INTRVIEW MIT CHRISTIAN WOLFF

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.
 
Als im Jahr 1949 geborener Mensch fühle ich mich schon immer als „Kind der Republik“. Allerdings konnte ich erst 1969 die Bundesrepublik (West-)Deutschland als mein Land ansehen, da in dem Jahr Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten und Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt wurden – zwei ausgewiesene Demokraten und Antifaschisten in den Führungsämtern der Republik, in der in allen gesellschaftlichen Bereichen Altnazis Spitzenpositionen besetzten – so, als wäre nichts geschehen. 1969 studierte ich schon ein Jahre Theologie – zunächst in Wuppertal, dann in Heidelberg. Dort war ich in der Studentenbewegung aktiv und 1973/74 Vorsitzender des AStA (Allgemeiner Studentenausschuss). Nach meinen Examina 1974 und 1976 war ich ab 1977 Pfarrer in Mannheim und dann von 1992 bis 2014 Pfarrer an der Thomaskirche in Leipzig. Nie hatte ich einen Zweifel daran, dass der Kirche ein hohes Maß an gesellschaftspolitischer Verantwortung zukommt – gerade weil Staat und Kirche durch die Verfassung klar voneinander getrennt sind.
 
wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Natürlich und schon immer in der Kirche – trotz allem ein unverzichtbarer Ort der Freiheit, des Trostes und der Vergewisserung. Dann gehöre ich seit 1970 der SPD an, war über 40 Jahre Gewerkschaftsmitglied und in vielen Vereinen aktiv. Für mich ist die Glaubensüberzeugung unverhandelbar: Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, mit Recht und Würde gesegnet; jeder Mensch ist gleichzeitig gut und böse; jeder Mensch ist fehlbar und in seinen Möglichkeiten und in seiner Lebenserwartung begrenzt. Betonung liegt immer auf „jeder“. Daraus ergibt sich: Was immer ein Mensch tut, er bleibt ein Mensch. Wenn wir diese Grundsätze verlassen, wird es gefährlich. Darum habe ich alle Predigten, allen Unterricht, alle Gespräche auf diese Grundsätze ausgerichtet – auch mein politisches Engagement. Daraus ergibt sich für mich auch, dass ich immer für eine nicht-militärisch ausgerichtete Friedenspolitik, für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, kulturelle Vielfalt eingetreten bin und die multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft bejahe. In den 80er Jahren war ich in der Friedensbewegung aktiv, habe mich aktiv im Bereich Kirche und Arbeitswelt engagiert, bin immer dem Rechtsradikalismus und Rechtsnationalismus entgegengetreten, weil dieser allen Grundüberzeugungen des Glaubens widerspricht, und halte die Bewahrung der Schöpfung für eine der zentralen Aufgaben.
 
wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es ist durchaus anstrengend, aber auch sehr bereichernd. Wichtig ist, seine innere Unabhängigkeit zu bewahren.
 
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Demokratie lebt von Beteiligung eines jeden Bürgers, einer jeden Bürgerin. Diktatur lebt davon, dass alle die Klappe halten und funktionieren.
 
wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Indem wir sie leben und dort kommunizieren, wo wir leben. Das fängt am Familientisch an und hört beim „Aufruf 2019“ für ein weltoffenes Leipzig, ein demokratisches Sachsen, ein friedliches Deutschland und ein geeintes Europa nicht auf.
 
wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Es ist immer eine wichtige Frage, an welche Traditionen wir anknüpfen. Da haben wir in Kirche und Gesellschaft sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Mich haben schon immer die demokratischen Aufbrüche interessiert – von den 12 Artikeln der Bauern 1525 angefangen bis hin zur bürgerlichen Revolution, dem Frankfurter Paulskirchenparlament, der Revolution 1919, der Weimarer Verfassung, dem Grundgesetz 1949, der Friedlichen Revolution 1989. Leider gibt es in Deutschland eine Vielzahl Bismarck-Denkmäler und Kriegergedächtnis-Stätten – nicht zuletzt in Kirchen. Wo sind die Denkmäler für diejenigen, die sich für die Demokratie eingesetzt haben?
 
wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Gegenseitige Rücksichtnahme; Respekt für diejenigen, die am Rande der Gesellschaft leben, würdiger Umgang mit denen, die bei uns Schutz suchen. Unser Hauptaugenmerk muss auf das eine „verlorene Schaf“ gerichtet sein, während die anderen 99 ganz gut mit sich klar kommen können – es sei denn, sie verplempern ihre Zeit damit, sich darüber aufzuregen, dass dem einen Schaf geholfen wird (vgl. das Gleichnis vom verlorenen Schaf, das Jesus erzählt – überliefert in der Bibel, Lukas 15)
 
wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Ich kann mir nicht vorstellen, in einem Land zu leben, in dem dies nicht gewährleistet ist und in dem ich nicht möglichen Missständen entgegentreten kann.
 
wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Vielfalt ist nur möglich, wenn wir sie leben und ermöglichen. Darum tragen Kulturinstitutionen eine besondere Verantwortung für den Erhalt der Vielfalt.
 
wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Auf keinen Fall AfD wählen!!! Und das in der Nachbarschaft jeden Tag kommunizieren und die Demokratie bejahen!
 
wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Nach 1989 wurde der reale Rechtsradikalismus systematisch verharmlost – insbesondere in Sachsen durch die CDU. Schon Ende der 90er Jahre gab es zahlreiche Ortschaften, da fiel der Rechtsnationalismus gar nicht auf, weil er so „normal“ daherkam.
 
wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Da möchte ich jetzt gar nicht drüber nachdenken. Jetzt gilt es alle Kraft dafür zu mobilisieren, dass die AfD am 01.09.2019 so wenig wie möglich Stimmen bekommt.
 
wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem man sich – in der jeweils möglichen Form – an ihnen beteiligt. Es ist eigentlich ganz einfach: Hingehen und mitmachen – z. B. beim „Aufruf 2019“ www.aufruf2019.de
 
wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Begegnungen schaffen und miteinander reden – aber immer mit einer klaren Vorstellung davon, mit welcher Position ich in ein Gespräch eintrete.
 
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Angst ist immer ein schlechter Ratgeber – und: Wer Angst verbreitet, will Menschen beherrschen. Als Christ ist die wichtigste Botschaft, die mir Angst nimmt: Fürchte dich nicht! Ich bin von Gott anerkannt, darum ist die Anerkennung durch Menschen zwar wichtig, aber nicht alles. Für mich bedeutet dies, dass wir vor Ort die Menschen beteiligen müssen an der Gestaltung des Lebens im Kiez, Stadtteil, Ort.
 
wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil sie ihnen noch nie begegnet sind. Nur was ich nicht kenne, macht mir Angst – und: Was anonym bleibt, keinen Namen hat, übt Macht aus (siehe Märchen vom Rumpelstielzchen).
 
wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Grundsätzlich: Nein. Niemand ist daran gehindert, einen Stadtrat, eine Landtagsabgeordnete, einen Bundestagsabgeordneten anzurufen, einen Gesprächstermin zu vereinbaren, ihm oder ihr eine Mail zu schreiben.
 
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Sorgen zu haben, ist kein „Privileg“ der sog. Wutbürger. Ich selbst habe auch Sorgen und möchte, dass diese respektiert werden. Ich weiß aber auch, dass es mir gar nichts nutzt, wenn jemand meine Sorgen nur bestätigt. Das ist leider in den vergangenen fünf Jahren in Richtung Pegida/AfD geschehen: Die sog. Sorgen und Ängste wurden nur bestätigt. Das hat mit Befreiung nichts, mit Herrschaft aber ganz viel zu tun. Was gut ist, dass durch FridaysForFuture endlich Zukunftsthemen in den Vordergrund rücken.
 
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ohne sie verkommen Demokratie, Freiheit, sozialer Zusammenhalt.
 
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir uns bewusst und erkennbar an ihr beteiligen und allen ganz klar und unmissverständlich entgegentreten, die einen neuen Nationalismus predigen, kulturelle Vielfalt beschneiden und Demokratie verachten. Vor den Rechtsnationalisten von Pegida/AfD dürfen wir keinen Millimeter zurückweichen.
 
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Da ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Für mein Engagement ist jedenfalls nicht ausschlaggebend, ob wir mehr sind, sondern ob das, wofür ich eintrete, den Menschen dienlich ist.
 
wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Verantwortung wahrnehmen, Zivilcourage zeigen, den Angstmachern die Stirn bieten. 

www.wolff-christian.de

Foto: Wolfgang Zeyen

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