INTERVIEW MIT STEPHAN ZWERENZ

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin freischaffender Journalist, Kurator, Veranstalter, Dramaturg und Schriftsteller. Mit Freunden zusammen betreibe ich den Dresdner Projektraum Hole of Fame. Dort organisiere und konzipiere ich Ausstellungen, Konzerte, Lesungen und andere Veranstaltungen. Nach dem Prinzip der Selbstorganisation stellen wir im Hole of Fame gemeinsam ein spartenübergreifendes Kulturprogramm zusammen – natürlich ehrenamtlich. Das Wichtigste dabei ist vor allem, dass wir Menschen miteinander in Kontakt bringen, die sonst wahrscheinlich nie zueinander gefunden hätten. Wir netzwerken viel und beraten vor allem junge Künstlerinnen und Künstler bei ihrer Arbeit, geben ihnen Raum sich zu entfalten und ihre Kunst zu präsentieren.

wbh: Wofür engagierst du dich und trittst du ein?

In Folge der kontinuierlichen und zermürbenden Pegida-Demonstrationen haben wir im Hole of Fame sehr viel darüber nachgedacht, was man Sinnvolles gegen Hass und Hetze tun kann. Da Pegida von Beginn an den Dialog konsequent verweigert hat, stand man jeden Montag einem wütenden Mob gegenüber und hat sich gefragt: Was machen wir hier eigentlich? Daher haben wir uns relativ schnell dazu entschieden, unsere Zeit sinnvoller zu nutzen und dem Ganzen etwas Konstruktives entgegenzusetzen. Dabei haben wir unter anderem verschiedene Veranstaltungsformate entwickelt, die sich mit dem Thema „Flucht und Migration“ differenziert auseinandersetzen. In der Reihe „Contact Perspectives“ haben wir uns (teilweise in Zusammenarbeit mit Amnesty International) verschiedene Fotograf*innen und Künstler*innen eingeladen, die sich entweder dokumentarisch oder künstlerisch mit dem Thema beschäftigen. Mit ihnen haben wir dann mehrere Themenausstellungen konzipiert, die verschiedene Perspektiven gezeigt und viele Fakten gebündelt haben.

Unsere aktuelle Ausstellungsreihe „Alles Jetzt“ widmet sich zum Beispiel dem Thema „Ideologie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Uns ist es immer wichtig, dass unsere Austellungen auch Inhalte vermitteln und zur Meinungsbildung beitragen. Wir verzichten dabei auf erhobene Zeigefinger. Das finden wir sehr wichtig, weil wir wollen, dass sich unsere Besucher wirklich mit den Themen beschäftigen, ohne dass sie dabei unsere eigene Meinung vorgesetzt bekommen, die sie dann einfach nachsprechen können. Nein, die Leute sollen sich selbst eine Meinung bilden, miteinander ins Gespräch kommen und daran auch ihre eigenen Argumente schärfen.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Die Frage ist schwer zu beantworten. Zum einen ist politische Arbeit immer eine zermürbende und langwierige Angelegenheit. Zum anderen werden zwar bei meiner Arbeit Fragen des Gemeinwesens gestellt und teilweise auch Lösungen vorgeschlagen. Letztlich sehe ich mich aber eher in der Rolle, den Menschen bei ihrer Meinungsbildung beizustehen und ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, damit sie selbst aktiv werden können. So sehe ich mich in meiner Rolle als Journalist, als Künstler und als Veranstalter.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Meiner Auffassung nach ist Politik allgegenwärtig. Man kann sozusagen nicht nicht politisch handeln, auch wenn man sich dem vielleicht nicht bewusst ist. Daher ist es wichtig über Meinungen, Handlungen und Beschlüsse stets informiert zu sein, um sich gegebenenfalls auch einzumischen. Ein gutes Werkzeug ist für mich der ethische Imperativ von Heinz von Foerster: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“ Es geht also darum zu zeigen, dass es auch anders geht, um Probleme und Herausforderungen gemeinsam zu bearbeiten und dafür sinnvolle Lösungsansätze zu finden. Das kann schon in ganz kleinen Kreisen passieren, zum Beispiel, indem man ganz selbstverständlich einem alten Menschen seinen Sitzplatz in der Bahn anbietet oder seine Nachbarn zum gemeinsamen Gartenfest einlädt, ganz gleich welcher Meinung, Religion oder Nationalität sie angehören. Ich bin sogar der Meinung, dass gerade diese kleinen Gesten oftmals mehr zum gesellschaftlichen Miteinander beitragen als große politische Entscheidungen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, sie sind schon sehr stark in der Öffentlichkeit präsent, nur mit den Zugangsweisen hab ich da so meine Probleme. Das fängt schon dabei an, dass zum Beispiel viele Menschen Artikel in den sozialen Medien gar nicht mehr durchlesen, aber ihren Kommentar unter den Beitrag setzen. Wie kann ich bei etwas mitreden, von dem ich überhaupt gar keine Ahnung habe? Aber gerade so wird heutzutage die öffentliche Meinung beeinflusst. Ich finde das erschreckend. Das geht dann aber weiter, wenn zum Beispiel Medien (oftmals aus Zeit- und Kostengründen) undifferenzierte und einseitige Artikel verfassen. Wie will man sich da ernsthaft mit Politik beschäftigen? Zum Glück gibt es da zahlreiche positive Gegenbeispiele, allerdings haben die oftmals eben auch weniger Rezipienten. Es müssen da meiner Meinung nach auch andere Formate geschaffen werden. Eine tolle Initiative ist da zum Beispiel „Kommune im Dialog“, eine volksnahe Veranstaltungsreihe der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe, speziell im Osten, ist unsere Prägung durch zwei Diktaturen, die sich ideologisch diametral gegenüberstehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser besondere Sachverhalt immer noch sehr viele Menschen hier verwirrt, vor allem weil daraus hervorgegangene Traumata nicht ausreichend aufgearbeitet worden sind und der Kapitalismus ein System ist, das auch nicht gerade glücklich macht. In Zukunft sollten wir uns mehr mit der Vergangenheit auseinandersetzen, um uns über unsere Gegenwart bewusst zu werden. Dabei sollten wir endlich mal anfangen, aus der Geschichte zu lernen und die Fehler, die wir begangen haben, nicht wieder tun.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Dialog und mehr öffentliche Räume des Miteinanders. Viele fühlen sich benachteiligt oder nicht ausreichend beachtet. Man sollte ihnen öfters das Gefühl geben, dass sie von der Gesellschaft gebraucht werden und im Dialog auch wirklich auf ihre Bedürfnisse eingehen. Tatsächlich bin ich auch der Meinung, dass die meisten Leute zu viel arbeiten und das auch noch in Jobs, die sie nicht ausfüllen. Das schlägt auf die körperliche und geistige Gesundheit und lässt viele Menschen traurig und verbittert in ihre Fernsehsessel fallen. Oftmals führt das zu Aggressionen, die sie dann nicht selten an anderen Menschen rauslassen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Auch wenn diese Begriffe in vielen Diskussionen oftmals nur zu leeren Worthülsen verkommen, sind sie für mich die wichtigsten Errungenschaften unserer Gesellschaft, die wir mit allen Mitteln verteidigen müssen. Allerdings betrachte ich jeden der Begriff als eine Baustelle. Es gibt noch viel zu tun. Wir dürfen aber vor allem eines nicht tun: Rückschritte machen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Kunst, Kultur usw. braucht jeder Mensch. Jedes totalitäre System hat das begriffen und auf perverse Art verkehrt. Erst durch diese Einflüsse lernen wir, was es heißt Menschen zu sein. Erst dadurch entwickeln wir ein moralisches Wertverständnis, das uns dazu befähigt gesellschaftsfähig zu werden. Vor allem psychische Betreuung ist in vielen Kreisen noch ein Tabu, das wir überwinden sollten. Psychische Probleme hat jeder Mensch. Dessen sollten wir uns bewusst werden, um offen darüber reden zu können.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Ich befürchte schon fast, dass es zum Handeln zu spät ist. Allerdings sollten wir stets den Dialog suchen und dabei aufpassen, dass uns die Argumente nicht ausgehen. Es ist allerdings äußerst schwierig die typischen AfD-Wähler*innen zu erreichen, denn die sind meist relativ alt, wohnen auf dem Land und sind von Armut bedroht. Man sollte also durchaus versuchen, mehr Angebote für diese Zielgruppe auf dem Land zu schaffen und die Infrastruktur durch kulturelle und soziale Initiativen zu stärken. Vor allem muss durch solche Initiativen auch die Jugend erreicht werden. Gerade perspektivlose Menschen sind durch eine extreme Ideologie leicht zu beeinflussen, weil sie ihnen eine Orientierung gibt.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Dafür gibt es viele Gründe. Sicherlich ist eines der Hauptprobleme, dass sich viele Menschen von der Regierung im Stich gelassen fühlen. Ich kenne das vor allem aus meiner Heimat im südlichen Teil Sachsen-Anhalts. Da haben zum Beispiel zahlreiche Bürger*innen seit Jahren die Renovierung von Schulen, Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen gefordert und die Gelder nicht bewilligt bekommen. Als dann die sogenannte „Flüchtlingskrise“ kam, standen aber plötzlich Milliarden zur Verfügung. Dahingehend kann ich den Hass auch irgendwie nachvollziehen, der sich natürlich wieder an den falschen Leuten entlädt. Es müssen eben auch mal Reaktionen „von oben“ kommen. Damit meine ich natürlich die Regierung, die ja bei gesellschaftlichen Fragen tatsächlich auf vielen Ebenen versagt hat. Die politische Linke war hier mal die große Opposition, die SPD war mal eine Arbeiterpartei, die sich für die Probleme der „kleinen Männer und Frauen“ eingesetzt hat. Was ist daraus geworden? Mittlerweile hat man das Gefühl, dass die wichtigen gesellschaftlichen Probleme von Rechtsaußen angesprochen werden. Und das ist das Problem, nämlich die soziale Ungerechtigkeit und nicht die Flüchtlinge. Das haben nur die meisten Parteien noch nicht begriffen, am allerwenigstens aber die AfD und ihre Wähler*innen. Natürlich kommen da aber auch noch Rassismus, Vorurteile, Ressentiments, Fremdenhass und bewusst gestreute Flüchtlingsmythen hinzu. Und vor allem die eingeschränkten Sichtweisen mancher Menschen, die noch nicht begriffen haben, dass zu einer funktionierenden Gesellschaft auch ehrenamtliches Engagement gehört.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Wenn man bedenkt, auf welchem Niveau die AfD allein schon in ihrem Wahlkampf agiert, lässt das darauf schließen, wie herablassend und menschenverachtend sie mit gewissen Bevölkerungsschichten umgehen wird. Mich persönlich lässt der Gedanke innerlich erschaudern, auch weil ich den Großteil der AfD-Politiker für absolut inkompetent halte. Im kulturellen Bereich spürt man bereits jetzt den Druck der AfD, die manchen Kulturinstitutionen bereits offen androht, sie abzuschaffen und ihnen Gelder zu streichen. Das ist beängstigend, vor allem deprimierend, weil sich diese Institutionen seit Jahrzehnten etwas aufgebaut haben, dass die AfD in kürzester Zeit vernichten könnte. Am Schlimmsten finde ich allerdings, dass die AfD in ihrem Wahlprogramm Begriffe benutzt wie „deutsche Kultur“, aber keine Ahnung hat, was das eigentlich bedeutet. Sie scheinen nicht zu wissen, wie Künstler*innen und Kulturschaffende heutzutage arbeiten. Man braucht sich also keine Hoffnung machen, von ihnen finanziell unterstützt zu werden. Ihr Verständnis von Kultur ist ausgesprochen homogen, rückwärtsgewandt und verträgt sich nicht mit der gegenwärtigen Realität. Sie wollen eine Einheitskultur. So lese ich zumindest das Parteiprogramm. Wirklich erschreckend finde ich zudem die Forderung den Rundfunkbeitrag abzuschaffen. Für mich ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk die einzige Möglichkeit, den unabhängigen Qualitätsjournalismus in der deutschen Funk- und Fernsehlandschaft zu bewahren.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Geld spenden, Veranstaltungen besuchen, auf Demos gehen, über sie reden, berichten und für mehr Sichtbarkeit sorgen (was in Zeiten der sozialen Medien jedem möglich ist). Und natürlich selber mitmachen!

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Reden und diskutieren. Man muss ihnen zeigen, dass es etwas bringt, dass ihre Stimme zählt und dass nicht jede Partei gleich ist, auch wenn sich das manchmal so anfühlt. Man muss ihnen vor allem auch vermitteln, dass man sich nicht zu einhundert Prozent mit einer Partei identifizieren muss, um sie als wählbar zu erachten. Aber vor allem muss man ihr Interesse wecken und ihnen zeigen, dass es Leute gibt, die sich dann auch für ihre Interessen einsetzen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Zunächst einmal muss man ihre Ängste ernst nehmen. Sie fühlen sich ja meistens nicht nur so, sondern sind tatsächlich benachteiligt und abgehängt. Und viele werden Zeit ihres Lebens auch aus diesem Zustand nicht mehr herauskommen. Aber vielleicht sollte man ihnen vermitteln, dass das überhaupt nicht schlimm ist. Als Künstler muss man sich ja auch damit arrangieren, dass man zu den Verlierern der Gesellschaft gehört. Man hat aber eben Träume und einen gewissen Lebenssinn gefunden. Den muss zwar jeder für sich selbst entdecken, doch man kann ihnen Möglichkeiten zeigen. Der Mensch braucht Interessen und Hobbys. Viele haben so etwas tatsächlich nicht, daher suchen sie nach destruktiven Sachen, echauffieren sich über ihre Nachbarn, die Ausländer und natürlich „die da oben“, also alle, die gerade nicht da sind. Die wenigen Dinge, die sie haben, sind für sie umso wertvoller, daher ist auch ihre Angst größer, diese zu verlieren. Man kann ihnen aber auch zeigen, dass diese Dinge wertvoller werden, wenn man sie miteinander teilt.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Wir haben alle Angst vor dem Fremden. Das ist ganz natürlich. Ebenso natürlich ist es, dass uns negative Dinge grundsätzlich stärker in Erinnerung bleiben. Was die Muslime betrifft, so glaube ich, dass unser Bild von dieser Religion durch die Medien spätestens seit 9/11 grundsätzlich negativ geprägt wurde. Das waren also 14 Jahre bis zur Flüchtlingskrise, in der die meisten von uns Muslime fast ausschließlich mit Terroristen assoziierten. Dass dann plötzlich eine so ungeheure Zahl von Flüchtlingen muslimischen Glaubens mit einmal kam, kann schon bedrohlich wirken. Allerdings hatten die, die Angst haben, in den seltensten Fällen wirklich Kontakt mit Migrant*innen gehabt. Wenn sie wirklich mal welche kennenlernen würden, dann würden sie sehr schnell merken, dass wir uns alle sehr ähnlich sind, ganz gleich aus welchem Kulturkreis wir stammen oder welcher Religion wir angehören. Das, wovor sie sich fürchten, sind bloß Klischees und Vorurteile.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Das kommt ganz darauf an. Wenn sich der ein oder andere „besorgte Bürger“ mehr mit Politik auseinandersetzen würde, könnte er schon entdecken, dass man sich auch für ihn einsetzt. Allerdings wird das meistens nicht unbedingt so von der Regierung kommuniziert. Viele Politiker scheinen sich eher für die Interessen von Großkonzernen einzusetzen, als für die Belange der „kleinen Männer und Frauen“. Wie abschätzig und herablassend, wie arrogant sich der ein oder andere Politiker gibt, kann schon abstoßend wirken. Allerdings ist das auch so eine Art Berufskrankheit. Um sich etwa im Bundestag durchzusetzen, muss man sich ein dickes Fell zulegen. Da besteht schon eine sehr große Kluft, denke ich, die durch ein fehlendes Miteinander verursacht werden.

Ich glaube, viele Menschen verstehen auch gar nicht, wie politische Arbeit in der Praxis funktioniert oder wie das Subsidiaritätsprinzip strukturiert ist, verwechseln dementsprechend Zuständigkeiten oder sind sich nicht darüber bewusst, dass man vor allem die Lokalpolitiker*innen bei vielen Belangen einfach direkt ansprechen kann. Wenn man Glück hat, findet man da auch sehr fähige Leute, die sich dann sehr ambitioniert für die eigenen Belange einsetzen.

Ich glaube, es wäre schon viel getan, wenn man die Menschen mehr noch für politische Bildung begeistern könnte. Zudem sollten die Altparteien auch wieder mehr an ihrem Profil und an ihrem Image arbeiten. Das ist, glaube ich, auch ein entscheidender Grund, weshalb die AfD und auch die Grünen in der Vergangenheit so viel mehr Zuspruch gewonnen haben. Sie haben eben klarere Konzepte.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich finde, man sollte generell mehr auf die Belange der Bürger*innen eingehen. Jedes Bedürfnis ist es wert, dass man darauf eingeht. Die Jugend hat meistens nicht so viele Mittel zur Verfügung, um Dinge zu verändern. Umso mehr sollte diese Bevölkerungsschicht berücksichtigt werden. Viele Probleme könnten gelöst werden, bevor sie entstehen. Ich persönlich komme ursprünglich aus einer Gegend mit sehr wenigen Angeboten für Jugendliche. Ich empfand das als sehr deprimierend. Kaum einer von meinen Bekannten und Freunden hatte Perspektiven oder Werte, an denen sie sich hätten orientieren können und die sie zu einem eigenständigen und glücklichen Leben befähigt hätten. Die meisten sind abgestürzt und einige sind aus dem Loch, in das sie gefallen sind, nicht mehr herausgekommen.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Das sind für mich Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Ich glaube, dass vor allem viele Leute im Osten die Tragweite des zivilgesellschaftlichen Engagements noch nicht richtig begriffen haben. In der DDR wurde dahingehend viel vom Staat geregelt. Materielle Engpässe musste man dann wiederum durch zwischenmenschlichen Tauschhandel ausbügeln. In unserer heutigen Gesellschaft, in der materielle Engpässe eigentlich nicht mehr existieren, muss kaum noch jemand die Hilfe eines anderen in Anspruch nehmen, was schade ist, denn zusammen etwas aufzubauen, macht eben mehr Spaß. Bei anderen Anliegen, die das kommunale Miteinander betreffen, muss man sich ehrenamtlich organisieren, um etwas verändern zu können. Es gibt dazu auch zahlreiche Fördermöglichkeiten. Man muss den Leuten vor allem diese Möglichkeiten zeigen und sie motivieren selbst tätig zu werden. Vor allem aber sollte man darauf achten, dass sich Zivilcourage nicht zu sehr nach Arbeit anfühlt. Nur so kann man genug Kraft aufwenden, um dauerhaft am Ball zu bleiben.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Ich finde, dass Entscheidungsprozesse transparenter werden sollten. Es sollte für die Bürger*innen einfacher werden, an Entscheidungsprozesses teilzunehmen und sich über Planungen – vor allem im kommunalen Bereich – leichter zu informieren und zwar auf eine übersichtliche und benutzerfreundliche Art und Weise. Ich bin kein Fan der direkten Demokratie. Nicht jeder sollte über alles abstimmen dürfen oder gar müssen. Aber es sollte allen einfacherer gemacht werden, an den Prozessen mitwirken zu können, die sie unmittelbar betreffen und für die sie sich interessieren. Das Internet bietet eigentlich so viele Möglichkeiten dafür. Wir sollten anfangen, diese Möglichkeiten zu erforschen und umzusetzen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ich bin da gespaltener Meinung. Auf der einen Seite musste man den rechtsextremen Krawallen in Chemnitz unbedingt etwas entgegensetzen, um klare Kante zu zeigen. Auf der anderen Seite verursacht so etwas natürlich immer auch Ressentiments bei den Leuten, die man eigentlich erreichen will, während man selbst sein Gewissen beruhigt und sich sagt: Ich war da, also hab ich was gemacht. Was mir dabei aber besonders negativ aufstößt, ist, dass der Sächsische Verfassungsschutz das #Wirsindmehr-Konzert als den Schulterschluss zwischen Linksextremen und Nicht-Extremisten betrachtet. Da tun sich Abgründe für mich auf, die nur schwer zu ertragen sind. Wenn der Inlandsgeheimdienst ein Konzert verurteilt, dass unter anderem von unserem Bundespräsidenten unterstützt wurde, schrillen bei mir alle Alarmglocken. Gerade diese Beurteilung des LfV lässt für mich nur den Schluss zu: Jetzt erst recht!

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich denke dabei, dass man nicht gleich die Flinte ins Korn werfen sollte, wenn man mit den aktuellen Zuständen nicht zufrieden ist. Man rennt ja auch nicht einfach weg, wenn das eigene Haus in Flammen steht, sondern setzt alles daran, das Feuer zu löschen.

Foto: Philipp Baumgarten

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