INTERVIEW MIT DAVID GRAY

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin ein Dorfkind, aufgewachsen in der DDR in einem winzigen Nest, das so nah bei Leipzig lag, dass man es nachts leuchten sehen konnte, aber immer noch ziemlich weit laufen musste um es zu erreichen. Zugleich gab es da aber auch einen See und einen relativ großen Wald. Ich glaube, so aufgewachsen zu sein, stellt dich ein bisschen aus der Mitte heraus in eine Position zwischen dem Träumer, der diese Lichter der Großstadt nicht nur sehen, sondern auch erreichen will, und einem grundsätzlich pragmatischem Dorfbewohner, der genau weiß, dass er ohne die grundsätzliche Hilfsbereitschaft seiner Nachbarn aufgeschmissen wäre. Da existierte also sowohl eine Sehnsucht nach der leuchtenden Anonymität der City wie nach der – auch nicht immer nur kuscheligen – Intimität des Dorflebens.
Mit 14 und 15 war ich noch ein ganz vielversprechender Jungsozialist, Pionierorganisations- und FDJ-Funktionär. Mit dem Beginn meiner Zimmermannslehre relativierte sich das, weil du dort schnell gelernt hast, dass das Arbeiterparadies vor allem denen diente, die korrupter waren als die anderen, und weil du ab einem bestimmten Zeitpunkt auch die volle Wucht der Mauer gespürt hast. Da war einfach ein betonierter Endpunkt für deine Lebensträume. Obwohl ich nie glaubte, dass dahinter ein Schlaraffenland läge, war ich überzeugt, dass es Unrecht sei, den Zugang dazu durch Selbstschussanlagen, Millionen von Tonnen an Beton und Grenzer mit stehendem Schießbefehl zu verstellen. Außerdem stand ich auf die für DDR-Jugendliche falsche Art von Musik. Punker wurden im angeblich demokratischeren Teil Deutschlands misstrauisch beäugt und verfolgt. Das (un)heilige Punkermotto “No Future“ war ein ständiger Affront gegenüber einer Staatsdoktrin, die ein angeblich kommunistisches Spießbürgerparadies verhieß. Ich bin ziemlich früh mit Freunden zu den Montagsdemos gegangen, bin dabei allerdings nie verhaftet worden, was mir immer noch wie ein kleineres Wunder vorkommt. Gelesen und irgendetwas geschrieben habe ich wohl schon immer. Dass ich später Jura studierte, habe ich nie bereut. Das ist ein durchaus nützliches Studium für Autoren. Wahrscheinlich nützlicher als eine Schreibschule zu besuchen. Aber als Jurist wäre ich trotzdem eine Fehlbesetzung gewesen und weil mir irgendwann klar wurde, dass ich für so ziemlich alles andere als eben zu schreiben nicht wirklich tauge, war es nur konsequent das Schreiben zum Beruf zu machen. Sehr zum Entsetzen eines größeren Teils meiner Family. Aber es gibt mehr Menschen, die vom Schreiben leben können als man das allgemein so für möglich hält. Ich habe meine Berufswahl nie bereut. Im Gegenteil. Das hat mich vor mir selbst gerettet und es hat mir ermöglicht Teile der Welt zu sehen, die mir in meiner Jugend von einer beschissenen Mauer verbaut worden waren. Noch immer, wenn ich heute über eine sichtbare Grenze fahre oder fliege, habe ich das unwillkürliche Bedürfnis den Politbürogreisen den Stinkefinger zu geben. Inzwischen habe ich 14 Romane und eine knappe Handvoll Drehbücher geschrieben.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich hatte es nie so mit Parteien oder Vereinen. Aber dies bedeutet nicht, dass du als Künstler nicht politisch tätig bist. Kunst ist zwar nie per se politisch. Aber Kunst passiert trotzdem nicht im politischen, philosophischen oder popkulturellen Vakuum. Das macht zwar nicht den Künstler zwingend zu einem Teil von Politik, aber dessen Werk. Brechts angeblich harmloses Gespräch über Bäume, das in finsteren Zeiten gar nicht mehr harmlos sein kann, weil es eben das Schweigen über Untaten einschließt, ist eine gute Metapher für die Situation des Künstlers. In den malerischen Klatschmohnblüten, deren Foto ich auf Instagram hochlade, steckt Glyphosat und in dem Handy, dessen Kamera solch tolle Bilder macht, die Arbeit von Menschen, die in Sweatshops ausgebeutet werden. Dasselbe gilt für die Laptops, in deren Tastatur ich meine Romane im Zweifingersystem einhacke. Dessen muss man sich bewusst sein. Ich habe Sweatshops in Südostasien gesehen, ich habe sie gehört und gerochen. Dort zu arbeiten ist ein Mord auf Raten. Dort wird ein Teil des wahren Preises für unseren westlichen Konsumkapitalismus gezahlt, in Blut, Schweiß, Tränen, gebrochenen Knochen und Krebserkrankungen. Ich bin Teil der Unterhaltungsindustrie, ich verfasse Texte in verschiedenen Genres von Erotik über Noir-Krimis bis zur gehobenen historischen Literatur und dort habe ich mich von der ersten Veröffentlichung an bis zum aktuellen Roman stets für Grundwerte eingesetzt, die eine freie Gesellschaft ausmachen: sexuelle und kulturelle Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit von Kunst und Presse. Das mag jetzt verglichen mit Aktivisten und Politikern, deren Häuser, Autos und Büros von Nazis angegriffen werden und die mit regelmäßigen Mordaufrufen zurecht kommen müssen, als eine luxuriöse Situation erscheinen. Aber meine Romane werden von tausenden, zuweilen zehntausenden Leuten gelesen. Damit erreiche ich viele hunderte Menschen, die für die Politik und politischen Aktivismus längst nicht mehr erreichbar sein wollen. Nicht nur hier im Osten, sondern auch in den westlichen Bundesländern. Das ist das, was ich am besten kann: Geschichten erzählen und in diesen Geschichten Werte vermitteln, die seit Jahren unter Druck geraten waren. Und zwar schon lange, bevor der Politik das voll bewusst geworden ist.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Ich stehe nur extrem selten im Vordergrund von politischen Aktionen. Aber als Mittelbaukreativer in der Unterhaltungsindustrie bist du gezwungen Veranstaltungen zu organisieren, um deine Bücher an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Was man dabei besonders in Sachsen spürt, ist eine seltsam unterschwellige Furcht. Ich erinnere mich noch an die Straßenschlachten und Kämpfe mit den Skinheads in den 90ziger Jahren. An die Clubs, an deren Tür ich stand, wo zu oft die Baseballschläger griffbereit gehalten wurden, weil man jederzeit damit rechnen musste angegriffen zu werden. Ich erinnere mich an ansatzlose Prügeleien und Momente, in denen du das deutliche Gefühl hattest: Jetzt rennst du um dein bisschen Leben.
Das war ab dem Beginn der 2000er Jahre vorbei. Zumindest in den meisten der größeren sächsischen Orten. Aber wenn ich jetzt Veranstaltungen organisiere und mit den Betreibern von Kulturlocations spreche, spüre ich eine sehr ähnliche Art von Vorsicht und Beklemmung wie damals. Diese Wiederkehr der Gewaltdrohgebärde ist gespenstisch. Aber heute kommt ein weiterer sehr erschreckender Faktor hinzu, denn die Drohgebärden kommen nicht mehr nur von Randalierern und testosterongebeutelten Kids mit zuviel Zeit und ohne viel Hoffnung, wie damals einige Jahre nach der Wende, sondern auch zunehmend von den Funktionären der AfD, die ganz offen angetreten sind, die Kulturszene in Sachsen auszudünnen und nach ihren engen völkisch, patriarchalen Wertmaßstäben umzugestalten. Eine merkwürdige Art von Endzeitstimmung und Trotz breitet sich gerade unter Kulturmanagern in denjenigen Bundesländern aus, für die bei den bevorstehenden Wahlen mit einer blau-braunen Mehrheit zu rechnen ist. Diese Stimmung vergiftet schleichend das Land.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Unerlässlich ist, dass man zunächst einmal miteinander redet und zwar auf Augenhöhe und nicht von oben herab oder durch ideologische Scheuklappen gebremst. Man besiegt Nazis nicht durch Schweigen. Sondern dadurch, dass man sie zum Dialog zwingt und dabei aufzeigt, wo die immensen Leerstellen hinter ihren muggeligen Verheißungen von einem „Zurück zu Opas heiler Welt“ liegen. Womit noch jede rechtskonservative, völkisch nationale Bewegung ihre Schäfchen einfing und die Herde zusammenhielt war eine Drohkulisse aus Angst. Angst ist ein funny thing. Sie lähmt einerseits das Denken und löst andererseits entweder Fluchtinstinkte oder einen blinden Aktionismus aus, der dann recht leicht in die Zusammenrottung eines Mobs kanalisiert werden kann. Aufgeputschte Menschenmassen voller Angst sind das biologische Äquivalent zu Bulldozern und entsprechend ist der Schaden, den sie anzurichten fähig sind. Ich weiß, dass zu reden, aufzuklären, zuzuhören, der mühsamste, frustrierendste und langwierigste Weg ist mit der blau-braunen Angstmacherpest umzugehen. Aber es ist der einzig erfolgversprechende.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Siehe oben, indem man miteinander spricht und verdammt noch mal sich gegenseitig dabei auch zuhört. Also umgesetzt in konkrete Aktionen: Indem man Gelegenheiten schafft, wo genau dies geschehen kann. Und diese so fair und sicher für alle Seiten ausgestaltet, dass keiner das Gefühl hat sich dort vor dem anderen fürchten zu müssen. Umberto Eco hat mal in einer seiner Kolumnen geschrieben: „Der letzte Trick einer verzweifelten Religion besteht darin, ihren Anhängern das Lachen zu verbieten“. Die Braun-blauen und Identitären haben ihren Gefolgsleuten von Anfang an vorgemacht, dass es weder Gründe noch Anlässe mehr für Lachen gäbe. Vielleicht sollte man ihnen daher öfter auch mal offen ins Gesicht lachen, um ihre Angsttrommelei zu unterlaufen.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe ist diese verdammte sächsische Starrköpfigkeit. Die hat dem Landstrich schon ein paar Mal nach großen Verheerungen wieder auf die Beine geholfen, sobald sie sich mit einem gewissen Grundoptimismus paart, der auch in diesem Land vorhanden ist.
Unser Erbe ist auch der König, der schlau genug war zu erkennen, wann es Zeit ist Platz für das Neue zu machen. „Macht doch euren Dreck alleene“ ist gegenüber neuen und alten Diktaturversuchen nicht das dümmste Motto.
Doch unser jüngstes Erbe ist auch eine spezifisch sächsische CDU, die längst zu träge und zu bräsig ist, um auf die Herausforderungen der Zukunft angemessen reagieren zu können und damit zur Steigbügelhalterin einer radikalen Abspaltung namens AfD wurde, mit der sie nicht umzugehen weiß, da man bei der Sachsen-CDU weder den Bürgerdialog führen wollte, der seit Jahrzehnten überfällig war noch aufrichtig genug war um eigene Fehler zu korrigieren. In Zukunft die Sachsen-CDU in der Opposition, wäre kein schlechter Anfang, um verkrustete und teilweise korrumpierte Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen im Land aufzubrechen und die dann neu zu ordnen. Mit einer AfD, die von Postenjägern durchsetzt ist und neben ihren populistischen Altherrenweisheiten kein tragfähiges Programm aufweist, an der Macht, würde man die Zukunftsverweigerung, die in der sächsischen Politik derzeit herrscht, jedoch nur auf die Spitze treiben.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr an gegenseitigem Respekt.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Dass diese Grundwerte hier garantiert sind, erlaubt es mir unbehelligt zu arbeiten. Und jetzt kommt ein Klischeespruch, den wohl kaum einer noch hören bzw. lesen kann, was nichts dran ändert, dass er wahr ist: Dafür, dass diese Grundwerte garantiert werden, bin ich 1989 auf die Straße gegangen und habe mir von der Stasi das Gesicht zerbeulen lassen. Falls nötig gehe ich dafür eben wieder auf die Straße.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Auf dem flachen sächsischen Land ist genau diese Arbeit diejenige, die den Nazis und der Hoffnungslosigkeit, die dazu beiträgt deren Reihen zu füllen, mittelfristig das Genick brechen sollte. Das ist auch im Rest des Landes keine so völlig neue Erkenntnis.
In Sachsen tut die CDU sich damit traditionell schwer. Dort steht man schon länger auf dem Standpunkt, dass Kultur – so sie nicht als glamourmäßig inszenierte so genannte Hochkultur zum Foto-Op taugt – als Kitt für das respektvolle und zukunftsorientierte Zusammenleben überbewertet würde. Das ist ein dummer und unnötiger Fehler.
Der einflussreiche schweizer Nationalist und neofaschistische Vordenker Armin Mohler hat bereits in den 70er Jahren in seinen Texten gefordert, dass ein neuer Nationalist die allzu bequem gewordene „Bürger- der „Gärtnerdemokratie“ der Bonner Republik nicht am Kopf, sondern den „Eingeweiden zu packen“ habe, um wieder erfolgreich sein zu können, also im Unbewussten, in den Emotionen.“
Genau darum geht es ja: Wenn die Seite der Kubitscheks, Höckes und Poggenburgs sich in ihren Auftritten, Reden und Texten zielgerichtet auf Basisemotionen ausrichten, um ihre nationalistischen Hassbotschaften populär zu machen, kann man als Demokrat auch nicht mehr nur auf die Ratio fokussieren. Sondern sollte ebenfalls die Emotionen bedienen. Das ist auch gar keine Hexerei. Denn die Botschaften der Neu-Rechten und Neonationalisten sind ja vor allem negativ unterlegt, greifen unbestimmte Ängste und die Verzweiflung an und mit der Zukunft auf.
Eine demokratische, linke Gegenbewegung hat daher zwar jene einmal aufgestocherten Ängste ernst zu nehmen. Aber muss ihnen zugleich eine positive, progressive Vision entgegensetzen.
Dies gelingt vor allem durch Kulturarbeit, die vom Kabarett für Oma und Opa Hinz aus Bautzen übers Kindertheater mit progressiver Botschaft bis hin zu Popmusik und Lesebühnen reicht, die diese positiv progressiven Botschaften vermitteln. Jugendhäuser, Theater, Kleinkunstspielstätten, Clubs und Kneipen sind die Orte, an denen das geschehen muss. Kein Wunder daher, dass die AfD – beflügelt von Umfragehochs – sich erst kürzlich genüsslich öffentlich die Hände rieb und verkündete, dass sie die Sparaxt an der Finanzierung solcher Kulturorte zuerst anlegen wird.
Als ehemaliger Drogenkopf bin ich selbst zum Glück zwar um eine Runde in der Geschlossenen herumgekommen. Aber man sieht vor allem in den Kleinstädten in der Peripherie die Auswirkungen der Crystal-Meth-Epidemie aktuell so deutlich, dass es kein Wunder ist, wenn von überfüllten und überforderten psychologischen Betreuungseinrichtungen berichtet wird.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Redet miteinander, Leute! Äußert eure Meinung und steht zu ihr, ohne dabei zum Betonkopf zu mutieren. Respektiert euch dabei gegenseitig. Hört einander zu und lasst euer Gegenüber spüren, dass er ein Recht auf seine Meinung hat, so falsch sie euch auch vorkommen mag. Das ist immer der erste Schritt. Der zweite wäre sich umzuschauen, ob es Vereine, Bewegungen oder Aktivisten in eurer Umgebung gibt, die sich für ein demokratisches Miteinander einsetzen und denen unter die Arme zu greifen, soweit ihr das könnt. Und dabei kann schon ein einfaches „Danke dafür, dass du das machst!“, weit tragen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Ein nicht gut gemanagter Strukturwandel und die damit einhergegangenen persönlichen Kränkungen vieler Bürger werden da ja immer wieder angeführt. Ich bestreite den Anteil dieser Phänomene am Wahlerfolg der Blauen auch nicht. Aber ich bin auch sicher, dass diese Analyse zu kurz greift. Erstens ist man hinterher immer schlauer, was die Fehler, die man gemacht hat, betrifft. Bei allem Missmanagement und aller Korruption, die nach der Wende bestimmte ostdeutsche Landstriche verheert haben, sollte man auch im Auge behalten, dass dabei auf Sicht gefahren wurde und häufig genug war diese Sicht überdies durch Nebelwände beschränkt.
Doch meiner Auffassung zufolge wurden auch danach Fehler gemacht, die vermeidbar gewesen wären und die nicht auf einer ökonomischen, sondern der kulturellen und geistesgeschichtlichen Ebene lagen.
Ich habe der oft zitierten angeblich progressiven „Revolution aus dem deutschen Pfarrhaus heraus“ nie getraut. Aus den deutschen protestantischen Pfarrhäusern kam nämlich auch die RAF. Zuvor im 19ten Jahrhundert kam von dort der deutsche Nationalismus. Der war zwar gewissermaßen notwendig, um das Land zu einen. Aber er schielte als Bewegung stets mit mindestens anderthalb Augen futterneidisch auf La Grande Nation und das Empire. Es war auch das protestantische Pfarrhaus, in dem in einer strikten Traditionslinie von der Restauration bis in die Neunziger und Anfangszweitausender Jahre noch das Motto „Gebt Gott, was Gottes ist und dem Kaiser was des Kaisers ist“ propagiert wurde. In anderen Worten: Sei deines eigenen kleinen Glückes Schmied und lass die Fürsten tun, was die Fürsten in Gottes Auftrag zu tun haben, nämlich zu regieren und die großen drängenden Weltfragen auszufechten. Das ist ein Biedermeier des Geistes, dem man damit das Wort redete. Diese Traditionslinie ist immer noch im Osten spürbar, die zieht sich von Wilhelmismus bis zu King Kurt und Platzek in Brandenburg hindurch. Dass es ostdeutsche Pfarrhäuser und Kirchen waren, die den Oppositionellen der DDR Unterschlupf gewährten, widerspricht dem nicht. Denn diese Opposition begann aus einem grundkonservativen Anlass heraus, nämlich der – seinerzeit und immer noch sehr berechtigten! – Sorge um die Bewahrung der Schöpfung. Dass sie sich in ein Momentum hineinentwickelte, in dem ab einem gewissen Punkt Bürgerrechte und Reisefreiheit die größere Rolle spielte, hatte etwas damit zu tun, dass nicht nur aber eben auch Brandts Ostpolitik die Risse in der Mauer allmählich vergrößert hatte und inzwischen zwei Generationen von DDR-Landesinsassen herangewachsen waren, die den Optimismus der DDR-Anfangsjahre nicht mehr erlebt hatten und emotional kühler auf den Gründungsmythos vom Antifaschistischen deutschen Staat schauten. Doch in der bürgerlichen Mitte der DDR blieb die Verunsicherung vor dem Neuen bestehen und was daneben auch blieb, war eine gefühlsmäßige Abneigung gegen die Metropolen und deren kulturelles und gesellschaftliches Aufruhrpotenzial. Die Geister der Kinderseelentötenden, mit Rohrstöcken bewaffneten Lehrer der Restauration und des Wihelmismus schweben in der ostdeutschen Provinz immer noch über dem Land. Weil sie niemals wirklich ausgetrieben worden waren. Erst recht nicht durch eine bald nach ihrer Gründung als Spießbürgerparadies gestaltete vermeintliche „sozialistische Alternative DDR“.
Das sollte man nicht aus dem Blick lassen, wenn man über den vermeintlichen Zukunftsverweigerungstrotz der Ostdeutschen nachdenkt. Doch auf genau diese von solchen Traditionslinien her geborenen Sehnsüchte nach der Idylle spielen ja die Neurechten und Neonationalisten der Braun-Blauen an. Die behaupten im Grunde Europa sei zu groß, um je funktionsfähig innerhalb ihrer bewusst beschränkten Vision gemacht werden zu können. Außer vielleicht im ökonomischen Sinne. Dann aber gefälligst mit dem guten alten Diesel-Mercedes und einer zu neuer Glorie aufgepeppten Deutschen Bank.
Um die Zeit, als in Berlin die Mauer zu wanken begann, hat der Theaterautor Heiner Müller prophezeit: „Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit/So jetzt aus Zukunft ebenso“. Man hat das damals unwillkürlich als eine Warnung vor neu erstarktem Nazismus und Rassismus interpretiert. Aber was Müller und Kollegen um diese Zeit inszenierten waren Hamlet, die Orestie und ein Schauermärchen namens „Germania“. Der Mann ahnte, was wir heute wissen: Dass sich die Geister der Vergangenheit erschreckend nahtlos mit den Urängsten vor der Zukunft vermählen lassen, um so neues Grauen zu stiften. Es waren mehr Beamten- und Lehrersöhne, die dir als Punk in der DDR die Fresse polieren wollten als Arbeiterjungs.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Um mal dem bei diesem Interview bisher etwas vernachlässigtem Zyniker in mir Zucker zu geben: Dann starte ich noch am Wahlabend ein Volksbegehren mit dem Ziel das sächsische Staatswappen durch das Bild einer eitergelblich überreifen Banane zu ersetzen. Außerdem werde ich mich intensiv nach einer fair handelnden Manufaktur für Medaillen und Orden irgendwo in China umschauen, meine mageren Ersparnisse in die investieren und anschließend versuchen den Damen und Herren der frisch siegestaumelnden Braun-Blauen Regierungsfraktion ein nationalsächsisches Mutterkreuz schmackhaft zu machen. Natürlich mit dem Bananenwappen im Zentrum.
Überdies prophezeie ich für diesen Fall zunächst ein mindestens anderthalbjähriges Regierungschaos in Dresden, geprägt von einem selten zuvor so zu beobachtenden Postengerangel und jeder Menge handwerklich unterirdisch schlecht gemachten Gesetzesentwürfen, die dem Bundesverfassungsgericht auf Jahre hinaus Überstunden bescheren werden.
Was ich außerdem auf uns zurollen sehe, ist eine zwar unwillkommene aber unausweichliche Renaissance von schwarzem Humor und eine nie für möglich gehaltene Solidarität unter Veranstaltern, Künstlern, Kreativen und aufgeklärten Bürgern, die den braun-blauen Sumpfblüten das lügen und regieren erschweren wird.
Wahlweise könnte das Aufkommen von realen Aluhutträgern in den sächsischen Landesmedien soweit überhand nehmen, dass man um die Produktionskapazitäten des Ausgangsmaterials fürchten sollte. Also mein Rat an mutige Investoren für den Fall einer AfD-Machtübernahme: unbedingt Alufolienvorräte anlegen!
Ich persönlich werde meine Gewinne aus den Mutterkreuzverkäufen dann dazu nutzen, mich mit einer Gruppe von Mitverschwörern in eine geheime zentralsächsisch gelegene Dachkammer zurückzuziehen, um dort in rollenden 12-Stunden-Schichten die Social-Media-Auftritte der neuen Staatspartei mit Katzenbildchen und bewusst schlecht gemachter Liebes-und Naturlyrik zuzuspammen. Möglicherweise wird diese gefährliche Tätigkeit einige von uns so sehr traumatisieren, dass wir unter falschen Identitäten regelmäßig Erholungsurlaub in den dann von der sächsischen Regierung als unfrei deklarierten demokratisch regierten Bundesländern buchen müssen. Aber dieses Risiko wäre uns der Guerillakampf gegen die Sumpfblüten im sächsischen Landtag alle mal wert.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Geht raus, schaut auch Kultur an, hört den Leuten zu und werft auch mal mehr als nur einen Heiermann in die Spendenbüchsen von demokratischen Vereinen und Bewegungen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Indem die Politik sich aus ihren Büros hinausbegibt und auf diese Menschen zugeht, sie zum Dialog auffordert und – zum x-ten Mal hier, ich weiß – ihnen zuhört und ihre Probleme ernst nimmt. Wer nur vorm Wahlkampf vor die Tür geht und an den Häusern klingelt um Flyer zu verteilen, der hat den Ernst der Lage nicht begriffen. Die andere Seite hingegen ist sich ihres Auftriebs aktuell bewusst und wird nicht nachlässiger in ihrer Wählerbeschwörung, nur weil die heiße Wahlkampfphase noch einige Monate hin ist.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Siehe oben. Indem man nichts beschönigt an den Problemen, die das Land hat. Aber ihnen dabei auch eine positive Zukunftsvision vermittelt. Auf der Klaviatur der Angst spielen die anderen. Die ist gerade belegt und steht nicht zur Verfügung.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle. Einer davon ist zweifellos der: Zuwanderer werden von den Ureinwohnern als unwillkommene Boten aus einer für viele von ihnen zunehmend unübersichtlicher und damit bedrohlich gewordenen Restwelt wahrgenommen, die für sie zudem auch noch voller Gewalt und Konflikte zu sein scheint. Aber man nimmt die Fremden zugleich auch als ökonomische Bedrohung wahr. Denn eines der Paradoxe der Entwicklung in Ostdeutschland besteht ja auch darin, dass man hier viel härter auf die Anforderungen des Überlebens im Turbokapitalismus vorbereitet wurde als in den alten Bundesländern, wo noch man lange nach dem Übergang von der Bonner zur Berliner Republik einen Rest an sozialer Nestwärme bewahrte, der von Betrieben, Vereinen und Kollegenkreisen garantiert wurde. Im Osten hingegen wurden die Identifikationsmittelpunkte der Betriebe innerhalb von kürzester Zeit abgewickelt und man verordnete allüberall das Credo: Ab jetzt ist sich jeder erst mal selbst der nächste.
Das Ergebnis dieses Experiments in oft sträflich planlosem Plattmachen sehen wir heute im Umgang mit den Zuwanderern. Denn der gelernte Ostdeutsche und von der Wirtschaftswende zum Turbokapitalismusüberlebenskünstler gehärtete angebliche Dunkeldeutsche hat einen Hang dazu entwickelt unwillkürlich davon auszugehen, dass die Zuwanderer bereit seien noch härter, noch rücksichtsloser, noch marktkonformer zu agieren als er selbst es seinerzeit musste. So entsteht eine diffuse Furcht sowohl vor den ja vielleicht apokalyptischen Nachrichten, die der Bote aus der weiten Fremde mit sich tragen mag wie vor dessen Entschlossenheit sich hier unter allen Umständen ein neues Leben aufzubauen und dafür immense Opfer in Kauf zu nehmen.
(ja, schon klar, den Begriff „Dunkeldeutsch“ den benutzt man nicht mehr. Der ist bäh. Ist er. Aber deswegen längst nicht aus der Mode gekommen. Ein Blick auf diverse Kommentarspalten großer Tageszeitungen unter Artikeln über Ostdeutschland beweist das eindrücklich).

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Politik, jedenfalls herkömmliche Politik, ist immer in der Versuchung von oben herab zu handeln. Was gar nicht mal immer so verkehrt ist. Da es der Job von Politikern ist, sich mithilfe von Referenten und Experten über bestimmte Themen zu informieren und diese dann in konkrete Politik umzusetzen. Dabei bleibt die Erklärung der Gründe für diese Politikentscheidung dem Bürger gegenüber gern mal unvollständig oder ganz und gar als platt gefahrenes Wild auf der Strecke. Doch in Zeiten von Social-Media und dieses neuen, ja keinesfalls zukunftsfähigen Dings namens Interweb fällt der Politik diese jahrhunderte lang geübte Praxis des Garnicht- oder nur Teilerklärens immer heftiger auf die Füße. Mit dem Ergebnis, dass die Menschen der Politikerkaste nicht mehr trauen. Zumal sie andere Wege zur Information ausgemacht haben als Tageszeitungen und TV-Nachrichtensendungen. Dort geschieht dann oft genug eine an Sekten erinnernde Indoktrination der Wähler, die sich ja erst durch die unzureichende Begründung von Politik für ihre Aktionen/Projekte gezwungen sahen sich alternativ zu informieren, also ihre Surfreise zu den mit reichhaltig strangen Früchten behangenen Tiefen des Webs bereits mit einem gewissen Grundmisstrauen begonnen haben. Parteienpolitik gleicht zudem auch einer riesigen Maschine, deren innere Mechanismen man vor der Außenwelt verborgen hält, aber deren nach außen hin agierende Fühler auf eine einheitliche Message getrimmt werden. Was beim Wähler den Eindruck eines gleichgeschalteten Kraken erwecken kann, den es mindestens zu sezieren und womöglich zu bekämpfen gilt. Taucht dann eine Partei auf, die eben diesen – zwar für sämtliche politischen Bewegungen notwendigen Hang zur Gleichschaltung der jeweiligen Message beklagt – jedoch zugleich eine höhere direkte Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen verheißt, dann gewinnt sie damit einen Imagevorteil bei den Wählern, da die ihr eine höhere Wahrhaftigkeit zutrauen. Deswegen die zum Mantra der Blau-Braunen gewordene Forderung nach Plebisziten.
Der Schock, dem Parteichef einer Regierungspartei in einem Nachbarland quasi (gefühlt) live dabei zuzuschauen, wie er für ein paar Prozentpunkte mehr in der Wählergunst die Grundwerte seiner Landesverfassung verhökert, ist wahrscheinlich noch gar nicht überall wirklich angekommen. Das wird Auswirkungen noch auf viele kommende Wahlen zeigen und hat das Ansehen der Politikerkaste beim ganz gewöhnlichen Wähler nachhaltig ramponiert. Nicht nur in Österreich.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Man wird realistisch gesehen zwischen beidem einen tragfähigen Kompromiss aushandeln müssen um zukunftsfähig zu bleiben. Wobei allerdings anzumerken ist, dass Jugend für die Volksparteien inklusive der so genannten Alternativen Volkspartei bisher kaum je eine Größe darstellte, auf deren Bedürfnisse man durch mehr als ein bisschen Symbolpolitik einzugehen gehabt hätte. Denn der überwiegende Teil der deutschen Wählerschaft ist zwischen 30 und 65 Jahren alt und hat in diesen Lebensabschnitten einfach andere Erwartungen an Politik als ein 20 oder 25jähriger / jährige Wähler/ Wählerin. Insofern sind alle deutschen Parteien von den Klimaforderungen der Jugend eiskalt erwischt worden. Noch viel mehr ja übrigens auch von deren Art miteinander zu kommunizieren und per Social-Media lockere Verknüpfungen zu bilden, die dennoch elastisch genug sind, um Demomassen auf die Straßen zu bringen. Da wird man in den Parteizentralen schon noch eine immense Menge an Hausaufgaben nachzuholen haben.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Wie einer meiner Vorgänger in dieser Reihe es auf den Punkt brachte: „Zivilgesellschaft gibts nicht zum Nulltarif, dafür zahlt man mit Zivilcourage“. Das mag pathetisch klingen, aber ist trotzdem wahr. Und keiner erwartet ja, dass der einzelne Wunder tut. Wunder, kleine und größere, werden von vielen Menschen erbracht, die sich darauf geeinigt haben, dass es an der Zeit für kleinere oder größere Wunder sei. Wobei ich mich angesichts der aktuellen sächsischen Zustände bedauerlicherweise gezwungen sehe darauf hinzuweisen, dass wir hier ein mittleres bis größeres Wunder brauchen, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Zuallererst einmal, indem wir uns alle klar darüber werden, dass sie es wert ist geschützt, erhalten und verbessert zu werden.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Das war so eine Bewegung, die an mir fast völlig vorbeiging. Hashtagaktivismus ist ein ganz eigenes Ding. Da bin ich zu langsam für, fürchte ich. Obwohl die Aktion als Beweis dafür, dass die Blau-Braunen eben nicht für eine angeblich „schweigende Mehrheit“ im Land sprechen, schon gut und wichtig war.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Genau das. Ich bleibe hier. Falls mich kein Bus oder LKW erwischt oder ein noch unbekannter Erbonkel mir Millionen zuschanzt, werde ich mir auch weiterhin das Vergnügen gönnen meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Geschichten zu verdienen.

Foto: Erik Weiss, Berlin

INTERVIEW MIT OLE PLISCHKE

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.
 
Ja: Ich, auffälliger Schüler, öfter im System angeeckt. Hab mir gedacht, solche Kinder und Jugendlichen brauchen geeignetes Personal, das deren Ideen versteht. Also bin ich Sozialpädagoge geworden. Hab dann in einem Jugendtreff angefangen und durfte Dank Schwangerschaften innerhalb von fünf Monaten die Projektleitung übernehmen. Naja, kaltes Nass halt. Passt schon. Und jetzt arbeite ich seit drei Jahren als Projektleiter mit Kindern und Jugendlichen zwischen acht und 22 Jahren.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?
 
In Freital bin ich aktiv und engagiere mich für alternative Freizeitgestaltung, Demokratieförderung und den Abbau von Vorurteilen.

wbh: Was ist existenziell und notwendig für deine und eure Arbeit?

Fähiges Personal, das nicht durch spartaktische Maßnahmen eingeschränkt wird, denn die sozialen Probleme lösen sich nicht, wenn es kein Geld dafür gibt. Sie stehen dann quasi nur im Stau und werden mehr.

wbh: Woran mangelt es?
 
An Fachkräften und der Bereitschaft, diese gut zu bezahlen.

wbh: Im Idealzustand: Was wünschst du dir für bessere Grund- und Rahmenbedingungen für deine und eure Arbeit?
 
Mehr Anerkennung in der Politik & Gesellschaft und mehr Fachkräfte.

wbh: Was sind deine Wünsche an die Politiker*innen?
 
Soziale Arbeit muss ernst genommen werden. In einem so reichen Land wie Deutschland muss nicht über marode Straßen gesprochen werden, sondern über Einsparungen im Sozialsystem, die dazu führen, dass rechte Gruppierungen den Raum der sozialen Arbeit auf dem Land entdecken. (Siehe Brandenburg, siehe Sächsische Schweiz Ost Erzgebirge, siehe Wahlergebnisse in Ostdeutschland)

wbh: Was sind deine Wünsche an die Bürger*innen in deiner Stadt?

Macht einfach mit, bringt euch ein und gestaltet somit euren Stadtteil und euer Leben.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?
 
Unterstützen und gemeinsam Projekte planen, deren Ideen von den Teilnehmern getragen und von dem Lebensumfeld respektiert werden.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?
 
Weil WIR nun mal alle miteinander leben müssen und jeder das Recht darauf hat und man deshalb Werte und Normen festlegen muss und diese politisch vertreten werden sollen.
Und damit wir in Ostdeutschland nicht ewig Blau bleiben, sondern der soziale Gedanke wieder mehr ERNSTHAFT getragen wird.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Auf vielen verschiedenen Ebenen muss Politik attraktiver gestaltet werden. Schon im Kindergarten kann echte Partizipation gelebt werden. Das geht weiter über die Schulen, Vereine und Jugendfreizeitangebote.
 

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 
 
Unser Erbe ist der unbedachte Zwang zu konsumieren, ohne zu hinterfragen. Was dabei rauskommt, wölbt sich gerade langsam an die Oberfläche. Gruselig!

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?
 
Weniger Wachstum und mehr Gemeinschaftsverständnis.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?
 
Das bedeutet für mich, dass wir lernen müssen, miteinander zu leben und jeder seine Freiheiten ausleben kann und soll, solange sie niemandem anderen Schaden, weder Mensch noch Natur.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sehr sehr WICHTIG! Kunst und Kultur sind Aspekte, die schon immer zum Umdenken bewegt oder dazu angestoßen haben. Die hinterfragt haben, und das auch auf schmerzliche Art und Weise dürfen und sollen.
Jugendhäuser sind für mich kleine Kächer, die versuchen einen kleinen Teil der Gesellschaft, dem es nicht so gut geht und der oft nicht richtig weiß, warum er auf dieser Welt ist und was sein Ziel ist, aufzufangen. Den Menschen Sicherheit geben, da Lehrer dazu nicht in den Lage sind. Sie haben einfach nicht die nötigen Ressourcen und viel zu große Klassen, um neben ihrem Bildungsauftrag noch zusätzlich die Probleme der Jgdl. aufzufangen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürgerin aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 
 
Wählen gehen und gegen Rechts wählen. Die Frage ist allerdings, ob das auch alle wollen. Vielen Menschen ist, glaub ich, nicht bewusst, was es bedeutet, zurück in einen Nationalstaat zu gehen. Vielen ist nicht klar, dass sich GLOBALE Probleme, die uns alle betreffen, auch nur global lösen lassen. Wenn wir uns einigeln, gehen wir früher oder später einfach unter, ohne gekäpft zu haben.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?
 
Es sind meist Menschen, zumindest die ich kenne, die sich ungerecht behandelt fühlen. Die nicht mehr sehen, was sie alles besitzen, und den einen Kapitalismus leben, wo nur immer mehr besser ist und Abgeben schlecht ist. Außerdem wurde in Sachsen in den 90er Jahren alles an sozialen Angeboten auf dem Land gestrichen. Früher hatte fast jedes Dorf einen Jugendclub, heute muss man nach der Nadel im Heuhaufen suchen und auf ehrenamtliches Engagement hoffen, dass die Strapazen der Bürokratie übersteht, und dann auch noch einen Jugendclub am Laufen hält. In meiner Jugend haben sich dann an den freigewordenen Plätzen REP- & NPD-Funktionäre eingeniestet und Veranstaltungen und Konzerte für Jugendliche gegeben. Das Problem ist also in meinen Augen selbst verursacht, da immer nur auf kurze Zeit gedacht wird und selten weit voraus.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Wieso angenommen? Ich glaube (leider), es wird so werden, weil ja auch nach der Europawahl sich keiner einer Schuld bewusst ist und sich untereinander der Schwarze Peter hin und her geschoben wird. Mobilisiert wird auf jedenfall nicht. Ich befürchte Schlimmes für den sozialen und kulturellen Bereich. Vor allem befürchte ich, dass die Vielfalt an Projekten und Vereinen eingestampft werden kann. Ich hoffe nur, dass die Gesetzte vor einer solchen Zensur schützen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?
 
Mit viel Energie und dem richtigen Zugang, wie z. B. Workshops, in denen man klärt, warum Demokratie eigentlich wichtig ist. Problem dabei ist dann meist nur das Argument: Es ändert sich eh nichts. Leider trifft das auch oft zu (bspw. Klimapolitik).

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Indem man die Ängste nimmt und Begegnung schafft.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?
 
Der böse schwarze Mann war für mich der „Mumuumu“ und nicht unbedingt schwarz von der Hautfarbe her, aber schwarz und düster gekleidet. Er hat die Kinder weggefangen, hieß es immer. Allerdings wurde er bei vielen Menschen als Angstbild verwendet, um bei Kindern etwas durchzusetzen!

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politikerinnen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politikerinnen und Bürger*innen?
 
Es fühlt sich so an – nur ein paar Beispiele: Dobrinth, Scheuer, Mortler, Klöckner. Dort habe ich das Gefühl, dass nicht Argumente zählen, sondern wirtschaftliches Interesse. Und das ist nicht gut für eine Demokratie, wenn die Welt etwas anderes braucht.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich denke, dass man bis zu einem gewissen Punkt auch auf Wutbürger eingehen muss. Wenn sich dort jedoch eine Ablehnungswand aufmacht, dann sollte man seine Ressourcen eher bei Menschen einsetzen, die offen sind für Argumente und Neues.
Unsere Jugend sollte generell mehr in den Vordergrund rücken, denn das sind die Menschen, die hier länger leben als ich und somit mit dem, was ich anrichte, leben müssen.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
 
Sehr wichtig. Doch für viele inzwischen ein Fremdwort!

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
 
Wir können Partizipation und Demokratieverständnis einfach leben.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Schlechte Musik, viele Menschen und eine tolle Message. Ich hoffe, dass solche Konzerte öfter passieren, da ich glaube, dass auch dies den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!
 
Dass ich es mir gemütlich mache, weil mir dieses Fleckchen Erde gefällt. Oder jemand beim Wandern K.O. ist.

INTERVIEW MIT BENNO, SOZIALARBEITER

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.
Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich arbeite als Sozialarbeiter in der Oberlausitz und unterstützte Jugendliche bei der Bewältigung individueller Herausforderungen im Alltag. Besonders wichtig ist mir, dass sich alle Menschen wohlfühlen, frei entfalten und positiv entwickeln können.

wbh: Was ist existenziell und notwendig für deine und eure Arbeit?

Verständnis für die Notwendigkeit und Wirkungsmächtigkeit unserer Arbeit auf allen Ebenen der Gesellschaft, insbesondere in der Politik.

wbh: Woran mangelt es?

Wir würden uns über mehr ehrenamtliches Engagement freuen.

wbh: Im Idealzustand: Was wünschst du dir für bessere Grund- und Rahmenbedingungen für deine und eure Arbeit?

Mehr Personal und finanzielle Unterstützung.

wbh: Was sind deine Wünsche an die Politiker*innen?

Gehen Sie auf die Straße und sprechen Sie mit den Menschen. Beim Bäcker, an der Bushaltestelle oder im Freibad. Auch wir würden uns freuen, wenn sich mehr Politiker*innen aktiv für unsere Arbeit interessieren würden. Bei uns angerufen und nachgefragt hat zumindest in den letzten Jahren keiner.

wbh: Was sind deine Wünsche an die Bürger*innen in deiner Stadt?

Ich wünsche mir, dass die Bürger*innen unserer Region häufiger den Austausch mit anderen Menschen suchen – auf Festen oder Diskussionsveranstaltungen – nicht nur untereinander, sondern auch mal über die Grenzen der eigenen Stadt und Gemeinde hinaus. Denn: „… Hinterm Horizont gehts weiter …“ Ich bin davon überzeugt, dass Erfahrungen wie diese unglaublich bereichernd für alle Menschen sein können.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

„Wir bleiben hier!“ bedeutete für mich und uns zunächst einmal ein „Wir kommen zurück!“. Heute heißt es: „Wir bleiben hier!“, denn: „Wer, wenn nicht wir?“.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

… das Gegenteil.

wbh: Was fehlt euch im Vergleich zu einem Leben beispielsweise in Leipzig?

Auffällig ist der Mangel an jungen Menschen mit Ideen und Wünschen für die Zukunft. Der Mangel an (Sub-)Kulturangebot nervt auch manchmal. In unserer Region müssen wir die Dinge deshalb oft selbst in die Hand nehmen und uns unser Kulturangebot erst schaffen, bevor wir es genießen können. Das ist am Ende nicht mal mehr ein Nachteil.

wbh: Gestaltest du Politik mit und wenn ja, wie?

Ich suche aktiv Gespräche mit politischen Interessensvertreter*innen, um für die Dinge, die mir wichtig sind, zu werben.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Unser Erbe ist das unfassbare Glück, zufällig auf diesem Fleck auf dieser Welt geboren worden zu sein. Dieses Glück müssen wir in Verantwortung für nachfolgende Generationen erhalten und im Streben nach Wohlstand für alle weiter ausbauen statt begrenzen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Jahrhunderte lang haben Menschen auf der ganzen Welt dafür gestritten und gekämpft. Ein Idealzustand ist wahrlich noch lange nicht erreicht und bleibt sicherlich auf ewig Utopie. Sich dessen bewusst zu sein, dass ich so frei, so sicher und so gleichberechtigt bin wie kein Mensch vorher auf dieser Welt zu einer anderen Zeit, erfüllt mich mit Ehrfurcht. Es macht mich stolz auf die Menschen, welche mir dieses Leben ermöglicht haben, und macht es mir zur Pflicht, ihre Errungenschaften zu bewahren und fortzuschreiben.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sie sind das Fundament einer aufgeklärten, freien Gesellschaft.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürgerin aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Jede*r kann seinen Mund auf machen – im Sportverein, in der Schlange an der Kasse oder im Stadt- und Gemeinderat. Jede*r kann sich engagieren – in der Kita, im Tierheim oder Jugendhaus um die Ecke. Jede*r kann sich informieren (mehr denn je), Wahlprogramme studieren und kritische Fragen stellen. Jede Stimme zählt!

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Verständnis durch Bildung schaffen. Selbstwirksamkeit ermöglichen und Erfahrungs- und Erprobungsräume unterstützen auf- und ausbauen. Menschen dadurch zeigen, dass ihr Engagement auf allen Ebenen wirkt.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt?

Ja, da vielfach Wissen über parlamentarische Systeme und demokratische Aushandlungsprozesse fehlt.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Dem stimme ich zu. Der Jugend positive Identifikationsmöglichkeiten mit ihrer Region (etwa durch Sportvereine, Jugendclubs und Kulturangebote) zu schaffen, führt dazu, dass Jugendliche spüren, gesellschaftlich integriert und damit Bestandteil einer Gesellschaft zu sein, die allen Menschen Raum zur individuellen Entfaltung ermöglicht. Ich bin davon überzeugt, dass positive Erfahrungen in der Jugend und das Bewusstsein darüber, mehr Möglichkeiten zu haben als die eigenen Eltern oder Großeltern, dafür sorgt, sich die Frage nach dem Grund zu stellen.

INTERVIEW MIT KATJA RÖCKEL

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Mein Name ist Katja Röckel, ich bin 44 Jahre alt und lebe seit 22 Jahren in Leipzig. Seit 1999 mache ich bei Radio Blau (dem nichtkommerziellen Lokalradio in Leipzig) die explizit feministische Musik-/Interviewsendung „Mrs. Pepsteins Welt“. Ungefähr genauso lange arbeite ich bei der Hörfunk- und Projektwerkstatt Leipzig e.V. (früher Radio-Verein Leipzig e.V.) als Medienpädagogin und führe dort mit meiner Kollegin und meinem Kollegen gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen und Multiplikator*innen medienpädagogische Projekte durch. Ich habe in Leipzig studiert, Kinder bekommen und bin im Gegensatz zu einigen meiner ehemaligen Kommilitoninnen geblieben.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Im Rahmen meiner Arbeit bin ich in mindestens drei Netzwerken aktiv: dem Netzwerk Medienpädagogik Sachsen, dem Arbeitskreis Medienpädagogik der Stadt Leipzig und dem AK Mädchen Leipzig. Für letzteren bin ich auch Vertreterin im Gleichstellungsbeirat der Stadt Leipzig. Seit dem ersten Leipziger Frauenfestival bin ich mit im Organisationsteam dieses öffentlichen und kostenlosen Festivals, das in diesem Jahr zum dritten Mal am 29.06.2019 stattfindet. Ich engagiere mich also vorrangig in den Bereichen Medienkompetenz und Feminismus.
In Bezug auf Medienkompetenz ist mir vor allem wichtig, in Sachsen eine solide Basis auch in ländlichen Regionen für Medienkompetenzprojekte im schulischen UND außerschulischen Bereich aufzubauen. Das würde auch politische Bildung maßgeblich vereinfachen.
In Leipzig gibt es in Sachen Feminimus eine starke Szene. Junge Menschen engagieren sich vielfältig in diesem Bereich. Möglich gemacht haben das Frauen, die sich schon seit Jahrzehnten für das Thema in Leipzig stark machen. Ich bin glücklich Teil dieser „Szene“ zu sein, auch wenn es viele verschiedene Einzelinitiativen und Gruppen gibt. Ich bin über die Musik zum Feminismus gekommen und von daher geht es mir auch immer um ausgeglichene Geschlechterverhältnisse auf Bühnen, in Clubs und eigentlich überall.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Jede Person sollte über Politik informiert sein, dazu braucht es aber vielfältige Angebote, sich diese Informationen zu beschaffen. Das ist für viele Menschen nicht wirklich gegeben. Lokale Nachrichten in einfacher Sprache gibt es in Leipzig zum Beispiel gar nicht und auch in vielen Familien wird mit Kindern und Jugendlichen nicht über Politik gesprochen. Die Zeiten, in denen auf dem Küchentisch morgens eine Zeitung liegtlag, sind vorbei, heute checkt man Nachrichten-Apps oder guckt ein YouTube-Video. Daran ist meines Erachtens erstmal nichts schlecht, so lange man Medien auch kritisch hinterfragen und einordnen kann. In gewisser Weise ist das auch eine Vorraussetzung für die Möglichkeit zur Partizipation, also zur aktiven Mitgestaltung. Es ist toll, dass es in Leipzig ein Jugendparlament gibt, in einigen Schulen gibt es auch einen Schülerrat. Mit solchen Angeboten lernen Kinder und Jugendliche sich zu informieren und zu engagieren. Selbstverständlich sollte jede Person selbst entscheiden können, ob und wie sie sich aktiv miteinbringt. Es braucht aber dafür auch Angebote und die fehlen vielerorts. Erwerbsarbeit, schlechte Gesundheitsbedingungen, Zugangsbarrieren, das alles kann auch verhindern, dass Menschen sich gesellschaftlich nicht nur engagieren, sondern überhaupt einbringen können!

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sie sind sehr wichtig: als Orte des Austauschs, der Bildung und der Vernetzung. Auch die Öffentlichkeit, die mit diesen Orten untrennbar verknüpft ist, ist sehr wichtig. Gleichzeitig ist aber auch notwendig, dass alle die Chance haben finanziell bzw. wirtschaftlich abgesichert zu sein.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep. 2019: Was kann jeder Bürgerin aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Wählen gehen! Das ist etwas, das jede Person machen kann. Darüber hinaus kann man sich auch als Wahlhelfer*in oder an Demos gegen Rechts beteiligen, kann in eine demokratische Partei eintreten und und und. Mit Politikerinnen ins Gespräch zu kommen, finde ich auch sehr sehr wichtig. Das sollte unbedingt auch von Politiker*innen selbst forciert werden. Und zwar nicht erst kurz vor der Wahl!

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Ehrlich gesagt hoffe ich, dass es niemals soweit kommt! Es wäre eine Katastrophe. Punkt.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Da gibt es sicher viele Möglichkeiten: von der finanziellen Unterstützung bis hin zur praktischen Unterstützung vor Ort. Und ich als Netzwerkerin würde natürlich auch sagen: weitergeben, weitersagen, weiterempfehlen. Und das heißt nicht nur, es im sozialen Netzwerk zu teilen, sondern unter Umständen auch Leute konkret ansprechen, die eine Hilfe sein könnten! Öffentlichkeit ist immer wichtig für solche Projekte, insofern wünsche ich mir auch eine Berichterstattung nicht nur von lokalen, sondern auch von regionalen und überregionalen Medien.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Das ist schwierig, vielleicht unmöglich … ich denke, da braucht es empathische Personen mit ähnlicher Herkunft und ähnlichem Alter, befürchte aber, das wird, wenn überhaupt nur in Einzelgesprächen klärbar sein.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrantinnen und Muslimen?

Ich komme ursprünglich aus einer Gegend mit einem hohen Anteil an sogenannten „Gastarbeitern“. Meine ersten Besuche in Leipzig fühlten sich seltsam an: „Wo sind denn hier die Ausländerinnen?“, fragte ich mich. Vermutlich ist wirklich das eins der Hauptprobleme: zu DDR-Zeiten waren die wenigen Migrantinnen, die es gab, quasi unsichtbar. Vielleicht kommt es daher? Gepaart mit einer Prise Unwissen und Verlustangst.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politikerinnen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politikerinnen und Bürger*innen?

Ja! Leider! Das trifft sicher nicht auf alle zu, aber ein „Die da oben machen ja doch, was sie wollen“ ist eine landläufige Meinung, die sicher auch nicht ganz unberechtigt ist.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Es geht meines Erachtens immer um ein Miteinander, in dem Meinungen auch akzeptiert und diskutiert werden können. Das gilt unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialen Bedingungen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

„Wir sind mehr“ hat den Blick auf Chemnitz gelenkt, hat gezeigt, dass Chemnitz nicht nur ein einziger „brauner Mob“ ist. Gerade dort braucht es aber Unterstützung für die Personen, die sich vor Ort nicht Rechts positionieren und damit meine ich jetzt nicht nur Aktivist*innen gegen Rechts, sondern auch Bürger*innen, die in Sachsen leben und NICHT mit Nazis auf die Straße gehen. Und ich persönlich hätte gerne auch mehr MusikerINNEN auf der Bühne gesehen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich finde Kampagnen wie diese wichtig – Menschen zu Wort kommen zu lassen, die in Sachsen leben, macht absolut Sinn, denn das ist tatsächlich jahrelang vernachlässigt worden. Außerdem kann die Vielfalt, die so gezeigt wird, anderen ein Beispiel bieten, wie und wo man sich engagieren kann und zwar jede Person so, wie es für sie passt!

INTERVIEW MIT DIRK ROTZSCH

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Geboren in Sachsen, als ein Teil noch Bezirk Leipzig hieß (neben Karl-Marx-Stadt und Dresden), konkret in der Stadt Leipzig, dann lange in der sächsischen Provinz gewohnt, im richtigen Leben Koch, jetzt Küchenleiter – nebenher in Bands gespielt (Ration V, Lament, Raum41), Autor für Zeitschriften, Portale, Anthologien und in eigener Sache (Novelle „Michel“, Co-Autor „Liebe mit Laufmaschen“).

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Aktiv bin ich in unserer Stadt Halle in der AG Sozialpolitik in einer überregionalen Sammlungsbewegung 

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Da ich ja schon seit einiger Zeit Neu-Hallenser mit sächsischem Migrationshintergrund bin (Hallenser behaupten, wenn sie mich sprechen hören, dass es ein Migrationsvordergrund sei), kann ich nur aus meiner Zeit sprechen, als ich in einer Kommune in Sachsen im Umweltausschuss war, da war es immer sachlich und ergebnisorientiert. Ich könnte dir heute nicht einmal mehr sagen, wer da in welcher Partei war. Aber die Quintessenz wird überall die gleiche sein: Wenn es allen wirklich um Ergebnisse geht und keiner Diener zweier Herren ist, wird es funktionieren.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Wer nicht mitgestaltet, der wird gestaltet und selten so wie mensch es sich für sich wünscht. Da die parlamentarische „Demokratie“ sehr anfällig durch Manipulation von Lobbyisten ist, ist es wichtig, dass die Mehrheit sehr deutlich macht, was sie nicht will, sonst schlagen die Politikdarsteller über die Stränge.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Zum Beispiel, indem mensch kritische und unabhängige Medien stärkt, denn Möchtegern-Autokraten – wie kürzlich noch in Österreich – versuchen, zuerst die Medien gleichzuschalten. Profis wie Erdogan und Putin haben genau das geschafft, sonst gebe es die nicht mehr.
Dabei möchte ich ganz klar sagen, dass ich nicht denke, dass die deutsche Medienlandschaft diesen Ansprüchen genügt.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Erbe … ein Erbe kann man ausschlagen: in Hinblick auf einige Zeiträume würde man es gern, denn es war eben kein Vogelschiss in der Geschichte, was da passiert ist. Mein Verhältnis zu unserer Geschichte ist ein ambivalentes – aber seine Herkunft zu leugnen, ist Quatsch, und es gibt immer lichte Momente in unserer Geschichte, bei der sich die Welt die Augen rieb … Und dann reißen wir alles wieder mit dem Arsch ein, wie ein verhaltensauffälliges Kind, das mit zu viel Lob nicht klar kommt (z. B. Flüchtlingskrise 2015).

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Vom Mainstream wünsche ich mir diese „Nach mir die Sintflut“- Mentalität aufzugeben und endlich dem Wachstumswahn und der Umweltzerstörung abzuschwören. Ansonsten wünsche ich mir Empathie, Gelassenheit und Respekt. 

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Ein hehres Ziel am Horizont, analog zu den 10 Geboten der Christenheit – aber da stehen wir noch ziemlich am Anfang eines langen Weges.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Ich vermisse in der Aufzählung familiäre Erziehung: mensch sollte nicht die Erziehung delegieren, und soziale Kompetenz lernt man zuerst zu Hause, und oftmals spiegeln Kinder mit ihrem Verhalten, was in den Familien los ist. Ansonsten sind das natürlich wichtige Katalysatoren, um aus Kindern keine emotionalen und intellektuellen Kretins werden zu lassen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürgerin aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Ganz einfach: Arsch hoch, wählen gehen und vielleicht sich mal die Arbeit machen, die Wahlprogramme zu lesen. Ein Fünftel der sächsischen Bevölkerung scheint es letzthin nicht gemacht zu haben oder sie sind wissenschaftsverweigernde Menschenhasser, die irgendwo im 20 Jahrhundert hängen geblieben sind. Es ist paradox, sich patriotisch zu nennen und Technologien zu verteidigen, die ihr schönes Deutschland zerstören und nebenbei die ganze Welt – aber vielleicht haben sie ja noch eine zweite Welt in der Hinterhand (die Rückseite des Mondes vielleicht) oder zumindest ein Land … ein Gauland.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Sorry, es fällt mir nach zu vielen Jahren AfD schwer, irgendwelche milden Erklärungen zu finden, es ist schlicht Dummheit. Zur Klientel der AfD dürfte nach Wahlprogramm ein Unternehmer zählen, der viele Grundstücke und Mietwohnungen besitzt und Verbrennungsmotoren baut und ein Kohlekraftwerk sein eigen nennt, gerne Arbeitgeberleistungen spart, Arbeitnehmerrechte abschaffen möchte – neben der gesetzlichen Rente und Krankenversicherung – da müssten sich doch viele Ostdeutsche angesprochen fühlen (Ironie aus). Dazu kommt noch rassistische Folklore, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit und Frauenfeindlichkeit – ist doch ein zukunftsweisender Mix (so jetzt aber wirklich den Ironie-Knopf aus). 

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Nun, die ständigen Angriffe auf die Kulturszene, die, sobald sie sich politisch engagiert, als extremistisch diffamiert wird, die GEZ abschaffen – das lässt nichts Gutes erwarten und ein Blick nach Ungarn und Polen zeigt, wo die Reise bei Kultur und Medien hingeht und in Österreich hatten wir ja schon einen Vorgeschmack.
Es ist auch völlig absurd, eine frühe Sexualerziehung bei Kindern zu verhindern, weil es die Kinder zu früh mit Sexualität konfrontiert. Das Tabu macht doch den Missbrauch erst möglich – ich denke, hier muss ich kein Beispiel aus der jüngeren Geschichte einer Religionsgemeinschaft nennen, zumal die Digitalisierung schon für genug Schieflage sorgt bei den Kids – Stichwort Pornographie. Das Kriminalisieren von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften – das war schon vor 35 Jahren peinlich und ich hätte nie gedacht, dass das ernsthaft noch diskutiert wird. Erschreckend finde ich auch die Haltung zu behinderten Menschen und Inklusion. Als von einem AfD-Abgeordneten eine Anfrage im Bundestag gestellt wurde, ob es einen Zusammenhang zwischen Inzucht und Behinderung gäbe, schaute ich zweimal hin, ob nicht statt des Bundesadlers schon wieder das Hakenkreuz hängt. Ein absoluter Skandal, aber die Entrüstung hielt sich in Grenzen. Mit Inklusion können die auch nichts anfangen, dabei sind es ihre Wähler, und das meine ich nicht zynisch, die nah am Rollator und Rollstuhl sind. Und wenn Teile der AfD allen Ernstes die Windkrafträder für den Klimawandel verantwortlich machen, klingt das schon sehr nach Aluhut.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Aufhören, die schweigende Mehrheit zu bleiben und sich nicht darauf verlassen, dass der Andere sich schon engagiert – so wie eine Impfung, die nur funktioniert, wenn sich 95 % impfen lassen. 

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Man könnte sie alle auf Exkursion nach Nordkorea schicken … nein im Ernst. Ein anderes Beispiel: meine Schwester lebt seit ein paar Jahren in den USA, darf aber (noch) nicht wählen. Sie lebt in einem fortschrittlichen Bundesstaat mit jeder Menge verbindlichen Richtlinien für Klimaschutz und dort fährt man schon richtige E-Autos und keine Elektro-Tretroller und dann haben die zum Entsetzen so eine Figur als Präsident, der eigentlich nicht mal wirklich die Mehrheit der Amerikaner hinter sich hat. Hätten da ein paar Desillusionierte ihre Stimme abgegeben, dann wäre es wenigstens eine Frau gewesen.
So schüttelt die ganze Welt (außer Russland) den Kopf über diesen 12jährigen im Körper eines alten Mannes.   

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?
 
Mit Mathematik. Wie kann mensch in einem Landstrich, wie zum Beispiel der Altmark, Angst vor Überfremdung haben – wahrscheinlich ein Ausländeranteil von 1 Prozent. Oder Brandenburg.
Oder wieviele Migranten leben im Vogtland? 
Da lacht der Ruhrpottler oder der Hamburger und schüttelt sein Ayran. Die Angst, in der Wüste zu ertrinken, ist eine eher abstrakte. In Görlitz und der Niederlausitz hat mensch eher Probleme mit EU-Bürgern aus Polen, aber die PIS Partei und die AfD sind ja gute Kumpels, da könnte man es ja auf dem kurzen Dienstweg klären … Die Ängste werden geschürt um abzulenken und es klappt ja immer prima. Der teuerste Wirtschaftsflüchtling ist immer noch der, der sein Liarjet mit der Nase gen Panama geparkt hat. Oder ein fast schon Kalauer: 100 Kekse, der Banker kommt und frisst 99 schnell auf, um hinterher zum Hartz IV-Empfänger zu sagen: „Pass schön auf, das dir der Ausländer nicht den einen Keks wegnimmt“.
Oder: In Europa leben 508 Millionen Menschen, die zicken rum wegen 13.000 Bootsflüchtlingen – selbst eine Million Flüchtlinge sind 0,5 Prozent. 
Den Menschen in Europa in der Unterschicht und teilweise Mittelschicht geht es immer schlechter, das ist Fakt. Aber ein Migrant hat damit nix zu tun. Eher ein Wirtschaftssystem, dass sich überlebt hat.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil man ihn/sie im Osten meist nur aus der BILD kennt und weil man seit Menschengedenken Feindbilder braucht: Jesus hatte die Pharisäer, Luther machte dann gleich weiter mit den Juden insgesamt, den Nazis ist nichts Besseres eingefallen und die neuen Nazis brauchen halt Muslime.
Dabei will ich hier an dieser Stelle ganz klar sagen: jede Religion hat schon ihre Unschuld verloren und sollte absolute Privatsache bleiben. Aber wir fangen ja nicht an, nur weil ein durchgeknallter Christ Menschen erschossen hat, jeden Christen zu kriminalisieren.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politikerinnen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politikerinnen und Bürger*innen?

Parteien und ihre Mitglieder sind eine Minderheit! In Deutschland leben 82 Millionen Menschen, wenn es hochkommt sind eine Million Menschen in einer Partei organisiert – wir brauchen neue, wirklich demokratische Modelle. Als sich die Demokratie entwickelte, gab es da Parteien?

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Die Jugend artikuliert gerade Dinge, die für uns alle von Belang und essenziell sind. Die AfD hat eher dafür gesorgt, dass sie so lange unterm Deckel blieben, weil die Gazetten lieber skandalisieren als analysieren. Was sie ihren Lesern nicht mehr zutrauen, haben die Kids schon mal gemacht: haben mal Analysen gelesen, sich mit Wissenschaft beschäftigt, aber es gibt in allen Generationen kluge Köpfe, es sind halt nur nicht die Lautesten. Und jeder konnte es schon seit Jahrzehnten wissen: Klimawandel, Klimakatastrophe, Klimaflüchtlinge … aber es ist kommoder, den Kopf in den Sand zu stecken, vorzugsweise in den Pauschalreisestrandsand. Die AfD macht es heute nicht anders: leugnen, was sie nicht in der Lage sind zu ändern.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Die Zivilgesellschaft ist das Gegenteil von Barbarei – der ethische „aufrechte Gang“, aber die Zivilgesellschaft gibt es nicht zum Null-Tarif und die Währung ist Zivilcourage.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Sie erst einmal schätzen. Angeblich sind dafür vor 30 Jahren die Menschen im Osten auf die Straße gegangen. Heute findet man es wieder geil, Mauern zu bauen. Mensch exhibitioniert sich im Netz, dass Mielke nicht nur feuchte Augen bekommen würde. Wir betrauern Mauertote und im Angesicht ertrinkender Bootsflüchtlinge geifern wir: „Absaufen, Absaufen!“

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Kein Ruhekissen – siehe USA oder 1933 in Deutschland: Da haben der NSDAP auch 32 Prozent  gereicht, um die ganze Welt ins Elend zu stürzen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Was wäre die Alternative, die nächste Mauer steht in Griechenland oder auf Ceuta. 

INTERVIEW MIT ANDREAS DOHRN

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Aktiv bin ich als
– ehrenamtlicher Mitbegründer der Leipziger „Kontaktstelle Wohnen“, mit der Geflüchtete aus Gemeinschaftsunterkünften in dezentrale Wohnräume umziehen, und der neuen Wohnungsgenossenschaft „Sowo Leipzig eG“
– als Projektpartner der Leipziger und bundesweiten Sharing-Plattform https://leipzig.depot.social/
– als grüner Stadtratskandidat

Begegnungen auf Augenhöhe mit allen Menschen in allen Situationen – dafür trete ich ein.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

In Sachsen Politik zu gestalten, macht doppelt Spaß. Zum einen sind in der postsozialistischen Gesellschaft eines östlichen Bundeslandes mehr Freiräume vorhanden als z. B. in meiner Geburtsregion Stuttgart/Baden-Württemberg. Zum anderen sind größere politische Gefahren zu bekämpfen.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

In der Postmoderne nimmt die Komplexität von Politik zu. Viele lokale Fragen haben inzwischen globale Dimensionen. Diese verleitet einen größeren Teil der sächsischen Bevölkerung zum falschen Rückschluss, dass populistische / einfache / moderne / feudale / menschenfeindliche Antworten gefunden werden. Gute Zugänge zu Politik bieten einzelne Themen, bei denen man sich selber gut auskennt und früh Lösungen mitentwickeln kann. Wichtig sind die Analyse von Zielgruppen (z. B. Schwerpunkt-Gruppen, die von Armut betroffen sind: Arbeiterfamilien mit Migrationshintergrund & Alleinerziehende & Wohnungslose) und das Entwickeln von übertragbaren Modellprojekten

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Indem man Politik an die Orte bringt, an denen die Menschen arbeiten und leben und vorbeikommen. Wesentlich sind die Social-Media-Plattformen Facebook, Instagram & Youtube. Als Sprecher der sächsischen Kampagne „Polizeigesetz stoppen“ ist mir aufgefallen, dass niedrigschwellige Beteiligungsformate (monatliche Plena) & gemeinsames Essen & Moderation sehr wesentliche Politik-Elemente sind.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe ist die Schöpfung Gottes (da kommt der hauptamtliche Pfarrer in mir durch) und unsere Zukunft ist klimatisch auf der Kippe.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Begegnungen mit ausgegrenzten Menschen, gemischte Wohnquartiere, eine andere Wirtschaftsordnung und einen relaxten Umgang mit Zeit.

Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Freiheit bedeutet für mich, dass Freiheit das zu priorisierende Grundmodell von Gesellschaft in Abgrenzung zu „Sicherheit“ ist. Schutz der Menschenwürde wird inzwischen in vielen sächsischen Kommunen mit rassistischen Abgeordneten eine alltägliche Aufgabe vor Ort. Gleichberechtigung zwischen den vielen Geschlechtern ist gefährdet, dort wo bildungspolitisch zu viele Spiele verloren werden.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Die genannten Errungenschaften machen uns deutungsoffen und handlungsfähig. Durch die postmoderne Gesellschaft haben wir an vielen Stellen „2.0-Herausforderungen“, die nur durch die Inputs / Deutungsräume der genannten Institutionen lösbar werden.

wbh: In Hinblick auf die Landtagswahl im September 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Sich in Parteien/Wählervereinigungen engagieren und thematische Wahlchecks mitgestalten, wählen gehen und bekloppten Mandatsträgern dauerhaft + medial auf den Senkel gehen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Sie bietet die Illusion einer nicht-postmodernen, unkomplexen, an DDR-Erfahrungen anschlussfähigen Gesellschaft.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Dann stehen wir einen Schritt vor faschistisch-undemokratischen Entwicklungen á la Österreich, Italien und Ungarn.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Mit Zeit & Geld & guten öffentlichen Worten sowie mit Counterspeech gegen Sprach- und Handlungs-Gangster.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

– Themen überzeugend lösen und in Nischen gefundene Lösungen wirksam verbreiten.
– Kleine Themen-Labore vor Ort entwickeln, in denen Menschen „Unterschiede“ und „Wirkungen“ verstehen

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Indem man ihnen zu neuen Rollen verhilft. Im Erzgebirge habe ich mit Langzeitarbeitslosen eine professionelle Arbeitsvermittlung aufgebaut (www.zeit.de/2010/04/S-Am-Start).

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil sie unsicher sind und wenig konkrete Begegnungsflächen haben und selbst ihren Platz im postmodernen Feld nicht gefunden haben.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Es herrscht eine Riesenkluft. Und es herrscht der Irrtum vor, dass mit Rassisten Dialoge zu führen sind.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Rassisten brauchen Stress, frühes Pressing und spürbare Nachteile – es braucht als eine andere Art der Beschäftigung. Aktuell gibt es viele Akteur*innen, für die Rassismus ein monetär attraktives Geschäftsmodell ist (z. B. bezahlte Politik bzw. Abgeordneten-Zuarbeiter*innen). Es gilt, das Geschäftsmodell unattraktiv zu machen.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Superwichtig. Und es braucht das gesellschaftliche Leadership von Brücken-Personen, die vor Ort von mehreren Milieus anerkannt werden. In Leipzig haben wir 1.000 Brücken-Personen, die zusammen hohes Pressing spielen. Deshalb haben wir stärkere Ergebnisse als in Dresden.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Durch Zeit, Energie, überzeugende Projekte und Präsenz vor Ort.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Dass der Satz stimmt und dass die Apathie der Mittelschicht und der Oberschicht dringend ein Ende haben muss.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Wir sind auf dem gesellschaftlichen Platz bestimmend. Und die Feinde der offenen Gesellschaft merken ab der ersten Spielminute, dass es keinen Zentimeter Platz für Menschenfeindlichekit gibt.

Ganz lieben Dank für die Beantwortung unserer Fragen

(Foto: Martin Neuhof/Herzkampf)