEW MIT MIRA KÖRLIN

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Seit ca. 15 Jahren arbeite ich für die evangelisch-lutherische Kirche in Dresden: Pressearbeit, Broschüren, Internet, Projektmanagement, Beratung. Es ist eine sehr abwechslungsreiche Tätigkeit. Und auch nicht nur einfach ein Job. Ich wollte – seit ich sechzehn bin – für die Kirche arbeiten und etwas dafür tun, die aus meiner Sicht wichtige kirchliche Arbeit öffentlich wahrnehmbarer zu machen. Ich mag es zu texten, zu organisieren, trete gern in Austausch mit anderen Menschen. Das alles wäre nicht möglich ohne meine Familie. Gemeinsam wohnen wir am schönsten Ort, den ich mir vorstellen kann.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Mich überzeugt eine Einsicht Dietrich Bonhoeffers: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. … Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.“ Wo Kirche sich fürs Gemeinwesen einbringt, da möchte ich gern mittun. Zum Glück gibt es da viele Engagierte. Mit ihnen gemeinsam zu schauen, was da in Dresden auf unterschiedlichen Ebenen gehen könnte, macht mir Freude, schon seit vielen Jahren. 
Ansonsten ist es mir wichtig, freundlich auf andere zuzugehen, mir eine Offenheit zu bewahren und nicht von vornherein Schubladen zu bemühen. Meistens findet sich dann ein Draht.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Sich politisch betätigen heißt nicht unbedingt, parteipolitisch aktiv zu sein. Vereinsarbeit, Bürger- oder Stadtteilinitiativen, Engagement in Sport, Kultur oder Kirche – auf viele Weisen kann man etwas tun, um Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Zugleich finde ich es wichtig, sich auch mit Politik und ihren Verantwortungsträgern zu beschäftigen. Ich gehöre zur aussterbenden Spezies derer, die Zeitung lesen. Und bei der Küchenarbeit liebe ich es, ausführliche Sendungen im DLF zu hören, um manches besser zu verstehen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, dass die Evangelische Erwachsenenbildung und vergleichbare Träger viel dafür tun. Aber über diese Wege werden noch zu wenige Menschen erreicht. Die Schule unserer Kinder macht ebenfalls regelmäßige Veranstaltungen zu solchen Themen, darunter Podien mit Politikern. Wenn die Kids davon zu Hause erzählen, folgen auch in den Familien spannende Gespräche, die das Bewusstsein nochmals neu schärfen können.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Ich konzentriere mich auf einen Aspekt von vielen: Neben der „Friedlichen Revolution“ denke ich in diesem Jahr auch an „30 Jahre Ökumenische Versammlung“. Damals trafen sich in Magdeburg und Dresden Christen verschiedener Konfessionen, um einen gemeinsamen Lernweg zu den Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu beschreiten. Dieser Lernweg erhielt bald europäische Dimensionen. Die Themen fanden Eingang in verschiedene staats- und kirchenpolitische Dokumente, u. a. in die Verfassung des Freistaates Sachsen. Sie sind bis heute aktuell und werden noch immer oder wieder neu von ganz unterschiedlichen Initiativen bearbeitet. Dass dies vielfach und auch außerhalb der Kirchen erfolgreich geschieht, ist für mich ein zentraler Schritt für eine gute Zukunft aller.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Einen höflichen, respektvollen Umgang. Entschleunigung. Neben der Kommunikation im Netz mehr persönliche Gespräche. Meine Kinder haben schon in der Grundschule die Goldene Regel kennengelernt, die sich übrigens auch in der Bibel findet. Eigentlich ist das alles gar nicht so schwer, sollte man meinen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Die Freiheit kam m. E. mit der Friedlichen Revolution, obwohl ich schon als Kind vor 1989 kirchliche Räume und Angebote immer als besonders frei – d. h. ohne Zwang, vielseitig, ermutigend – empfunden habe. Die Freiheit, selbstbestimmt zu agieren und sich zu äußern, ist schon so selbstverständlich geworden. Dass dieses freiheitliche Leben hier im Vergleich mit den meisten Regionen der Erde ein Privileg ist, muss ich mir immer mal wieder bewusst machen. Ähnliches gilt vielleicht für die Gleichberechtigung. Ich empfinde meinen Alltag schon als gleichberechtigt. Für die Gesellschaft insgesamt ist aber wohl aber noch ein Stück Weg, bis jeder und jede gleichberechtigt teilhaben, mitgestalten und profitieren kann. Ich glaube aber, indem viel darüber gesprochen wird, eröffnen sich neue Perspektiven. Gleichberechtigung genauso wie die Menschenwürde und das Recht auf Leben lassen sich für mich als Christin wunderbar begründen mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Ich bin so frei, hier einen Satz aus dem Ersten Testament der Bibel zu zitieren: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. (1. Gen 27)

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Die AfD hat sich zum Teil zum Sprachrohr für Befürchtungen mancher Menschen gemacht: Die Angst, dass die Dinge sich verändern, dass man sie nicht in der Hand hat, dass da etwas über uns kommt. Die AfD propagiert, dass alles so bleiben kann bzw. wieder zurückgestellt wird auf – ja, worauf eigentlich? Fünfziger, sechziger Jahre Westdeutschland? Das Lebensgefühl von damals kann nun wirklich kein Modell für Gegenwart und Zukunft sein.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Atmosphärisch hat sich in den vergangenen Jahren bereits vieles verändert: Die Polarisierung und Erosion der Mitte, die verbalen wie tätlichen Angriffe, all die Tabubrüche. Das würde sich verstärken, die Grenzen würden sich weiter verschieben. Vielleicht trägt es auf Dauer aber auch zu einer Entzauberung dieser Partei bei. Zugleich glaube ich: All die Errungenschaften einer freiheitlichen Gesellschaft, die unstrittigen Fortschritte bei Gleichberechtigung und Wahrnehmung von Diversität würden sich die Menschen nicht einfach wegnehmen lassen. Es bliebe eine starke Gegenöffentlichkeit oder mindestens Inseln und Netzwerke, wo anders gedacht und gehandelt wird. Und akut bliebe die Frage, wie Brücken geschlagen werden könnten zwischen den Meinungslagern. Wie entsteht eine gemeinsame Vision, für die sich Menschen milieuunabhängig und auch unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit einsetzen würden?

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Angebote wahrnehmen, zuhören, selbst drüber sprechen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Gemeinsame Themen finden: niedrigschwellig, alltäglich, nachbarschaftlich. Zum Beispiel Gärtnern, Alltags- und Nachbarschaftshilfe, einander freundlich grüßen, einfach in Kontakt bleiben. Gegen die Polarisierung arbeiten.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Ich habe die Angst selbst auch manchmal. Ist doch normal, dass man Unbehagen spürt vor Dingen, die man nicht kennt. Zum Beispiel kulturelle Eigenarten. Aber es gibt auch Einheimische, bei denen ich ein unangenehmes Gefühl habe, denen ich aus dem Weg gehe. Zu verallgemeinern finde ich schwierig. Einzelbegegnungen helfen immer zu differenzieren.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Die Kluft besteht zweifelsohne. Aber in den meisten Fällen ist sie ungerechtfertigt. Bei den heutigen Möglichkeiten hierarchiefreier, digitaler Echtzeitkommunikation muss man noch nicht einmal ins Wahlkreisbüro gehen, um mit Politikern in Kontakt zu treten. In seinem Buch „Regieren“ beschreibt Thomas de Maizierè, dass Regierende (egal, ob Bürgermeister, Minister oder Ministerpräsidenten) tiefe Einblicke in die Gesellschaft gewinnen, weil sie bei ihrer Arbeit die unterschiedlichsten Milieus, Geschäftsfelder und gesellschaftlichen Bereiche kennenlernen. Im ersten Moment war mir das nicht ganz einsichtig, weil solche Termine ja auch perfekt vorbereitet werden und ein Protokoll eingehalten werden muss. Aber beim zweiten Nachdenken konnte ich dem doch zustimmen. Und all diese Gespräche fließen doch auch ein in die Sacharbeit öffentlicher Verwaltungen.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Mit Interesse für andere Menschen und Themen, die über das enge Private hinausgehen – vor Ort im Stadtteil oder Dorf genauso wie bundesweit oder global. Und: Indem wir wählen gehen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ich glaube, es ist ein Ausruf der Selbstvergewisserung. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob er stimmt. Und in gewisser Weise finde ich ihn auch ausgrenzend.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Damit kann ich viel anfangen. Darüber nachzudenken, was es für mich persönlich bedeutet, wenn eine autoritäre Partei in Regierungsverantwortung kommt, liegt in Anbetracht der Entwicklungen weltweit, in Europa und auch in Sachsen irgendwie auf der Hand. Zugleich ist es dann umso wichtiger, sich bewusst zu machen, wo die persönliche Verantwortung liegt: familiär, im Gestalten der Wirklichkeit, im Zusammenwirken mit anderen. Für mich ist das hier.

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