INTERVIEW MIT SALKA SCHALLENBERG

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Mein Name ist Salka Schallenberg, ich bin 47 Jahre alt. Ich denke, ich bin ein weltoffen und kritisch denkender Mensch. Ich lese gern und bin glücklich, dass ich eine tolle Familie habe.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

In Magdeburg arbeite ich zusammen mit Bernd seit über 18 Jahren als Journalistin für das InternetTV kulturmd, dass seit zehn Jahren zudem Lokalfernsehen ist. Als Journalistin ist es mir wichtig, die Zuschauer für Themen zu wecken und alles zu hinterfragen. Gerade in Zeiten von Fake News ist es wichtig, nach dem Pressekodex zu arbeiten.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Wir leben in einer Demokratie und das erfordert von jedem selbst etwas zu tun, sich einzubringen. Denn Demokratie ist nicht selbstverständlich und auch nicht einfach da. Als DDR-Kind, dass ich nun mal bin, weiß ich das zu gut. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten sich einzubringen und das ist gut. Selbst Kinder und Jugendliche können zur Sprechstunde mit einem Bürgermeister.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Unser Sender versucht, die Zuschauer durch Reportage und Interviews für gesellschaftspolitische Themen zu interessieren, sie zum Nachdenken anzuregen. Jedes Jahr fahren wir zum Beispiel zur Leipziger Buchmesse. Hier treffen wir gut 15 Autoren zum Interview. Die Bücher habe ich mir vorher bewusst ausgewählt. In diesem Jahr traf ich zum Beispiel Christian Schüle zu seinem Buch „In der Kampfzone“, in dem er sich sehr kritisch mit unserem aktuellen Gesellschaftssystem auseinandersetzt. Oder die Autorin Bernadette Conrad zu ihrem Buch „Groß und stark werden. Kinder unterwegs ins Leben“. Hier spielt die verlorengegangene Kindheit, wie wir sie noch kannten, und die heutigen Herausforderungen an die Kinder eine große Rolle.
Die Interviews schalten wir zunächst kurz nach der Buchmesse und übers Jahr thematisch.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe ist ein politisches Gesellschaftssystem, dass leider aktuell krankt und in dem wieder mal Reformen und neue Denkanstöße nötig sind. Und auch die Umwelt ist über die Jahre stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Für die Zukunft gibt es viel zu tun, ich denke es ist noch nicht zu spät. Alles sollte kritisch auf den Prüfstand gestellt werden.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Ich wünsche mir, dass eine Debatte offen geführt wird und auch mal eine andere Meinung akzeptiert und toleriert wird.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Freiheit ist ein großes Wort – ich als Journalistin lebe das eigentlich schon, auch wenn es von staatlicher und gesellschaftlicher Seite immer mal Einschränkungen gibt. Aber ich kann selbst entscheiden, was ich tun möchte, das ist Freiheit.
Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung sind zwei wesentliche Dinge, die tagtäglich weltweit aufs Neue erkämpft werden müssen. Selbst im kleinen eigenen Umfeld gibt es Ausgrenzung. Jeder selbst kann etwas für den Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung untereinander tun.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

All das ergibt ein gutes Miteinander, so lernen wir respektvoll miteinander umzugehen. Ohne Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser wäre die Gesellschaft wohl arm und das ganze Leben eintönig. So gibt es immer mal wieder frischen Wind für neue Ideen. Es lässt uns vielleicht auch mal um die Ecke sehen. Ich denke, alles in allem ist all das eine gute Brücke, um alle in der Gesellschaft zu erreichen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Leider haben wir den Rechtsruck bei uns in Sachsen-Anhalt schon sehr lange – eigentlich seit den 1990er Jahren. Besonders als unter Ministerpräsident Reinhard Höppner kein linkes Bündnis mit Petra Sitte zugelassen wurde. Und genau zu der Zeit hat sich Miteinander e. V. 1999 in Magdeburg gegründet. Dieses Bündnis hat in den letzten Jahren gezeigt, dass jeder Bürger sich aktiv für mehr Toleranz und gegen rechtes Gedankengut einsetzen kann. Sei es der aktiven Teilnahme an Workshops, Familienfesten, Gesprächen in Schulen oder auch mit Petitionen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Auch in Sachsen-Anhalt haben wir uns gefragt, warum zur Landtagswahl 2016 die AfD mit 24,3 % zweitstärkste Kraft wurde. Viele Kulturschaffende mit denen wir vorher sprachen, sahen die Gefahr leider nicht.
Ich denke, dass im Osten der Republik viele Bürger das Gefühl haben, dass sie missverstanden sind und sich nicht in die Politik einbringen können. Vielleicht liegt es daran, dass die Politik mit den potentiellen Wählern nicht ausreichend kommuniziert und nicht ausreichend auf ihre Bedürfnisse eingeht.
Zum anderen spielt vielleicht auch der Bruch in den Biografien durch das Ende der DDR 1990 eine Rolle. Nie richtig ankommen im neuen Deutschland, als Ossi immer die zweite Wahl. In ein anderes Gesellschaftssystem gewechselt, ohne seine Heimat zu verlassen, das war für die Meisten nicht einfach.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Zieht in Sachsen die AfD mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, hat das sicher immense Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales.

In Sachsen-Anhalt ist die AfD mit 24,3 % als zweitstärkste Kraft 2016 in den Landtag gezogen. Seitdem hat die Partei immer wieder große Anfragen gestellt, damit Unruhe gestiftet. Das beste Beispiel ist der Verein Miteinander e. V. , der sich seit gut 20 Jahren gegen Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt engagiert.

Die AfD hat Ende 2017 zu diesem Verein eine Anfrage von 236 (!) Fragen an die Landesregierung gestellt. Ende April 2018 war die Anfrage beantwortet.

Wer Zeit und Muße hat, sollte sich diese Anfrage mit den Antworten ansehen: https://www.landtag.sachsen-anhalt.de/fileadmin/files/drs/wp7/drs/d2791lag.pdf

Die Antworten zeigen aber auch, dass wir momentan eine Landesregierung haben, die mit einem Bündnis aus Bündnis 90/Grüne, SPD und CDU eine gute Politik macht. Auch wenn es nicht immer einfach ist und es auch kontroverse Diskussionen im Landtag gibt, gegen die Politik der AfD ist man sich einig.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Ein gutes Beispiel in Magdeburg ist das jährliche Fest der Begegnung. 1994 hatten wir die Himmelfahrtskrawalle, die Magdeburg als Stadt der Nazis abstempelten. Seit 1996 gibt es das Fest der Begegnung am Himmelfahrtstag, organisiert von der Polizei, den Kirchen und zahlreichen Initiativen und Vereinen.
Inzwischen ein Fest, dass über 4.000 Besucher anzieht. Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen können sich mit Angeboten und Ständen präsentieren und vor allem mit Bürgern ins Gespräch kommen. Seit vielen Jahren ist es ein Ort der interkulturellen Begegnung.

Von daher ist es wichtig, dass Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort die Möglichkeit haben, sich aktiv zu entfalten und vor allem mit Bürgern ins Gespräch zu kommen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Eine Antwort darauf zu geben, wie man Nichtwähler*innen erreichen kann, damit sie wählen gehen, ist sehr schwierig. Wir versuchen es tagtäglich mit unserer Berichterstattung in unserem Lokalfernsehen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Ich denke, es ist ganz wichtig, dass man diesen Menschen zeigt, dass sie in der Gesellschaft gebraucht werden und eine Stimme haben. Über ehrenamtliches Engagement lässt sich das glaube ich gut lösen. In Vereinen zum Beispiel erhalten die Akteure Wertschätzung und eine wichtige Aufgabe für ihr Leben. Die Magdeburger Stadtverwaltung organisiert jährlich eine Messe zum Thema Ehrenamt, eine gute Möglichkeit um mit Vereinen ins Gespräch zu kommen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Es fehlt ihnen hauptsächlich die Begegnung mit diesen Menschen und ihrer Kultur. Und es ist die Angst, dass sie etwas von ihrem hart erkämpften (kleinen) Wohlstand abgeben müssten. Vor allem wäre es wichtig, dass man bereit ist auf Migrant*innen und Muslime zuzugehen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politikerinnen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politikerinnen und Bürger*innen?

Ich denke schon, dass das so ist – die Politik ist seit Jahren in ihrem Trott und über die Zeit ist die Kommunikation mit den Bürgern verlorengegangen. Da bleibt vieles auf der Strecke.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Jeder hat wohl das Recht ernst genommen zu werden. Die Besorgten, die Wutbürger und genauso die Jugend. Zum anderen sind die Besorgten, die Wutbürger die Eltern oder Großeltern der Jugend.

Die Jugend nimmt das mit in die Zukunft, was ihnen in die Wiege gelegt wurde – das kann auch wieder Frust sein, aber genauso auch der Mut etwas zu ändern.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Zivilgesellschaft und Zivilcourage sind ein wichtiger Teil unserer Demokratie – ohne engagierte Bürger und Bürger, die füreinander einstehen, lebt das System nicht.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir jeden Tag unseren Beitrag dafür leisten, im Kleinen wie im Großen. Wir wollen Freiheit und sozialen Wohlstand, also müssen wir selbst etwas dafür tun. Das bedeutet nicht, dass wir Andere dafür ausgrenzen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Eine wichtige Bewegung vieler Akteure, die seit der Aktion in Chemnitz immer weitergetragen werden sollte und am Leben bleiben sollte. Über die sozialen Medien ist soviel möglich und das sollte im positiven Sinne genutzt werden.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich dachte ehrlich gesagt, als ich von der Kampagne „Wir bleiben hier“ las gleich „Ist es wieder soweit?“ Vor 30 Jahren (!) gab es auch einen ähnlichen Slogan derer, die in der DDR bleiben und hier etwas verändern wollten – da waren wir junge Erwachsene und jetzt sind wir es, die etwas in unserem Land bewegen wollen und unsere Kinder, die junge Erwachsene sind.

Von daher unterstütze ich gern die Kampagne #wirbleibenhier.

Und es gibt etwas, dass mein Leben geprägt hat. Die Geschichte meiner Großeltern ist die von Flucht und Ausgrenzung – sie hatten nur wenige gemeinsame Jahre in Frieden. Meine Großmutter floh 1925 mit einem deutschen Kommunisten aus Petersburg nach Deutschland. Mein Großvater musste als Künstler erleben, wie die Nazis seine Bilder als entartet einstuften. Auch in den ersten Jahren in der DDR musste er durch die staatliche Kulturpolitik erfahren, dass er sich als Künstler nicht frei entfalten kann.

Foto: Bernd Schallenberg

INTERVIEW MIT TOBIAS PRÜWER

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich lebe als Journalist und Buchautor in Leipzig, wohin ich einst aus Erfurt zum Studium zog. Nach meiner Jugend in den 1990ern und den dauerhaften – oft gewaltdrohenden oder -tätigen Erfahrungen mit Nazis – wollte ich eigentlich nie mehr und weiter in Ostdeustschland leben. Allein die Studienfachwahl zwang mich dazu. Seitdem genieße und verteidige ich den Leipziger Süden als kleine Insel der Glückseligen.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich versuche als Journalist den kritischen Blick auf Wichtiges oder Zu-Beanstandendes zu richten. Dabei versuche ich, immer fair vorzugehen – aber wohl wissend, dass es nie ganz wertfrei zu haben ist. Denn politische Neutralität existiert nicht, die Idee einer unpolitischen, ja: unideologischen Mitte ist selbst eine hartnäckige Ideologie.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Wenn es um linke, oder besser: emanzipatorische Anliegen geht, winkt hier oft gleich die Kriminalisierung.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Weil das das Wesen von Demokratie und des Politischen ist.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Ein besseres menschliches Miteinander, das auch den Widerstreit und Dispute nicht scheut.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sie sind essentiell und gerade in diesen Bereichen steht die Finanzierung in Sachsen immer wieder auf dürren und wackligen Beinen. Was auch schon viel aussagt.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Die Gründe sind zu komplex, um alles hier differenziert und in Kürze betrachten zu können. In diesem kausalen Mosaik spielen von Gefühlen der Zurückweisung und realen Biografiebrüchen (die werden ja immer angeführt) bis hin zu geschlossenen rechten oder nazistischen Weltbildern, von historisch überliefertem Überlegenheitschauvinismus und Regionalismus, militaristischen Männerbildern viele Steinchen eine Rolle. Sicher, auch die soziale Lage darf nicht verkannt werden: Aber, nur weil man arm ist, wird man nicht Nazi. Hinzu kommt das Herunterspielen von Nazigewalt durch akzeptierende Jugendarbeit und in Sachsen durch fast 30 Jahre CDU-Regierung. Wenn der hiesige Ministerpräsident Klimaschutzpolitik mit der AfD gleichsetzt, spricht das Bände. Was der AfD-Erfolg nicht ist: ein reines Ostproblem. Der »Osten« an sich reicht aber auch nicht als Erklärung und sollte auch in solchen Aufzählungen vermieden werden, damit nicht die ewige Opferrolle wieder bedient wird.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Die Zeiten werden härter. Aber seit 2015 ist das Gefühl eh wieder: back to 90s. Man schaue sich nur rechte Straßengewalt und Hassverbrechen an. Die Fördermittel für bestimmte Projekte werden sicher schwinden. Regionen mit besonders hoher AfD-Quote werden auf Dauer wirklich abgehängt, weil dort niemand anderes hinziehen, arbeiten oder investieren will.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Kann ich das? Einzelne vielleicht. Erstmal müssen wir akzeptieren, dass es so zwischen 20 bis 30 Prozent Menschen hier gibt, die kein Problem haben, menschenfeindliche Positionen zu wählen oder diese aktiv und mit Gewalt zu vertreten. Das müssen wir erst einmal einsehen und akzeptieren – nicht tolerieren. Und dann überall Widerstand zu diesen Positionen zeigen. Und wenn mal wirklich einer von denen mit sich reden lässt, wahrscheinlich am ehesten im Privaten, dann kann man das machen. Aber bitte keine Podien mehr für Nazis, Nationalisten & Co. Immerhin gibt es dahingehend ein kleines Einsehen, man schaue sich den Evangelischen Kirchentag an (dass ich das mal sagen werde …).

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil die meisten (mindestens) von ihnen RassistInnen sind.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Völlig d‘accord, siehe oben.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Davon lebt die Demokratie, die halt immer wieder verteidigt und um sie gestritten werden muss – und erweitert. Emanzipation ist ein Prozess, kein Zustand oder Stillstand.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ich habe große Probleme mit Kollektivbegriffen – auch mit »Wir«. Wer soll da gemeint sein? Wenn das alle umfasst, die Menschenfeindlichkeit ablehnen, okay. Ich weiß nicht, ob das mehr sind; zumindest nicht in allen Regionen hier.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleiben werde. Wenn ich denke, dass das Streiten nicht mehr lohnt, gehe ich. Ich beschäftige mich seit 30 Jahren immer wieder mit Nazis – das kann nicht der ganze Lebensinhalt sein. Da bin ich egoistisch. Und so wichtig das Streiten gegen Nazis & Co. ist, es ist auch nicht ungefährlich, im Gegenteil. Daher verstehe ich jeden, der/die nicht mehr die Rübe hinhalten will, sondern das schöne Leben woanders sucht.

Foto: Franziska Reif

INTERVIEW MIT MIKKI SIXX

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin Sozialarbeiter im Betreuten Wohnen für Jugendliche aus zerütteten Familien, denen wir einen besseren Start ins Leben ermöglichen wollen, als sie ihn von zuhause, aus der Familie heraus, hätten.
Nebenbei mache ich noch schrecklich lärmige Musik in ner Punkrock-Band, habe eine Talkshow und eine Musiksendung beim freien Radio der Radiofabrik Salzburg und veranstalte unter meinem weiblichen Alter Ego, Miss Candy Coxx, Konzerte und Achtzigerparties.
Zusätzlich bin ich noch Präsident der Turbojugend Salzburg sowie Präsidentin der Turbojugend Whiskey. Bei ersterer booke ich auch hin und wieder unter Double Rumble kleine, aber feine Konzerte.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Sozial am Engagiertesten bin ich natürlich in meinem Job als Sozialarbeiter, zumindest nach meiner Definition.
Jedoch bringe ich bei meinen kulturellen Aktivitäten ebenso Menschen zusammen, transportiere politische Inhalte und engagiere mich auch und vor allem bei meiner Talkshow „Talk2Much“, gemeinsam mit meiner Freundin Mea Schönberg, für gesellschaftspolitisch relevante Themen und Gäste.
Dabei stehe ich gegen jegliche Homophobie, Rassismus, Sexismus und Ausländerfeindlichkeit.
Genauso wie in meiner Arbeit mit den betreuten Jugendlichen thematisiere ich meine freiheitsliebende und demokratische Grundhaltung vor allem in Situationen, wo Minderheiten angegriffen werden, unreflektiert Ängste gegen Fremde geschürt werden, und ich versuche meine Werte rüberzubringen, Fakten zur Verfügung zu stellen und mit den Menschen zu diskutieren – für ein besseres Zusammenleben aller (inklusive Tiere übrigens, auch wenn und gerade weil die nicht selbst reden können)!

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Das ganze Leben ist politisch. Was ich kaufe, welche Bands ich mit meinem Geld supporte, jede Entäußerung, die mehr als meine beiden Ohren erreicht (Hallo, Selbstgespräch.) ist eine artikulierte politische Entscheidung und/oder Ansage. Insofern muss sich jede/r überlegen wofür und wogegen er/sie/es einsteht.
Allein dadurch ist man schon politisch engagiert und gestaltet aktiv.
Beispiel: Jemand beleidigt eine/n MigrantIn im Supermarkt am Kühlregal. Ich stehe in Hörweite und sage was dazu oder auch nicht. Beides ist eine Position beziehen.
Wer schweigt, stimmt zu. Easy as that.
An der konkreten Situation ändert sich nämlich was, wenn ich was sage und einschreite.
Es muss nicht immer nur Wählengehen sein – es gibt jeden Tag Situationen, wo man in Interaktion mit anderen Menschen die Welt ein bisschen besser machen kann und gegen Ungerechtigkeiten im Kleinen direkt ankämpfen kann. Man muss es nur machen.
Mund auf! Nicht Augen zu!
Ansonsten nicht wundern, wenn Du in der Diktatur aufwachst!

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich habe in letzter Zeit das Gefühl, dass das immer weniger einfach wird, da vor allem soziale Medien eine Schnelligkeit der Informationsweitergabe (ob Fakten oder Fake News, ist dabei egal) haben, die die wenigsten von uns noch händeln können, geschweige denn wollen. Da ziehen sich jene, die mitdiskutieren und -denken wollen, recht schnell zurück.
Diese Grundwerte müssen also, meiner Meinung nach, ganz oldschool analog über Schulbildung (hat der Staat da noch genügend Interesse dran und fördert er dieses mit Geld?) und
über die Familien und Eltern (was hat die Elterngeneration von ihren Eltern vermittelt bekommen und inwieweit ist diese Elterngeneration gut genug vorbereitet, selbst Erziehungsverantwortung zu übernehmen und zu leisten?) vermittelt werden. Und in unseren Beziehungsnetzwerken aus Peer Groups und Subkulturen bei Jugendlichen, und im Freundesumfeld etc.
Das afrikanische Sprichwort zum Thema lautet: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Das globale Internetdorf und die eigenen Eltern reichen dafür nicht bzw. sind ungeeignet, weil dort die Wertvorstellungen – wie schon angedeutet – moralisch nicht immer einwandfrei auf Wahrheit beruhend und demokratisch sind.

Das Internet wirds nicht richten, die LehrerInnen in den Schulen allein auch nicht. Wir alle sind gefragt!

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe, speziell im Osten, ist, dass wir nach unserer Großelterngeneration, die eine rechtsnationalistische Diktatur und ihre Folgen erleben und durchleben mussten, eine sozialistisch-linke Diktatur erleben und durchleben konnten – und nun eigentlich wissen müssten, dass jedwede Art von Diktatur, welcher Coleur auch immer, scheiße ist und allen schadet. Vor allem der Freiheit der/des Einzelnen.
Nebenbei hätten wir Ostler (ich bin 1973 in Leipzig geboren und war beim Mauerfall 16 Jahre alt, also hab a wengl was mitgekriegt von der DDR) auch wissen können, dass der „verottende, stinkende Kapitalismus“ nach Herrn Schnitzlers („Der schwarze Kanal“) Analyse, nicht bloße Propaganda war. Es ist mitnichten so, wie es uns heute oft Glauben gemacht wird, dass der Kapitalismus das überlegene und für alle Menschen bessere System ist. Er hat im Boxkampf der Systeme lediglich am Ende noch gestanden – gewonnen hat er nicht.
Kapitalismus ist ein zutiefst menschenverachtendes, den Planeten schädigendes System, welches immer mehr zerfällt (siehe Bankenkrise, siehe Umweltschäden/Klimawandel etc.), welches für niemanden – nicht mal die Superreichen und MonopolinhaberInnen – langfristig gut ist. Nein, jetzt kommt nicht das Indianersprichwort …

Ich hab mir all das schon 1989 gedacht, mit 16, weil ich im Unterricht aufgepasst habe und anfing, Vergleiche zu ziehen … Was ist der Unterschied zwischen HJ und FDJ, war eine meiner Fragen im Geschichtsunterricht. Schnappatmung beim Lehrer, Gespräch beim Direktor, 1985 … Meinem Opa habe ich 1989 das Wort genommen, als er ebenfalls „Deutschland einig Vaterland!“ und „Unter Kohl wird alles besser, endlich ist Erich weg“ auf einem Geburtstag skandierte, indem ich ihm voraussagte, dass er in weniger als einem Jahr gegen Kohl wettern würde, weil tausende, so auch er, Freunde usw. ihre Arbeit verlieren würden … Es kam so, es war absehbar. Aus Geschichte könnte man lernen, sie ist unser Erbe, unser Wissen.

Unser Umgang mit ihr und der Bildung darüber ist unsere Zukunft. Läuft das gut und wir lernen daraus, wird vielleicht noch alles für alle gut – tun wirs nicht, wird der Klimawandel oder irgendein bescheuerter Atomkrieg uns auslöschen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Weniger ich, mehr wir. Egal worum es geht.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Dass ich in Frauenklamotten ausgehen kann, ohne das man mich totschlägt oder einsperrt.
Und dass das auch für jede andere Minderheit auf diesem Planeten möglich ist bzw. möglich sein sollte.
Alle sollten so sein können dürfen, wie sie sind, ihr Leben leben dürfen, wie sie es leben wollen, solange sie damit niemanden anderen einschränken oder anderen damit Schaden zufügen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sie sind essenziell für unser Zusammenleben. Wir müssen, gerade in Zeiten wie diesen, noch viel mehr Geld in genau diesen Bereichen investieren.
Und bei letzterem Punkt müssen wir unsere Arbeits- und Lebensbedingungen endlich zu unseren Gunsten verändern. Weniger Arbeit, weniger Druck, mehr Freizeit. Bedingungsloses Grundeinkommen, Umschichtung von Vermögen, bessere Verteilung von Ressourcen … technisch geht da weit mehr als man uns bisher erlaubt. Viele sind arbeitslos, während wenige sich kaputtarbeiten und trotzdem kaum davon leben können. Warum? Weil das System bzw. jene Wenigen, die davon wirklich profitieren, den Vorteil des technischen Fortschritts nie der Arbeiterklasse zukommen lassen, sondern immer sich selbst. Dies führt zu immer mehr psychischen Krankheiten, die ich auch in meiner Arbeit von Jahr zu Jahr bei den Eltern der zu betreuenden Jugendlichen steigen sehe, und die sich auf die Jugendlichen negativ auswirken, Co-Abhängigkeiten etc.
Es muss ein generelles, gesellschaftliches Umdenken stattfinden.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Wählengehen und andere diskussionsbereite Menschen in ihrem Umfeld motivieren, es ihnen gleich zu tun. Künstlich von PopulistInnen und Neoliberal-NationalistInnen geschürter Angst mit Fakten begegnen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Verfehlte Arbeits- und Sozialpolitik in der Ära Kohl, der Ära Schröder und der Ära Merkel – wobei Angi sich sehr bemüht hat, für das was man in der CDU halt machen kann.
Der Ist-Stand in nahezu jedem europäischen Land ist eine Pattsituation der sogenannten Volksparteien, also in Deutschland CDU und SPD und z. B. in Österreich ÖVP und SPÖ, in der jeweils kein richtiges, politisch trennscharfes Profil der beiden rechts-links-Strömungen mehr zu erkennen, und scheinbar der Machtwille einziger noch vorhandener Antrieb ist, Politik zu machen.
In Sachsen und Brandenburg kommt erschwerend hinzu, was ich weiter oben bereits unter „aus der Geschichte nichts gelernt“ subsumiert habe.
Das ist dann bester Boden für sogenannte „Alternativen“, die eben keine sind.
Solange sich die Sachsen und BrandenburgerInnen ernsthaft einreden lassen, dass ihre Feinde die ZuwandererInnen sind, haben sie nichts über den Kapitalismus begriffen, dessen Vorteile und den kleinen Wohlstand, den er ihnen ermöglicht sie weiter genießen wollen, unwillig etwas zu ändern, damit es allen besser geht, und der Planet nicht an die Wand gefahren wird. Rechts-Links ist nur Ablenkung von der krampfhaften Erhaltung des Status Quo, welcher längst unhaltbar geworden ist.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Ich würde ja gerne behaupten, die haben keine Programme und bewegen nichts – man soll die mal machen lassen und dann sehen alle was für Dampfplauderer und Halunken die sind, aber leider, leider hatte ich gerade die Ehre unter einer ÖVP-FPÖ-Regierung zu leben, die bereits in kürzester Zeit einen neoliberalen Sozialabbau zugunsten des Kapitals und eine extrem ausländerfeindliche und nationalistische, sich selbst isolierende Politik umgesetzt hat, die alles Aufgezählte kaputt macht … Diese Leute sind nicht wählbar und sie arbeiten nie für jene, die sie wählen.
Wer das Ibiza-Video von Johann Gudenus und HC Strache nicht diesbezüglich verstanden hat, dem kann ich dann nicht mehr helfen. Egal, wie die in Deinem Land heißen: Sie scheißen genau auf Dich, kleine Frau und Dich, kleinen Mann 😉
Also: Die Auswirkungen wären verheerend.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Informiere Dich, wer sich bereits engagiert, von NGOs bis hin zu Parteien, die sich für Umwelt und Soziales einsetzen, gibt es überall lokale Initiativen, denen man sich anschließen oder die man zumindest unterstützen kann. Act local, think global. Aus klein wird groß!
Und schau genauer hin, wer Deinen Interessen und dem Überleben des Planeten im Wege steht, und wer dafür eintritt, dass Du auch in 30 Jahren noch ohne Schutzanzug im Garten rumlaufen kannst! Falls Du Kinder hast, solltest Du in noch längeren Zeitabschnitten denken, und auch so wählen!
Klimaleugner und sonstige populistische „Alternativen“ schneiden da nicht so gut ab, kann ich Dir schon mal verraten.
Und wer selbst zu faul zum Recherchieren ist, es gibt online immer diese schönen Wahl-O-Maten …

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Reden, diskutieren, einbeziehen – und dabei nicht müde werden!

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Ich bin mir nicht sicher, ob das so einfach geht. Die Politik müsste massiv in Soziales investieren und nicht weiterhin eine Systemerhalter-Agenda pro Kapitalismus fahren. Dazu müssten aber die richtigen Parteien eine Mehrheit bekommen, die jene, die Angst haben, nie wählen würden. Daher Bildung, Bildung, Bildung und Grundwertevermittlung!

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Sitzen eine ArbeiterIn, eine BänkerIn, eine FabrikbesitzerIn und eine MigrantIn am Tisch, vor ihnen elf Kekse. Als es ans Aufteilen geht, nehmen sich die MigrantIn einen Keks, BänkerIn und FabrikbesitzerIn je fünf Kekse …
… und sagen zur ArbeiterIn: „Die MigrantIn nimmt Dir Deinen Keks weg!“
Stumpf, aber exakt so ist es.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Die Kluft herrscht zwischen Arm und Reich. Nur sehen die Armen nicht die Ursache, sondern lassen sich von den NutznießerInnen des Systems angebliche Feinde oder Ursachen zeigen.
Und dann gibts noch die Wohlstandsmenschen, die eigentlich ziemlich okay leben, aber fast noch mehr Angst haben, das alles zu verlieren, als es die wirklich Armen je hätten. Die sind allerdings in meinen Augen einfach nur EgoistInnen, da man auf diesem gesellschaftlichen Level optimale Bildung haben muss, insofern also genau weiß, dass die MigrantIn ihnen nicht den Keks wegnimmt, sondern BänkerInnen, FabrikbesitzerInnen und PolitikerInnen …

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich kann diese Einschätzung teilen, denn bestimmte Generationen sind bereits verloren und scheren sich nur um ihren Wohlstand in der ihnen verbleibenden Lebenszeit.
„Making Room For Youth“ macht da absolut Sinn, denn sie will leben, die Jugend, und sie sieht, wie ihre Felle davon schwimmen, wenn sie Zugang zu Bildung und Fakten hat.
Was Hänschen nicht gelernt hat, lernt Hans nimmermehr und so …

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Super wichtig! Wenn bestimmte gesellschaftlich-demokratische Strukturen wie z. B. die etablierten Volksparteien nichts mehr an Werten und demokratischer Struktur vermitteln können, dann sind wir alle in der Verantwortung. Und ausgehend vom Anfang des Interviews ist jede/r von uns politisch, bei allem was wir tun … die Geschichte von oben im Supermarkt ist einfache Zivilcourage.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Ihre Werte vertreten und wählen gehen ist das Minimum – selbst Projekte und Initiativen starten oder sich anschließen und engagieren wäre toll.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Wir sind mehr, natürlich. Ist ein Fakt. Soziale Medien gaukeln hier ein unrealistisches Bild vor, aber leider auch ein Bild, welches, vielleicht noch mit ein bisschen Algorithmusmanipulation, Wahlen entscheiden kann und schon entschieden hat. Vielleicht sollte wieder mehr im richtigen Leben, mit auf der Straße demonstrieren, passieren, damit man das „mehr“ auch sehen kann.
Das Konzert selbst in Chemnitz war ein gutes Signal, bewirkt aber langfristig vor Ort nichts, wenn die wenigen, die sich dort engagieren, nicht mehr Zulauf bekommen – und es jeden Tag mehr werden.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

In meinem konkreten Fall, dass ich 2003 von Leipzig weggegangen bin, aber nicht, weil ich meine Mit-SächsInnen damals schon für ausgemachte Nazis hielt, sondern aus Liebe.
Und Liebe ist es auch, wenngleich nicht dieselbe, die mich in Salzburg hält.
Vielleicht ist Liebe auch – super, ich bin doch Hippie – echt die Antwort.

INTERVIEW MIT JENNIFER SONNTAG

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich darf mich als Cocktail aus Fernsehmoderatorin, Buchautorin, Inklusionsbotschafterin und Sozialpädagogin bezeichnen und für mich machts genau die Mischung, weil sich die Bereiche gegenseitig befruchten und ich auch für viele soziale Themenfelder ganz neue kreative Wege erfinden und pflastern kann. Ich lebe in Halle, wirke aber in Halle und Leipzig und bin Leipzig subkulturell auch durch meinen Partner DiRot sehr verbunden.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Inklusionsbotschafterin bin ich bei der Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ (ISL). Ich berate und berichte rund um Barrierefreiheit, Teilhabe und Selbstbestimmung und setze mich generell publizistisch für eine vielfältige Gesellschaft ein. Auch in der Sendung „Selbstbestimmt! Zeige ich seit inzwischen über 10 Jahren Flagge für diese Inhalte. In einem Großteil meiner Bücher bearbeite ich soziale Missstände und kläre über Lebenswelten am Rande der Gesellschaft auf. Ich hoffe, dass das jetzt nicht kitschig klingt, aber ich möchte eben gerade als Blinde der Ignoranz die Augen öffnen und Menschen sichtbar machen, die für einen Großteil der Bevölkerung unsichtbar sind. Mit diesen unsichtbaren Schicksalen bin ich als Sozialpädagogin seit nahezu 20 Jahren vertraut und immer wieder erstaunt, wie unsicher und befremdet Menschen werden, wenn mal jemand anders ist oder anders aussieht, als sie selbst und wenn sie mit Ungewohntem konfrontiert sind.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Ich bin eine große Freundin von Aktionsgruppen, die auch wirklich aktiv sind und etwas bewegen, etwas bewirken, nicht nur rumsitzen und sich gern reden hören. Allerdings habe ich auch großen Respekt vor politischen AktivistInnen, die die Geduld aufbringen, an langwierigen Prozessen dranzubleiben. Da müssen allzu oft dicke Bretter und dicke Holzköpfe gebohrt werden und das Ergebnis bleibt häufig dennoch schlecht. Ich will da oft eher die schnelle Nummer, wenn sie denn gut durchdacht ist. Ich finde es immer dankbar, durch z. B. unsere Interessensvertretung, die Kobinet-Nachrichten, für die ich hin und wieder auch Beiträge schreiben darf, unsere Fernseharbeit oder die sozialen Medien, wie durch euer großartiges Projekt, eben nicht nur den eigenen Stammtisch zu erreichen, der ja eh schon die Problematik kennt. Ich habe immer den großen Drang, alles was wir machen auch zu streuen, sichtbar zu machen, am Leben zu halten, Mitmacher zu gewinnen. Wenn wir so allein vor uns hinkämpfen, auch diese Seite kenne ich, verlieren wir schneller den Mut und können uns über Jahre ziemlich abreiben. Es fühlt sich auch großartig an, gemeinsam Kraft und Stärke zu entwickeln, Themen transparent zu machen, Ideen zu kreieren und konkret an Lösungen zu arbeiten. Mein Partner ist ja auch Mitglied bei der Sammelbewegung „Aufstehen!“ und ich versuche ihm von meinen Tätigkeitsfeldern und er mir von seinen immer wertvolle Impulse mitzugeben.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Weil alles was wir tun, hoch politisch ist und wir selbst dann, wenn wir uns als nicht besonders politisch interessiert bezeichnen würden, doch politische und parteiische Entscheidungen treffen. Das macht jeder von uns täglich unfassbar oft, mit jedem Lebensmittel, was wir konsumieren, mit den Textilien, die wir tragen, mit den Möbeln und Autos, die wir kaufen und mit unseren Urlaubsreisen. Wir wirken uns aus mit unserem Denken und Handeln, all das bestimmt Bedarfe, beeinflusst die Wirtschaft, macht Politik. Ich bin da ganz schlicht gesagt für das „Kehren vor der eigenen Haustür“, denn damit beginnt das Bewusstsein für unser eigenes Mitgestalten. Wir sollten uns täglich fragen, wie wir nach dem Aufstehen der Welt begegnen, mit welchen Worten, mit welchen Taten. Wir sind doch auch davon abhängig, wie fair sich andere uns gegenüber zeigen, wie sie sich zu uns bekennen oder ob sie uns an den Rand drängen oder uns gar ausstoßen oder ausbeuten wollen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Nicht jeder von uns ist dafür gemacht, sich in einen Ausschuss zu setzen und wie wir wissen, haben PolitikerInnen selbst oft auch ganz wenig mit Politik im eigentlichen Sinne zu tun. Dieser Personenkreis bedient leider auf einem hohen Energielevel andere Phänomene. Ich erlebe hingegen viele junge und alte Bands, YoutuberInnen und junge Podcasts, sogar „SinnfluenzerInnen“, die einer ganzen Generation Mut zu einer eigenen Haltung machen und die Bock auf Politik mit Blick auf Vielfalt haben, womit sie andere anstecken. Jeder hat die Möglichkeit sich zu bilden und zu informieren, da die Zugangswege für einen gesunden Menschen unglaublich einfach sind. Ich sag das jetzt mal mit einem Augenzwinkern: Das krieg ich ja selbst als Blinde hin und für mich ist es gar nicht mal so leicht und selbstverständlich, im Netz immer auch barrierefrei an die gewünschte Information zu kommen. MedienkonsumentInnen brauchen sicher manchmal eine möglichst mundgerechte Variante der Wissensvermittlung und neigen dazu, sich nicht sehr tiefgründig über Hintergründe zu informieren. Das wäre für viele Leute so, als würde man einen Sportmuffel zu fünfmal wöchentlich Joggen motivieren wollen. Viele haben auch einen wirklich schlauchenden Job und wenig Zeit und Energie für umfassende Recherche. Deshalb darf jeder den Zugang finden, der bei ihm greift, auch z. B. durch ausgewählte Zeitungsschau, politisches Kabarett, Social Media oder einen Songtext. Gern alles, nur nicht Dummheit gepaart mit Halbwissen, das ist eine gefährliche Kombination!

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Ich wirke gerade an einer Ausstellung am Stadtmuseum Halle mit, die fragt, was Menschen in 50 Jahren an unserer heutigen Lebensweise interessieren könnte. Dies ist zwar speziell auf Menschen mit Behinderungen bezogen und deren Geschichten, die noch nicht erzählt wurden und die wir nun zusammentragen, um sie für nachfolgende Generationen festzuhalten. Mir ist aber klargeworden, dass diese fehlenden Geschichten übertragbar sind. Wir sind Zeugen unserer Zeit und mit allem was wir jetzt tun oder nicht tun, geben wir den Menschen nach uns eine Aufgabe mit. Ich arbeite auch viel mit älteren und sehr alten Menschen und sie sagen oft, dass sie nicht gern daran denken, ihre Enkel in einer Welt zurückzulassen, in der sie sie selbst nicht mehr begleiten können, mit all den „Hinterlassenschaften“, die sie denen aufbürden, die jetzt noch im Kinderwagen liegen. Mein Erbe ist das Wissen um die schrecklichen Erfahrungen, die meine Oma als Vertriebene und Kriegstraumatisierte machen musste und ihre bewegenden Erzählungen, die ich heute als Aufgabe in mir trage. Aber auch die Menschen, die vor mir schon zu den „Anderen“ gehörten, die Menschen, die heute anders sind und schade, dass ich noch nicht weiß, mit welchem Wissen die „anders“ Anderen in 50 Jahren auf uns und unsere Sorgen von heute blicken.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Keine Sprachlosigkeit, zu welchem Thema auch immer. Ich sehe allzu häufig, wozu Sprachlosigkeit, erlernte Hilflosigkeit und die erlernte Opferrolle über mehrere Generationen hinweg führen können. Wir brauchen das Gefühl, Konflikte aufmachen und überstehen zu können, wirksam zu sein und nicht den Umständen ausgeliefert. Das klingt abgedroschen und ist doch so schwer: Wir müssen miteinander in Kontakt kommen, die Klappe aufmachen, Ängste überwinden, Reibung auch mal aushalten, das können wir nur, wenn wir die Dinge bei Lichte betrachten und nicht im dunklen Keller verbergen. Die Lauten können das sicher besser als die Leisen. Aber die Lauten verstecken ja auch oft nur eine allzu menschliche Angst. Hier müssen wir gegenseitig ein bisschen besser aufeinander achten und jeder aber auch auf sich selbst, jeder muss für ein besseres Miteinander auch an sich arbeiten. Ich dachte immer Sozialkompetenz hätte ich ja nun genug, bis bei einem Test herauskam, dass Sozialkompetenz nicht Harmoniesucht ist. Also gehört auch diese Seite dazu, nicht nur den anderen ernst und wichtig zu nehmen, sondern sich auch mal unbequem zu machen. Wir können nicht gleichzeitig eine Haltung haben und allen gefallen wollen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Ich lese gerade die Werke von Viktor E. Frankl, einem Psychiater, der mehrere Konzentrationslager überlebte und den größten Teil seiner Familie im KZ verlor. Das Buch „Trotzdem ja zum Leben sagen“ bewegt zutiefst und man könnte glauben, es behandele wohl genau das Gegenteil von Menschenwürde, Freiheit und Gleichberechtigung. Dabei beschreibt der Autor immer wieder, dass es unsere Einstellung ist, die Leistung unseres Geistes, die uns selbst im größten Leid noch Lebenssinn finden lässt. Während ich dieses Buch lese/höre, erlebe ich meinen gesamten Alltag als große Freiheit und in noch größerer Dankbarkeit. Und das sage ich jetzt bewusst als Frau mit einigen „Lebenslaufmaschen“. Insgesamt ist Freiheit für jeden etwas anderes. Ich habe Kontakt zu Menschen mit erheblichen Handicaps und für sie wäre es Freiheit, einmal selbstständig aufs Klo gehen oder allein atmen oder aus einem Glas trinken zu können. Sie würden sich wünschen, mal selber raus vor die Tür zu gehen und zu sagen: „Hallo Leben, hier bin ich!“ Und ich kenne nichtbehinderte Menschen, die können das jeden Tag, die können jeden Tag raus vor die Tür gehen und sich sogar aussuchen, ob sie dann ins Auto steigen, mit dem Rad oder der Bahn oder dem Bus fahren oder zu Fuß gehen wollen. Zufrieden sind sie deshalb nicht und frei fühlen sie sich auch nicht. Da hat jeder von uns innere und äußere Faktoren, die sein Empfinden von Freiheit und Selbstbestimmung beeinflussen oder beeinträchtigen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Viele Menschen haben gesunde Körper und Hirne und machen kranke daraus. Sie wissen ihre inneren und äußeren Tastaturen nicht sinnvoll zu bedienen. Auch Bildung will gelernt sein. Für mich steht und fällt da viel mit Rollenmodellen, aber auch mit guten Lehrern, die einen Stoff eben schlecht oder recht vermitteln können. Jeder, der Bildung betreibt, sollte sich an seine Schulzeit erinnern und schauen, was bei ihm besonders hängenblieb und warum. Ich habe begonnen mich damit zu befassen, als ich selber Unterrichtsmaterialien erstellen musste. Anfangs war das einfach zu trocken. Dann habe ich überlegt, was mich mitgerissen hat und so beobachte ich mich auch noch heute. Was vermittelt sich mir aus welchen Gründen gut? Bildung sollte immer auch vielfältig und inklusiv präsentiert werden, um unterschiedliche Impulse zu setzen und verschiedene Geschmäcker und Lerntypen anzusprechen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürgerin aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Wählen gehen, sichtbar und hörbar sein, aufklären. Druck mit Gegendruck zu begegnen, ist es aber nicht allein und auch nicht des Rätsels Lösung. Der aufwändigere Weg ist leider, an die Ursachen zu gehen. Man muss sich Leute ein bisschen ansehen, wie die auffälligen Kinder in der Schule, irgendwo ist der Knacks, irgendwas ließ sie zum Störer, zum politisch falsch abgebogenen Klassenclown werden. Oft sind das wirklich Ängste, Schwächen, das Gefühl des Abgehängtseins, eher Sachen für den Therapeuten, das meine ich nicht despektierlich. Da ist eine ganz große Unzufriedenheit, Unsicherheit, ein Minderwertigkeitskomplex und das in Kombination mit einem Wahlzettel unterm Kugelschreiber ist milde gesagt ungünstig.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Naja, bei dieser Wählerschaft können wir bei den wenigsten von in sich ruhenden und zufriedenen Menschen sprechen. Die haben „Nöte“ und Sorgen und da dürfen wir uns fragen warum, sonst kriegen wir das Problem nicht bei der Wurzel gepackt. Der Schlüssel zum eigenen Glück, was auch immer das für jeden ist, liegt zu einem großen Teil in den Leuten selbst, doch sie sind von Missgunst und Neid zerfressen und fühlen sich bedroht. Sicher kann man sich fragen, warum das in diesen Regionen so ist und man kann sich das alles begründen, möchte man aber nicht immer. Es nervt einfach.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Mir wird da Angst und Bange um die Inklusion. Eigentlich ist das besonders absurd, da gerade AFD-WählerInnen mit hoher Wahrscheinlichkeit durch zunehmendem Alter, Krankheit oder Behinderungsrisiko, eben durch Alter von einem guten inklusiven Hilfesystem abhängig wären und von zahlreichen Leistungen profitieren könnten, die sie ja dann abgewählt hätten. Die Leute haben einfach nicht im Blick, welchen Rattenschwanz an Konsequenzen ihre Entscheidungen mit sich ziehen würden. Da brauchen wir nicht mal die AfD, ohne zu konkret zu werden genügte an anderer Stelle bereits der Einfluss der CDU, um wichtige soziale Programme und Förderungen zurückzufahren.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

In Gesprächen und Beiträgen aller Art, die jeden dort abholen, wo er steht, plastisch machen, welche Folgen Nichtwählen haben kann. Ich rede und schreibe z. B. darüber, was es für die Lebenswelt eines Menschen bedeuten würde, wenn konkrete AfD-Einflüsse (z. B. „mäßige“ Inklusion) wirklich eintreten würden. Wir müssen dem Einzelnen vermitteln, was es speziell für ihn und seine Liebsten bedeuten könnte, in einem Land mit solchen Werten zu leben. Niemand kann davon ausgehen, dass ihm immer die Sonne aus den Ohren scheint und in schlechten Zeiten hätte mancher seine soziale Absicherung dann selbst abgeschafft.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Ideen weitergeben und umsetzen helfen, Veranstaltungen pushen, Räume öffnen, die notwendige Administration und Förderung bereitstellen, vernetzen, mitmachen! Dabei nicht mit der Keule oder dem erhobenen Zeigefinger kommen, gar nicht mit trockenem Stoff, sondern Themen zum Anfassen, die mitten in der Gesellschaft stattfinden. Politik dort machen und diskutieren, wo man sie nicht vermutet und wo Leute gern hinkommen, weil sie dort Leben gestalten.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Kommunikation und Begegnung schaffen und ihnen das Gefühl geben, etwas erleben zu können, etwas Positives schaffen zu können, ein sinnerfülltes Leben zu haben. Die Sozialpädagogin in mir müsste sagen, in denen drin müsste man erstmal ganz schön viel Aufbauarbeit leisten, der Mensch in mir wehrt sich dagegen, die Seele eines Nazis zu ergründen. Letztlich geht es bei vielen Betroffenen um fehlende Anerkennung, Kränkung, Enttäuschung. Sicher ist es Aufgabe der Gesellschaft, für ein gutes Klima für alle zu sorgen. Aber sorry, zu seinen Glückslichtern muss auch jeder selber finden. Ich kann jetzt auch nicht, nur weil ich blind bin, anfangen Sehenden die Augen nicht zu gönnen. Ich muss „schauen“, wo und wie ich Erfüllung finde und möchte nicht in einer Dauerschleife des Selbstmitleids verharren. Jeder durchlebt Phasen, aber man muss auch nicht auf seinem Jammerfilm hängenbleiben. Wir haben Verantwortung für unsere Gedanken und sind auch zu großen Teilen unseres Glückes Schmied, und das Schmieden fängt im Kopf an.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Fremdes macht skeptisch. Ich spüre das deutlich durch meine Behinderung. Auch ich erlebe Ausgrenzung, Berührungsängste, Vorurteile. Das geht sogar so weit, dass mich Kliniken und Krankenhäuser abgelehnt haben, da man sich dort eine nichtsehende Patientin nicht vorstellen konnte. Barrieren in den Köpfen können wir nur durch möglichst viel Kontakt und Umgang miteinander aufweichen. Das ist so ein bisschen wie in der Konfrontationstherapie, pure Psychologie. Haben wir Platzangst, können wir durch schrittweises Heranführen an die Situation die Angst überwinden. Blinde beißen selten und MigrantInnen sehr häufig auch nicht. Fehlen die Begegnungen oder gibt es negative Erfahrungen, ist es wichtig, den eigenen Erfahrungsschatz und Reflektionsraum zu erweitern, um Katastrophengedanken kleiner werden zu lassen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja, leider. „Wir alle spielen Theater“, das ist wohl ein schöner Buchtitel, leider aber ein schlechtes Credo für die Politik. Auf mich persönlich wirkte es immer sehr positiv, wenn mich LokalpolitikerInnen oder politische AktivistInnen direkt ansprachen, sich Gedanken machten, wie sie z. B. ihre Visitenkarten auch in Braille gestalten könnten oder sich erkundigten, wie ich ihre Mails oder Wahlprogramme überhaupt lesen kann oder von A nach B komme. Andererseits finde ich es auch problematisch, wenn eine politische Idee zu stark an eine „Gallionsfigur“ gebunden ist und eine Vielzahl der Mitglieder einer Bewegung dann abspringt, weil man eher der Person, weniger der Idee folgte, wie wir es bei Sarah Wagenknecht und „Aufstehen!“ erlebten.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Wir müssen beides im Blick behalten. Leider lösen sich Missgunst, Berührungsängste, Verbitterung und Wut nicht in Wohlgefallen auf. Aber kluge junge Menschen müssen wir unbedingt unterstützen und in Relation bringen, dabei auch immer darauf achten, wer warum wie handelt und aus welchen Gründen wen vor welchen Karren spannen will.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Die hätte ich mir oft gewünscht! Als junge Punkerin hatte ich nicht selten „ZuschauerInnen“, die fasziniert beobachteten, wie ich dürres Ding von Nazis auf der Straße bespuckt, angezündet oder zusammengetreten wurde. Nicht mal, als ich an den Haaren über den gesamten Boulevard gezerrt wurde oder mit zerfetzten Klamotten am Boden lag, kam da einer und hat geholfen. Auf der anderen Seite, und das gehört auch zur Wahrheit, bin ich auch ziemlich naiv an Themen gegangen, über die ich heute realistischer aufklären würde. Mein Schulweg führte an einem Asylbewerberheim vorbei und die Männer von dort saßen jeden Tag wie die Hühner auf der Stange an unserer S-Bahn-Haltestelle. Ich wollte mit 14 natürlich allen beweisen, dass Nazis doof sind und Ausländer meine Freunde und kannte keine Zwischentöne. Da musste ich Lehrgeld zahlen. Mir ist heute klar, dass viele der jungen Männer damals ganz andere Motive hatten, als ich zarte Weltverbesserin, die den Erwachsenen zeigen wollte, dass Rassismus Scheiße ist. Meinen Eltern konnte ich lange nicht erzählen, was mir damals an der S-Bahn passierte und warum ich dann immer einen großen Umweg fuhr, um nicht mehr am Asylbewerberheim vorbei zu müssen. Es ist auch heute nicht einfach das anzusprechen, weil ich nicht den falschen Leuten Argumente für ihre kranke Politik liefern will. Mir hätte geholfen, wenn man uns Kids ein realistisches Bild vermittelt hätte und uns nicht mit stumpfen Parolen aus der einen oder anderen Richtung auf den Schulweg geschickt hätte. Zur Orientierung im sozialen Brennpunkt brauchts schon etwas mehr, als ein „selber schuld“, wenn du mit Ausländern sprichst“ von den Lehrern.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir den Menschen vor destruktiver Sozialisation schützen und ihn stärken und gegebenenfalls uns vor destruktiven Entwicklungen schützen und uns stärken, wenn Teilhabe, Vielfalt und Inklusion gefährdet sind.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Eine ziemlich überwältigende Konzertaktion der Band Kraftklub in ihrer Heimatstadt Chemnitz, mit Casper, Marteria, Feine Sahne, Campino und anderen engagierten Bands und KünstlerInnen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Wir schaffen das zusammen, denn sozialer Umgang heißt nicht, einander sozial zu umgehen!

INTERVIEW MIT ROMAN SCHULZ

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?
 
Den beruflichen Aspekt lasse ich mal außen vor. Pressesprecher in der Schulaufsicht ist mehr als spannend, eher anstrengend, und mit fast täglich neuen Herausforderungen verbunden.    
Mich treiben seit Jahrzehnten aber auch beruflich die demokratischen, freiheitlichen Werte an und um!
 
wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?
 
Das versuche ich, wie schon mein gesamtes Leben lang, noch immer außerhalb von Parteien. Sich in gesellschaftliche Themen, Aufgaben und Entwicklungen einzumischen, ist einfach eine spannende und wunderbare Sache. Wer seine Stimme nicht in gesellschaftlichen Prozessen erhebt, muss eigentlich dann auch nicht die Ergebnisse laut beklagen. Mitmachen, Einmischen, Beteiligen … ist so schwer nicht und es gibt zahlreiche Möglichkeiten, ob in einer BI vor Ort oder wie aktuell in Leipzig beim #Aufruf2019 .
 
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Wir erleben aktuell eine sehr unruhige Umbruchsituation – regional, national und global. Stürmische Zeiten, Wertmaßstäbe und traditionelle Werte sind mächtig in Bewegung geraten. Unsere liberale Demokratie ist weltweit kein Selbstläufer mehr! Autoritäre Systeme mit Einschränkungen von Grundrechten nehmen zu. Dinge werden komplexer, Themen sind inhaltlich mehr und mehr vernetzt. Einfache Antworten gibt es eigentlich nicht mehr, gab es eigentlich auch nie. Manche Menschen fordern diese aber gerade mit simplen Lösungen ein und „Politik“ macht es sich zum Teil einfach und bedient diese Flanke mit populistischen Parolen! Da ist Vorsicht geboten, da sollte man schon selbst „mitdenken“. Wie unsere Zukunft aussehen könnte, sollte wichtiger sein als GNTM oder welcher Landbewohner welche Frau heiraten wird.  

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?  

Da haben nach meiner Sicht aktuell Parteien sowie gewählte Parlamente, von Europa bis in die kommunale, regionale Ebene, eine wichtige Aufgabe. Sie müssen die Themen nicht populistisch, sondern wieder stärker aus dem notwendigen gesellschaftlichen Kontext heraus aufgreifen und setzen. Zu den Themen müssen Lösungsstrategien auf den Tisch und die Menschen müssen zeitnah mit einbezogen werden. Nur wenige Beispiele: Die Kreuzung sollte man …, Pestizide könnte man …, Plastik sollte man …, Diesel überlassen wir …,  Elektro könnten wir … Warum macht man es nicht??? Politik muss wieder aktiv gestalten, Entscheidungen treffen, keine wachsweichen Absichtserklärungen mit Notausgängen irgendwann zu St. Nimmerlein. Ich glaube , wenn die Menschen spüren und sehen, dass nachhaltig gehandelt wird, dann kommt auch Vertrauen in die Demokratie zurück.  

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?   

Erbe ist ein sehr umfassender Begriff. Materiell natürlich Kulturdenkmale, Industriearchitektur, Schlösser &&& … Aber wir haben natürlich auch ein sehr umfassendes historisches sowie ideelles Erbe mit zahlreichen Nuancen. Darüber könnt ich Seiten füllen, will mich aber auf einen Aspekt beschränken, indem ich zwei historische Prozesse anspreche. Sachsen spielte eine unrühmliche Rolle Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts beim Aufkommen/Erstarken des Nationalsozialismus. Und Sachsen war de facto das Kernland der Friedliche Revolution 1989. Beides gehört zum Erbe und wir sollten die notwendige Energie für die Zukunft immer aus den progressiven, aufklärerischen und freiheitlichen Bewegungen nehmen.  

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?  

Fairness, Respekt und Toleranz!!!  

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?  

Genau in der Reihung, auf meiner Werteliste TOP 1 bis 3.  

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?  

Bevor ich umfangreich antworte, mache ich es kurz: Nicht jeder Mensch benötigt für sich vielleicht alle sieben Bereiche komplett. Aber notwendig, wertebildend, anregend, orientierend, hilfestellend und nachhaltig sind sie natürlich. Wie will man ohne diese Bereiche durchs Leben kommen???  

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?   

Klingt einfacher als es ist: So wählen, dass es dazu nicht kommt! Mitmenschen motivieren, zur Wahl zu gehen und das Kreuz bewusst setzen. Darf man nicht vergessen, Freie Wahlen waren vor 30 Jahren eine Kernforderung. Nun haben es 2019 die Menschen mit ihrem Kreuz in der Wahlkabine in ihrer Hand. Dazu muss ich hier nicht explizit Parteien benennen, um einen Rechtsruck zu vermeiden.  

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?  

Große Teile haben sich aus Politik und Gesellschaft verabschiedet und folgen Rattenfängern und Populisten. Und siehe oben, die demokratischen Parteien haben dazu nicht das beste Bild abgegeben. Manche haben keine konkreten Aussagen, manche betrachten eher sich selbstverliebt und andere wechseln das Personal wie die Bundesliga die Trainer … Aber notwendig sind Lösungsperspektiven für die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme.  

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?  

Ehrlich – die Frage hatte ich anfänglich etwas verdrängt, für mich auch nicht beantwortet. Nach nun aber zwei Wahlen (2017 und 2019) mit erschreckenden Ergebnissen wird es brenzlig in Sachsen. Ich befürchte leider nichts Gutes und frage zurück. Was sollte an derartigen Ergebnissen eigentlich positiv sein?  

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?
 
Zum Beispiel durch aktives Mitmachen oder durch ideelle Förderung und öffentliche Unterstützung  …
 
wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?  

Schwierig, bin kein Soziologe und auch kein Psychologe. Mit den Menschen reden, reden und versuchen, sie doch irgendwie an das Thema zu binden. Und man sollte nie nachlassen, auf die Vorteile von Wahlen zu verweisen. In den letzten Jahren gab es unzählige Beispiele für extrem knappe Ergebnisse, bei denen tatsächlich jede Stimme zählte. Das gleich als Antwort zum Vorwand, bringt ja doch nix …

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?
 
Die Antwort ergibt sich aus anderen Antworten.
 
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?
 
Die Bedürfnisse der besorgten Wutbürger, der nationalistischen Hetzer und Schreihälse sind nicht relevant, Punkt. Wenn was von Interesse ist, dann eher die Frage, wie die sozialen und intellektuellen Fliehkräfte der Gesellschaft durch eine demokratische Mehrheit neugestaltet und gemäßigt werden können. Dazu gehört auch die Einbeziehung der nächsten Generationen.
 
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
 
So wichtig wie das Wasser zum Leben.
 
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
 
Mitmachen, einmischen und immer gegen Unrecht laut die Stimme erheben.
 
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!
 
1. Ein tolles Konzert in Chemnitz, 2. die Gewissheit, dass es viele Menschen mit der Denke #fcknzs gibt, 3. wir sind im Verfassungsschutzbericht, muss man sich mal vorstellen …, 4. ein wichtiges Signal aus Sachsen …, 5. wir hatten einen schönen Familienausflug.
 
wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!
 
So wie es die drei Worte sagen! Das haben wir übrigens auch schon 1988/89 gesagt, also nichts Neues!

INTERVIEW MIT JÜRGEN KASEK

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Mein Name ist Jürgen Kasek. Ich arbeite als Rechtsanwalt und in verschiedenen Bündnissen und Initiativen mit.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin unter anderem bei der Initiative „Leipzig für Alle – Aktionsbündnis Wohnen“ aktiv, dass sich für eine Stadt für Alle einsetzt, für bezahlbaren Wohnraum, gegen die soziale Entmischung. Daneben bin ich beim Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ aktiv, dass sich gegen Menschenfeindlichkeit einsetzt. Weiterhin arbeite ich bei verschiedenen Umwelt- und Verkehrsverbänden mit. Außerdem bin ich beratendes Mitglied der Interessengemeinschaft Livekommbinat, der Vertreter der Livemusikspieltstätten in Leipzig. Hinzu treten Beratungen von Gruppen wie Extinction Rebellion oder Ende Gelände. Ich setze mich ein für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, für eine Stadt für Alle, das heißt für die Teilhabe aller Menschen und für eine freie Gesellschaft ohne Hass und Intoleranz.
Alles was ich möchte ist in Frieden und Freiheit leben, in einer Gesellschaft, die allen Menschen die Möglichkeit gibt, selbst glücklich zu werden, auf den Grundfesten von Respekt und Toleranz.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es ist eine Herausforderung. Aber die Frage verunsichert mich auch, weil es suggeriert, dass es Menschen gibt, die Politik nicht aktiv mitgestalten. In meinem Verständnis ist alles politisch, auch die Entscheidung wo und was ich einkaufe.
Es geht darum, deutlich zu machen, dass jeder seinen Anteil hat und zwar egal ob Politiker*in, Akteur der Zivilgesellschaft oder einfach nur Mensch.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Jeder Mensch trägt mit seiner Entscheidung dazu bei, wie sich diese Gesellschaft entwickelt, und wir alle sind Teil der Gesellschaft. Die Frage, die sich jeder stellen sollte, ist, in welcher Gesellschaft will ich leben/sollen meine Kinder groß werden und was kann ich dafür tun? Jeder Mensch kann handeln, zum Beispiel indem er sein eigenes Handeln (Einkauf, Verkehrsmittel), kurz seine eigene Lebensweise überprüft, dann mit Menschen in Kontakt tritt, die ein ähnliches Problem haben, und dann überlegt, wie eine Lösung aussehen könnte. Unsere Demokratie stellt eine Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung – von Demonstrationen, über Streitschriften, Petitionen, Anfrage. Alles Möglichkeiten, die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu beeinflussen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Miteinander reden, austauschen, streiten und immer wieder darauf hinweisen, welche Bedeutung unsere Grundwerte für unser Zusammenleben haben. Demokratie ist ein Prozess, an dessen Ende nicht die Mehrheit über die Minderheit gewinnt, sondern im besten Fall ein Kompromiss gefunden wird, der möglichst viele Menschen vereint. Engagement kann erfolgreich sein und ist es auch. Das zeigen viele Beispiele. Dies aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass wir es selber in der Hand haben, sollte unser aller Ziel sein. Dabei sind vor allen Dingen diejenigen gefordert, die sich Politiker*innen nennen.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe ist der Schatz der Natur und das Wissen der Vergangenheit. Es ist eine Verpflichtung für die Zukunft, alles dafür zu tun, dass dieser Planet lebenswert bleibt und sich Kriege nicht wiederholen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Respekt und Wertschätzung vor anderen und dass wir verstehen lernen, dass gesellschaftliche Gräben, egal welche Meinung man vertritt, ein Schaden für uns alle sind und die Abwertung von anderen Personen ebenfalls uns alle trifft.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Freiheit ist die Grundlage unserer Demokratie. Ohne Freiheit keine Demokratie. Freiheit ist dabei auch die Freiheit etwas abzulehnen, etwas anders zu sehen und nicht darin eingeschränkt zu werden. Freiheit heißt aber auch Verantwortung zu übernehmen. Ohne Verantwortung keine Freiheit.
Und Freiheit ist mir persönlich und individuell sehr wichtig. Ich will nicht, dass mir vorgeschrieben wird, wie ich zu leben habe. Der Schutz der Menschenwürde gilt absolut und wir müssen immer wieder darauf hinweisen. Gleichberechtigung muss die Grundlage unseres Zusammenlebens sein und damit auch, dass keine Diskriminierung stattfindet. Und wir müssen auch verstehen, dass die Freiheit immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden muss.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Enorm wichtig. Die Zielstellung ist, dass wir jeden Menschen befähigen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (klass. Aufklärung). Voraussetzung ist dafür die Bildung, die genau das tun sollte. Dazu gehört, dass wir dafür sorgen, dass die Chancen aller Menschen gleich werden und wir auch Menschen auffangen, die ihre Chancen nicht nutzen konnten oder können. Menschen, die sich selbst und ihre Umwelt reflektieren, die verstehen und Empathie zeigen, prägen unser Zusammenleben.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Sich selbst engagieren und nicht schweigen. Die Grundlage ist auch, sich selbst zu hinterfragen und die eigenen Vorurteile und Ressentiments aufzudecken.
Nicht zu schweigen, wenn Ungleichheit oder Diskriminierung laut werden, und mit Menschen zu sprechen über die Probleme unserer Gesellschaft. Und vor allen Dingen auch die Auseinandersetzung mit denjenigen suchen, die diese Gesellschaft ablehnen, die die Zukunft in der Vergangenheit suchen. Es gibt unzählige Initiativen, die mensch unterstützen kann. Es gibt Demonstrationen, es gibt die Möglichkeit im Bekanntenkreis zu sprechen, selber Flyer zu machen, in der Nachbarschaft mit Menschen zu reden. Es gibt unglaublich viele Möglichkeiten. Welche ist Deine?

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Es fehlen Erfahrungen im Umgang mit der Demokratie. Es fehlt an vielen Teilen in der Politik an Haltung und der Bereitschaft, Verantwortung auch für Fehler zu übernehmen. Menschen fühlen sich abgehängt und benachteiligt und es gibt eine Entfremdung von der Ausgestaltung der parlamentarischen Demokratie, die mit den Parteien zusammenhängt. Die AfD erscheint wie der radikale Gegenentwurf. Dabei muss berücksichtigt werden, dass offenbar 1/3 der Gesellschaft zu Einstellungsmustern der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit tendiert, die von der AfD bespielt werden.
Dass die AfD in ihren Teilen Neonazis, Hooligans und Verfassungsfeinde in die Parlamente schickt und das Programm soziale Benachteiligung, Ungleichheit und die Beschränkung der Freiheit beinhaltet, wird ausgeblendet.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Wenn die AfD Zugriff auf sensible Politikbereiche bekäme, hätte das dramatische Folgen. Im Innenbereich könnte die AfD mithilfe von Polizei und Verfassungsschutz Gegner ins Visier nehmen, was sie angekündigt haben. Demokratieinitiativen würde das Geld gestrichen werden. Kunst und Kultur würden starke Einschränkungen erfahren, da die Freiheit genommen wäre. Und die sozial Schwächeren der Gesellschaft würden weiter benachteiligt.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Die Unterstützung kann auch so aussehen, dass man die Projekte vorstellt, darauf hinweist und den Menschen vor Ort deutlich macht, dass diese nicht alleine sind. Konkret fehlt oft Geld. Und oft genug hat mensch das Gefühl alleine zu sein, gegen eine Übermacht.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Komisch ist ja, dass wir endlos und viel über die AfD-Wähler*innen sprechen, aber kaum über die viel größere Gruppe der Nichtwähler*innen. Was sind deren Ängste und Sorgen, warum gehen diese nicht wählen? Hier müssen wir nachfragen. Politik muss klarer werden und Angebote bieten.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Ist die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg groß, wachsen Vorurteile. Also geht es darum Antworten zu finden, deutlich zu machen, dass die Zukunft keine Gefahr, sondern eine Chance ist, und stärker auch Lebensleistungen anzuerkennen. Politik ist viel stärker gefordert, statt Ängste zu befeuern, in den Dialog zu treten und mit Menschen zu sprechen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Die Urangst vor dem Fremden ist in uns. Die Frage spielt übrigens genau mit diesem Bild und verfestigt es dadurch.
Allerdings hat der Mensch gelernt mit Ängsten umzugehen. Wir werden immer wieder mit drastischen Bildern konfrontiert, die bestimmte Geschehnisse überrepräsentieren und damit Eindrücke und Annahmen verstärken. Ich selber ertappe mich immer wieder dabei, wie mir das selber passiert.
Wir brauchen stärker Einordnungen von Geschehnissen, von deren Bedeutung.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politikerinnen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politikerinnen und Bürger*innen?

Ehrlich gesagt bin ich sogar davon überzeugt. Politiker*in sollte ein Ehrenamt auf Zeit sein. Menschen aus der Mitte und allen Teilen der Gesellschaft sollten vertreten sein. Stattdessen erleben wir eine zunehmende Spezialisierung des Politikbetriebs, von Lebensläufen, die geradewegs ins Parlament laufen, was die Entfremdung befeuert. Viele Politiker*innen neigen dann auch dazu, sich besonders wichtig zu fühlen, weil sie ein Amt oder Mandant innehaben. Dabei sagt dies nichts über sie als Mensch aus.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Tatsächlich haben wir extrem intensiv und immer wieder über Wähler*innen von Rechten gesprochen statt über diejenigen, die sich demokratisch beteiligen und einbringen. Dabei ist die Gruppe derer, die noch nicht wählen können oder dürfen deutlich größer. Politik sollte immer auf die Zukunft ausgerichtet sein und da geht es viel stärker darum junge Menschen einzubinden, ohne alte Menschen zu vernachlässigen. Lassen sie uns nicht über die Bedürfnisse der „Wutbürger*innen“ sprechen, sondern über die Lösung konkreter Probleme.,

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Die Zivilgesellschaft ist die Grundlage unserer Demokratie. Zivilcourage ist die Bereitschaft auch dann eine Meinung zu vertreten, wenn nicht alle dafür sind und dafür auch zu handeln. Ohne Zivilcourage keine Demokratie. Es braucht Menschen, die bereit sind auch für andere einzutreten und zu handeln.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir jeden einzelnen Tag immer wieder deutlich machen, was diese Demokratie und Freiheit bedeutet. Und indem wir selbst immer wieder verstehen, dass Demokratie und Freiheit jeden Tag aufs Neue erstritten und verteidigt werden müssen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Eine Losung, die im besten Fall Menschen motivieren kann und auf der anderen Seite auch zu Fehlannahmen verleidet. Denn dieses #wirsindmehr gilt eben nicht immer und überall und tatsächlich sind die meisten Menschen nicht bei #wirsindmehr, sondern die schweigende Mehrheit. Und diese schweigende Mehrheit gilt es anzusprechen, zu aktivieren und zum Handeln zu motivieren, damit wirklich gilt #wirsindmehr.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Es ist keine Frage, sondern für mich die logische Folge. Ich bin hier geboren, arbeite und lebe hier. Es heißt aber auch, deutlich zu machen, dass alles, was geschieht, in unseren Händen liegt. Wann wenn nicht jetzt, wo wenn nicht hier, wer wenn nicht wir – wir bleiben hier.

INTRVIEW MIT CHRISTIAN WOLFF

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.
 
Als im Jahr 1949 geborener Mensch fühle ich mich schon immer als „Kind der Republik“. Allerdings konnte ich erst 1969 die Bundesrepublik (West-)Deutschland als mein Land ansehen, da in dem Jahr Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten und Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt wurden – zwei ausgewiesene Demokraten und Antifaschisten in den Führungsämtern der Republik, in der in allen gesellschaftlichen Bereichen Altnazis Spitzenpositionen besetzten – so, als wäre nichts geschehen. 1969 studierte ich schon ein Jahre Theologie – zunächst in Wuppertal, dann in Heidelberg. Dort war ich in der Studentenbewegung aktiv und 1973/74 Vorsitzender des AStA (Allgemeiner Studentenausschuss). Nach meinen Examina 1974 und 1976 war ich ab 1977 Pfarrer in Mannheim und dann von 1992 bis 2014 Pfarrer an der Thomaskirche in Leipzig. Nie hatte ich einen Zweifel daran, dass der Kirche ein hohes Maß an gesellschaftspolitischer Verantwortung zukommt – gerade weil Staat und Kirche durch die Verfassung klar voneinander getrennt sind.
 
wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Natürlich und schon immer in der Kirche – trotz allem ein unverzichtbarer Ort der Freiheit, des Trostes und der Vergewisserung. Dann gehöre ich seit 1970 der SPD an, war über 40 Jahre Gewerkschaftsmitglied und in vielen Vereinen aktiv. Für mich ist die Glaubensüberzeugung unverhandelbar: Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, mit Recht und Würde gesegnet; jeder Mensch ist gleichzeitig gut und böse; jeder Mensch ist fehlbar und in seinen Möglichkeiten und in seiner Lebenserwartung begrenzt. Betonung liegt immer auf „jeder“. Daraus ergibt sich: Was immer ein Mensch tut, er bleibt ein Mensch. Wenn wir diese Grundsätze verlassen, wird es gefährlich. Darum habe ich alle Predigten, allen Unterricht, alle Gespräche auf diese Grundsätze ausgerichtet – auch mein politisches Engagement. Daraus ergibt sich für mich auch, dass ich immer für eine nicht-militärisch ausgerichtete Friedenspolitik, für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, kulturelle Vielfalt eingetreten bin und die multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft bejahe. In den 80er Jahren war ich in der Friedensbewegung aktiv, habe mich aktiv im Bereich Kirche und Arbeitswelt engagiert, bin immer dem Rechtsradikalismus und Rechtsnationalismus entgegengetreten, weil dieser allen Grundüberzeugungen des Glaubens widerspricht, und halte die Bewahrung der Schöpfung für eine der zentralen Aufgaben.
 
wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es ist durchaus anstrengend, aber auch sehr bereichernd. Wichtig ist, seine innere Unabhängigkeit zu bewahren.
 
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Demokratie lebt von Beteiligung eines jeden Bürgers, einer jeden Bürgerin. Diktatur lebt davon, dass alle die Klappe halten und funktionieren.
 
wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Indem wir sie leben und dort kommunizieren, wo wir leben. Das fängt am Familientisch an und hört beim „Aufruf 2019“ für ein weltoffenes Leipzig, ein demokratisches Sachsen, ein friedliches Deutschland und ein geeintes Europa nicht auf.
 
wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Es ist immer eine wichtige Frage, an welche Traditionen wir anknüpfen. Da haben wir in Kirche und Gesellschaft sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Mich haben schon immer die demokratischen Aufbrüche interessiert – von den 12 Artikeln der Bauern 1525 angefangen bis hin zur bürgerlichen Revolution, dem Frankfurter Paulskirchenparlament, der Revolution 1919, der Weimarer Verfassung, dem Grundgesetz 1949, der Friedlichen Revolution 1989. Leider gibt es in Deutschland eine Vielzahl Bismarck-Denkmäler und Kriegergedächtnis-Stätten – nicht zuletzt in Kirchen. Wo sind die Denkmäler für diejenigen, die sich für die Demokratie eingesetzt haben?
 
wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Gegenseitige Rücksichtnahme; Respekt für diejenigen, die am Rande der Gesellschaft leben, würdiger Umgang mit denen, die bei uns Schutz suchen. Unser Hauptaugenmerk muss auf das eine „verlorene Schaf“ gerichtet sein, während die anderen 99 ganz gut mit sich klar kommen können – es sei denn, sie verplempern ihre Zeit damit, sich darüber aufzuregen, dass dem einen Schaf geholfen wird (vgl. das Gleichnis vom verlorenen Schaf, das Jesus erzählt – überliefert in der Bibel, Lukas 15)
 
wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Ich kann mir nicht vorstellen, in einem Land zu leben, in dem dies nicht gewährleistet ist und in dem ich nicht möglichen Missständen entgegentreten kann.
 
wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Vielfalt ist nur möglich, wenn wir sie leben und ermöglichen. Darum tragen Kulturinstitutionen eine besondere Verantwortung für den Erhalt der Vielfalt.
 
wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Auf keinen Fall AfD wählen!!! Und das in der Nachbarschaft jeden Tag kommunizieren und die Demokratie bejahen!
 
wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Nach 1989 wurde der reale Rechtsradikalismus systematisch verharmlost – insbesondere in Sachsen durch die CDU. Schon Ende der 90er Jahre gab es zahlreiche Ortschaften, da fiel der Rechtsnationalismus gar nicht auf, weil er so „normal“ daherkam.
 
wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Da möchte ich jetzt gar nicht drüber nachdenken. Jetzt gilt es alle Kraft dafür zu mobilisieren, dass die AfD am 01.09.2019 so wenig wie möglich Stimmen bekommt.
 
wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem man sich – in der jeweils möglichen Form – an ihnen beteiligt. Es ist eigentlich ganz einfach: Hingehen und mitmachen – z. B. beim „Aufruf 2019“ www.aufruf2019.de
 
wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Begegnungen schaffen und miteinander reden – aber immer mit einer klaren Vorstellung davon, mit welcher Position ich in ein Gespräch eintrete.
 
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Angst ist immer ein schlechter Ratgeber – und: Wer Angst verbreitet, will Menschen beherrschen. Als Christ ist die wichtigste Botschaft, die mir Angst nimmt: Fürchte dich nicht! Ich bin von Gott anerkannt, darum ist die Anerkennung durch Menschen zwar wichtig, aber nicht alles. Für mich bedeutet dies, dass wir vor Ort die Menschen beteiligen müssen an der Gestaltung des Lebens im Kiez, Stadtteil, Ort.
 
wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil sie ihnen noch nie begegnet sind. Nur was ich nicht kenne, macht mir Angst – und: Was anonym bleibt, keinen Namen hat, übt Macht aus (siehe Märchen vom Rumpelstielzchen).
 
wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Grundsätzlich: Nein. Niemand ist daran gehindert, einen Stadtrat, eine Landtagsabgeordnete, einen Bundestagsabgeordneten anzurufen, einen Gesprächstermin zu vereinbaren, ihm oder ihr eine Mail zu schreiben.
 
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Sorgen zu haben, ist kein „Privileg“ der sog. Wutbürger. Ich selbst habe auch Sorgen und möchte, dass diese respektiert werden. Ich weiß aber auch, dass es mir gar nichts nutzt, wenn jemand meine Sorgen nur bestätigt. Das ist leider in den vergangenen fünf Jahren in Richtung Pegida/AfD geschehen: Die sog. Sorgen und Ängste wurden nur bestätigt. Das hat mit Befreiung nichts, mit Herrschaft aber ganz viel zu tun. Was gut ist, dass durch FridaysForFuture endlich Zukunftsthemen in den Vordergrund rücken.
 
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ohne sie verkommen Demokratie, Freiheit, sozialer Zusammenhalt.
 
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir uns bewusst und erkennbar an ihr beteiligen und allen ganz klar und unmissverständlich entgegentreten, die einen neuen Nationalismus predigen, kulturelle Vielfalt beschneiden und Demokratie verachten. Vor den Rechtsnationalisten von Pegida/AfD dürfen wir keinen Millimeter zurückweichen.
 
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Da ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Für mein Engagement ist jedenfalls nicht ausschlaggebend, ob wir mehr sind, sondern ob das, wofür ich eintrete, den Menschen dienlich ist.
 
wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Verantwortung wahrnehmen, Zivilcourage zeigen, den Angstmachern die Stirn bieten. 

www.wolff-christian.de

Foto: Wolfgang Zeyen

INTERVIEW MIT TOBIAS BURDUKAT

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin aktiv im Landkreis Leipzig in dem kleinen Städtchen Grimma. Dort war ich bis 31.05. Sozialarbeiter im Projekt „Dorf der Jugend“! Die Entwicklung der Projektkonzeption war das Resultat aus vielen Jahren Engagement im politischen und jugendkulturellen Bereich auf dem Land in Sachsen.

Ich trete ein für eine soziale Arbeit, die mit einer deutlichen menschenrechtsorientierten Haltung an die Aufgaben herangeht, welche uns durch die Gesellschaft aufgetragen werden. Zusätzlich trete ich für die Freiheit und Gleichheit der Menschen ein, antifaschistisches Selbstverständnis und den Wunsch nach einer hierarchiefreien Gesellschaft.

wbh: Was ist existenziell und notwendig für deine und eure Arbeit?

Bis zum 26.05. hätte ich gesagt ein politischer Wille, der die Arbeit will, damit sich Gesellschaft durch Jugend und deren Beteiligung entwickeln kann. Heute sage ich, dass momentan ein solidarisches Miteinander zwischen den Menschen, die an eine freie und gleichberechtigte Welt ohne Nationalstaatlichkeit und Hass glauben, notwendig ist, um Arbeit wie die unsere oder die von vielen anderen Vereinen und Sozialarbeiter*innen zu schützen. Denn die Menschen, die der offenen und freien Gesellschaft entgegenstehen, haben nun eine politische Legitimation und werden alles in ihrer Macht stehende versuchen uns loszuwerden. D. h.: Wir brauchen Rückendeckung von den 70%, die nicht die AfD oder andere rechtskonservative oder nationalistische Vereinigungen gewählt haben. Die brauchen wir jetzt mehr denn je!

wbh: Woran mangelt es?

Bisher hat es immer am Geld und dem Willen zu sozialer Arbeit und vor allem zu Jugendarbeit gefehlt. Woran es zukünftig mangeln wird, weiß ich noch nicht genau. Wahrscheinlich an der Möglichkeit, überhaupt Jugendarbeit im Sinne einer menschenrechtsorientierten sozialen Arbeit durchführen zu können.

wbh: Im Idealzustand: Was wünschst du dir für bessere Grund- und Rahmenbedingungen für deine und eure Arbeit?

Eine Umstrukturierung des Studiums der sozialen Arbeit mit der finalen Verpflichtung zu der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, so ähnlich dem Hippokratischen Eid bei Ärzten. Dann eine flächendeckende und emanzipierte Jugendarbeit im ländlichen und urbanen Raum. Mit dem Bewusstsein der Sozialarbeiter*innen, sich für die jeweilige Generation überflüssig zu machen und die Jugendlichen entsprechend dem Gesetz zu Selbstständigkeit und vielleicht sogar zur Selbstverwaltung zu befähigen.

wbh: Was sind deine Wünsche an die Politiker*innen?

Ich bin in den Jahren meiner Tätigkeit als Sozialarbeiter und Abgeordneter in Kommunalparlamenten (Stadtrat und Kreistag) so oft enttäuscht von Politiker*innen worden, dass ich hier nur noch wenig Wünsche hab. Ich würde mir aber wünschen, dass die Politik endlich mal aufhört, uns Vorschriften zu machen, sondern uns finanziell so ausstattet, dass wir unserem Auftrag nachkommen und unsere Arbeit gut machen können. Vielleicht kommen wir dann auch irgendwann mal an einen Punkt, wo sie uns zu evtl. Konsequenzen für die Gesellschaft befragen, bevor sie irgendwas entscheiden. Es ist ja logisch, wenn Suchtberatungsstellen abgeschafft werden, dass fünf Jahre später die Inobhutnahmen von Kindern aus Familien mit Suchtbackground ansteigen und damit auch die Kosten! Aber die Abschaffung oder die Kürzung spart ja für den jährlichen Haushalt! An die Gesellschaft wird da langfristig nur wenig gedacht.

wbh: Was sind deine Wünsche an die Bürger*innen in deiner Stadt?

Ich weiß, dass in Grimma viele Bürger*innen einen recht klaren Blick auf die unterschiedlichsten Zusammenhänge haben. Dennoch sind die Wahlergebnisse der Europa- und Kommunalwahl krass. Ich wünsche mir deshalb, dass die Bürger sich untereinander mehr streiten und diskutieren, und dem/der AfD-Wähler*in auch mal von Angesicht zu Angesicht reflektiert und gespiegelt wird, was diese Partei für Ziele verfolgt und dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit einfach keinen Platz mehr in unserer heutigen Gesellschaft hat. Es gibt so etwas wie ein soziales Korrektiv. Dieses ist jedoch nicht mehr vorhanden, da die Leute real nicht mehr miteinander streiten und diskutieren! Es geht hier nicht um irgendwelche geplanten Diskussionen mit oder von Politiker*innen, nein, es geht um die lautstarke, aber faire Diskussion in der Kneipe. Aber da mangelt es in Grimma schon an der Kneipe!

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem man sie bei Veranstaltungen unterstützt, ob als Besucher*in oder hinter der Bar. Indem man Soliveranstaltungen macht und den Menschen vor Ort dann das Geld überweißt. Die Möglichkeiten sind vielfältig, einfach die Ini eurer Wahl anquatschen! Kolonialistische Sachen wie: Wir kommen jetzt mal aus der tollen Großstadt und zeigen euch, wie es richtig geht und machen mal feuerwehrmäßig was auf dem Land, sind eher kontraproduktiv!

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Frustrierend, da es ein Kampf gegen Windmühlen ist und man immer und überall mit Engstirnigkeit, Dummheit und (sorry für diese Formulierung) Hinterwäldler*innen konfrontiert ist.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich gestalte Politik schon mit, wenn ich aufhöre Fleisch zu essen oder zu Mc Donalds zu gehen oder einfordere, dass der ÖPNV besser gestaltet wird, damit auf das eigene Auto verzichtet werden kann! Die Frage, wo beginnt Gestaltung, ist sehr weit, deshalb ist ein Freiraum für Jugendliche auch schon eine politische Gestaltungsmöglichkeit, denn sie fördert die Kommunikation zwischen Erwachsenen und Jugendlichen und schafft vielleicht gegenseitiges Bewusstsein!

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich möchte behaupten, das bekommst du in die Köpfe, von denen die heute AfD und sonstigen Murx wählen, das nicht mehr hinein. Also ist unsere einzige Möglichkeit, gute Jugendarbeit zu machen, damit sich unsere Gesellschaft langsam aber sicher wandelt!

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Krasse Frage! Unser Erbe ist jahrhundertelanges Morden – erst durch die Kirche, durch Kriege und deren Unterstützung. Zusätzlich die geplante Vernichtung von Bevölkerungsgruppen. Hinzu kommt dann die Zerstörung der Welt durch unsere Ignoranz vor der Ausbeutung der Erde! Unsere drecks Bratwurst, die immer billiger werden muss auf Kosten der Umwelt. Und natürlich ist unser Erbe das kontrollierte Dummhalten der Bevölkerung, was uns nun auf die Füße fällt durch die Arroganz des Menschen. Unsere nahe Zukunft ist hoffentlich die zielstrebige Korrektur dieser vielen Fehler. Schaffen wir das nicht, ist unsere Zukunft wahrscheinlich unser endgültiges Verschwinden, weil wir uns selbst gegenseitig zerstören. Ich hoffe es nicht, sondern glaube daran, dass eine andere Welt möglich ist. Aber diese Möglichkeit wird der Menschheit noch viel abverlangen und Wenige müssen im Sinne aller abgeben. Die Wenigen (damit sind die Menschen in den westlichen Ländern oder 1. und 2. Welt gemeint) werden dies wahrscheinlich aber nicht freiwillig tun! Deshalb sag ich: schauen wir mal 😉

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Ich wünsche mir ein besseres menschlicheres Miteinander. Was es dafür braucht, sind die nachwachsenden Generationen und deren Power!

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Freiheit bedeutet für mich, nicht die Dinge tun zu müssen, die ich nicht will!
Menschenwürde ist für mich ein Ideal, welches wir allen Menschen ermöglichen sollten, wofür es aber noch einiges an Arbeit und Bewusstseinsänderung braucht. Es beginnt bei der Gleichberechtigung aller Menschen auf der Welt. Davon sind wir sehr weit entfernt, denn leider sind manche Menschen gleicher als andere und leider hängt dies mit den wirtschaftlichen Verwerfungen auf unserer Welt zusammen, deshalb gehen diese drei großen Wörter Hand in Hand! Ich habe mehr Freiheit als andere auf dieser Welt, also ist es irgendwie meine Pflicht als Mensch, alles dafür zu tun, dass wir uns einer gleichberechtigten und menschenwürdigen Welt nähern!

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sehr wichtig, denn sie helfen den Menschen, ihre individuelle Persönlichkeit zu entfalten, und lernen durch Medienkompetenz, Kunst und kulturelle Bildung andere dafür zu respektieren, was diese tun oder nicht tun! Soziales und psychologische Betreuung sind Errungenschaften unserer Gesellschaft und sie helfen dabei, dass ALLE Menschen gleichberechtigt behandelt werden und deren Sorgen, Ängste, Bedürfnisse und Fähigkeiten oder Defizite ernst genommen werden und dies hat JEDER Mensch verdient.

Bei Jugendhäusern fragt ihr gerade den falschen Ansprechpartner, denn ich würde sagen, es braucht mehr offene Kinder- und Jugendarbeit, die im Stande ist Jugendliche zu befähigen, Jugendhäuser und Freiräume in Selbstverwaltung zu führen und zu erhalten. Das Jugendhaus als solches ist dafür nicht zwingend notwendig, im Vordergrund sollte der Raum für die Entfaltung und Entwicklung der Jugendlichen stehen und nicht das klassische Jugendhaus! Der selbstverwaltete Freiraum ist wesentlich bedeutender als ein durch Erwachsene kontrollierter Raum im Jugendhaus oder das Jugendhaus im Allgemeinen! Häuser und Räume, die das leisten können, braucht es vielmehr!

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Sich mit der/dem Nachbar*in streiten und diskutieren und ihm/ihr die Komplexität unserer Welt näher bringen, damit sie verstehen, dass einfache Antworten nicht die Lösung bringen werden, sondern zwangsläufig in irgendwas Schlimmen enden werden!

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Desinteresse, jahrzehntelange Ignoranz, Wegzug von jungen Menschen und für gesamt Ostdeutschland gilt die Verletzungserfahrung durch die „Wende“, die für mich als damals noch zu jungen Menschen aus heutiger Perspektive etwas Kolonialistisches hatte. Dies aufzubrechen wurde versäumt. In Sachsen hat außerdem eine 30 Jahre währende CDU-Regierung ihre Spuren hinterlassen und das frustriert viele Menschen, da sie sich fühlen wie in der DDR und das kommunizieren sie auch! Ich denke aber, sie haben sich nie mit den tatsächlichen Problemen auseinandergesetzt, sonst wüssten sie, dass unsere heutige Situation wenig mit der DDR zu tun hat. Aber vielen wurde ein System übergestülpt und dort irgendwo entspringt diese Wut und dieser Hass auf alles und jeden, der nicht in ihr Muster passt. Das ist nicht wirklich zeitgemäß, aber leider müssen wir uns damit auseinandersetzen.
Auch wurde sich in Sachsen nie dem unterschwelligem Alltagsrassismus und der Unkenntnis über Demokratie gewidmet. Dies hat ja seinen Ursprung in der DDR. Viele haben einfach Demokratie nicht verstanden und auch Politik und den Kapitalismus nicht.
Diese Unwissenheit bereitet den Nährboden für einfache Lösungen und die bietet die AfD nun mal!

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Keine Ahnung, das wird eine völlig neue Situation werden. Berufsverbote, Einschränkungen für die Individualität des Menschen und alles, was man sich so vorstellen kann. Ich möchte heute noch nicht daran denken!

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Diese Frage kann, glaube ich, so richtig nur ein*e Nichtwähler*in beantworten. Ich gehe wählen, seitdem ich es darf. Wem das aber alles völlig egal ist, den locken wir nicht aus dem Haus, indem wir sagen, es ist wichtig! Sondern er muss ein inneres Bedürfnis verspüren Wählen zu wollen!
Ich würde behaupten, vielen Nichtwähler*innen ist es egal, was die Politik macht und wie unser System ist, sie werden in egal welchem System klar und durchkommen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Gar nicht, die sind zu alt, und wir zu wenige, um mit ihnen Grundsatzfragen zu klären. Wir können die ja alle nicht noch einmal in die Schule schicken. Ich denke, daran etwas zu ändern, ist zu spät.
Hier hätte eine Lohnanpassung vor zehn Jahren, Sicherung der Renten etc. geholfen, aber diese Maßnahmen würden jetzt nicht mehr greifen. Der soziale Konflikt ist aufgebrochen da und Konflikte sind wichtig, um Fragen zu klären. Das wird nicht unbedingt gut ausgehen, aber es wird irgendwie ausgehen und das ist der Sinn von Konflikten. Sie tragen Fragen an die Oberfläche, die unterschwellig jahrelang mitgeschwommen sind. Blicken wir in die Geschichte, macht der überwiegende Teil der Bevölkerung ein und denselben Fehler zum x-ten mal! Sie hören auf Könige, Fürsten, Führer, die im Grunde nur an ihren eigenen Vorteil denken. Scheinbar hat die deutsche Bevölkerung irgendwie dieses Obrigkeitsprinzip verinnerlicht über viele Jahrhunderte. Sie schaffen es einfach nicht, sich selbst zu empowern und Dinge einfach mal selbst als Bevölkerung zu meistern, sondern es wird auf Heilsbringer gewartet und an sie geglaubt! Ob die nun August der Starke, Bismarck, Hitler, Höcke, Gauland, Weidel, von Storch oder Mc Donalds heißen, spielt keine Rolle – einfaches billiges Essen für alle, die zur konstruierten Volksgemeinschaft dazu gehören!

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Keine Ahnung, weil sie ihn nicht kennen und weil das eine lange Historie hat! Christen und Muslime hatten schon immer ihre Konflikte, die häufig blutig waren. Die Kolonialisierung hat hier noch eines drauf gesetzt und ich möchte behaupten, dies steckt unterbewusst in vielen Menschen drin.
Keiner weiß so wirklich, ob es generationenübergreifendes Bewusstsein oder Lernen gibt, aber Fakt ist, ein Kind hat noch keine Vorurteile, sondern bekommt diese durch Elternhaus, Schule und Gesellschaft vermittelt – und solange dies nicht aufhört, wird diese Angst unterschwellig mitschwimmen!

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja, weil die Themen, die Politik bearbeitet, heute so abstrakt sind, dass es tatsächlich schwer ist, diese zu vermitteln und zu erklären. Zusätzlich beschäftigen sich zu wenige Menschen mit Politik, deshalb existiert ein Unwissen oder Halbwissen und das kursiert, und dann fällt es schwer dort zu vermitteln. Außerdem haben Politiker*innen mehr Wissen über Zusammenhänge und Abläufe innerhalb des Systems und dieses Wissen bündeln sie, da Wissen Macht ist. Soll heißen, die Politiker müssen das Wissen teilen, ansonsten wird diese Kluft immer größer. Als ich Stadtrat und Kreisrat war, konnte ich Leuten viele Dinge ganz anders erklären. Das konnte ich nur, weil ich Teil der Gremien war. Dies machen aber viel zu wenige Politiker*innen und dadurch entsteht diese Kluft, die viele frustriert!

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Das sehe ich genauso, denn die Chance die „besorgten“ abzuholen und sie umzustimmen, sind vertan! Da ist nix mehr zu holen, das ist vorbei! Die sind besorgt und wütend und werden es bleiben. Das ist aber deren Problem und ein bisschen leid tun sie mir auch, denn scheinbar haben sie nie ein glückliches und schönes Leben gehabt. Deshalb sollte der Fokus tatsächlich bei der Jugend liegen, denn sie bestimmen unsere Gesellschaft, wenn wir alt und nicht mehr so aktiv sind. Ich möchte dann gerne in einer freien und offenen Gesellschaft leben! Dies kann nur die Jugend ermöglichen!

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Der Begriff Zivilgesellschaft ist mir mittlerweile nicht mehr so ganz klar, denn dieser würde ja bedeuten, es gibt noch eine andere Gesellschaft, und zur Gesellschaft gehören eigentlich ja irgendwie alle, auch die besorgten und wütenden oder hassenden Menschen! Mir ist Gesellschaft wichtig, und wenn mir die existente Gesellschaft und deren Kontext nicht mehr passt oder ich nicht mehr weiß, was ich beitragen kann, damit Gesellschaft offen und gleichberechtigt ist, würde ich gerne aussteigen und mich tatsächlich in einer Parallelgesellschaft wohler fühlen. Gerade wenn man wie ich in der DIY Punk Hardcoreszene zu Hause ist, gibt es da ja ausreichend Möglichkeiten! Die würde ich dann auch gern nutzen und sagen, die Gesellschaft kann mich mal. Bis es aber soweit ist, können wir mit Zivilcourage viel erreichen. Wir können für benachteiligte Menschen kämpfen, wir können für die Freiheit aller kämpfen, denn solange es Menschen gibt, die unfrei und ungleich sind, sind wir auch nicht frei und gleich! Deshalb braucht es Zivilcourage, die für die Werte unseres Grundgesetzes und der Menschenrechte einsteht und dafür kämpft!

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Durch Zivilcourage und indem wir unsere Kraft in die Jugendlichen stecken, die sich in zehn Jahren mit den Konsequenzen unserer heutigen gesellschaftlichen Fails auseinandersetzen müssen. Denen gehört unsere Aufmerksamkeit und so können wir auch Demokratie und damit verbundene Werte schützen. Den IST-Zustand ändern wir nicht und der ist auch nicht schützenswert, zumindest für mich!

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ein Interview, das ich der taz dazu gegeben habe und in dessen Folge eine Menge Stress und Ärger auf mich eingeprasselt sind, obwohl ich nur den IST-Zustand reflektiert und gesagt habe, das wir auf dem Land in Sachsen eben NICHT mehr sind!
Wozu ich stehe und was ich immer wieder so sagen würde. Ja, der ländliche Raum um Grimma und in Gesamt-Sachsen hat ein Problem mit Nazi- und nationalistischen und menschenfeindlichen Einstellungen, das zeigen die Wahlergebnisse. Wer mich dafür hasst, soll das gern tun, aber es ist nun mal die Realität. Ich träume davon, dass wir (damit meine ich antifaschistische Menschen) hier im ländlichen Raum Sachsens irgendwann tatsächlich mehr sind!

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Diese Frage möchte ich ungern beantworten, denn ich bin schon lange hier und habe mir den Arsch aufgerissen für eine Stadt und eine Region, und der Dank dafür ist Ablehnung und Hate gegenüber meiner Person. Ich weiß tatsächlich nicht, ob ich mir das mein ganzes restliches Leben auch noch antun möchte, dafür ist in den letzten acht Monaten zu viel passiert, was mich emotional sehr verletzt hat!

(Credit Foto: Martin Neuhof/Herzkampf)

INTERVIEW MIT STEPHAN CONRAD

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Stephan Conrad, Treibhaus e.V. Döbeln

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich arbeite als Jugendarbeiter im Treibhaus e.V., bin Mitglied im Vorstand des Vereins, arbeite ehrenamtlich in der AG Geschichte, einem Projekt des Treibhaus e.V., und bin Mitglied im Jugendhaus Rosswein e.V. sowie im AJZ Leisnig e.V. Außerdem engagiere ich mich in der sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft zur Auseinandersetzung mit dem NS und betreue jedes Jahr Bildungsfahrten des Herbert Werner Bildungswerks Dresden nach Krakau und Auschwitz. Seit Mai 2019 wurde ich außerdem als parteiloser Kandidat der SPD in den Stadtrat Döbeln gewählt.

wbh: Was ist existenziell und notwendig für deine und eure Arbeit?

Zum einen ist das verfluchte Geld existenziell. Zum anderen ist aber auch die Mitwirkung von jungen und alten Menschen, von Leuten, die schon immer hier gewesen und neu hinzugekommen sind, notwendig. Mitwirkung bedeutet für mich auch zu wissen, wie man sich eine bessere Gesellschaft vorstellt. Nur zu benennen, was besser sein müsste, reicht nicht. Davon lebt ja unsere Demokratie.

wbh: Woran mangelt es?

Der Treibhaus e.V. erhält nicht nur Fördermittel, sondern hat auch einen breiten Kreis von Unterstützer*innen und Engagierten. Aber klar könnten/müssten/sollten es immer mehr sein. Im Vergleich zu anderen Städten sind wir gut aufgestellt. Aber es gibt Tendenzen über die letzten zehn Jahre, die darauf hindeuten, dass eine Mehrheit zwar darauf aufmerksam macht, was nicht gefällt, es aber gleichzeitig nicht verändert.

wbh: Im Idealzustand: Was wünschst du dir für bessere Grund- und Rahmenbedingungen für deine und eure Arbeit?

Es braucht ein Demokratieförderungsgesetz, damit Vereine wie wir von allen Fördermittelgebern institutionell gefördert werden können. Und das über viel längere Laufzeiten als im Moment. Eigenmittel für Projektträger sollten abgeschafft oder nur in Ausnahmefällen erhoben werden – insbesondere kleine Vereine haben damit erhebliche Mehrbelastungen. Solange es das nicht gibt, brauchen wir stabile Förderungen mit fünf- bis zehn-jährigen Laufzeiten und nur symbolischen Eigenanteilen. Die Probleme, die Demokratiearbeit hat, sind teilweise über Jahrzehnte gewachsen und müssen kontinuierlich bearbeitet werden. Das braucht Zeit, Geduld und Geld. 

wbh: Was sind deine Wünsche an die Politiker*innen?

Dass die Erfahrungen von Menschen aus der Praxis ernst genommen werden. Wir sind die Expert*innen vor Ort, wir arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen und sind oft Angriffen (verbal und nonverbal) von Nazis, Wutbürger*innen und AfD-Klientel ausgesetzt.

wbh: Was sind deine Wünsche an die Bürger*innen in deiner Stadt?

Dass sie teilnehmen und mitmachen, dass sie uns durch Mitgliedschaften, Lobbyarbeit, ehrenamtliches Engagement etc. unterstützen, dass sie sich in den eigenen Bekannten- und Freundeskreisen zu unserem Verein bekennen.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Teilnehmen und Mitmachen, Mitglied werden, Lobbyarbeit leisten, sich ehrenamtlich engagieren, sich im eigenen Bekannten- und Freundeskreisen zu demokratiefördernden Verein bekennen.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Weil Demokratie besser funktioniert, wenn man weiß, wie sie funktioniert. Dafür muss man teilhaben. Sei es in einer Partei, in Vereinen oder dem Gemeinwesen. Demokratie lebt vom Mitmachen, von Kompromissen; sie braucht vor allem Geduld und auch genügend Frustrationstoleranz.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Jeder Raum ist politisch, sei es die Schule, das Fußballstadion, der Markt… Das bedeutet noch lange nicht, dass diese Räume parteipolitisch sind. Hier gibt es einen Unterschied, der leider viel zu oft nicht gesehen wird. Dann werfen alle die Hände hoch und rufen: „Wir müssen neutral sein! Wir müssen neutral sein!“ Wir müssen wieder lernen, uns aktiv mit demokratischen, politischen, mit gesellschaftlichen Prozessen auseinanderzusetzen.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Unser Erbe ist die kritische Erinnerung an die deutsche Geschichte, unsere Zukunft ist unbestimmt und muss gestaltet werden .

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Eine solidarische, vielfältige Gesellschaft.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Alles.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Wenn man nicht nur von Arbeit leben will, was man meines Erachtens nicht kann, dann sind diese Bereiche für die Entwicklung einer Gesellschaft maßgeblich.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Wir müssen Populismus und rechten Einstellungen widersprechen – konsequent und überall. Wir müssen alle wählen gehen. Und wir dürfen auch nach einem eventuellem Erfolg der AfD nicht auswandern, sondern weiter machen! 

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Das Erbe der DDR-Abschottung, die Wende und deren Nachwirkungen, der demographische Wandel, schlecht bezahlte Jobs und eine entpolitisierte Gesellschaft.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Förderprogramme wie das „Weltoffene Sachsen“ und „Integrative Maßnahmen“ könnten wegfallen; die Jugendhilfe könnte reformiert und unbequeme Sozialarbeiter entlassen werden. Damit drohen die letzten Instanzen einer toleranten Demokratieförderung wegzubrechen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Vielleicht mit einer Wahlplicht wie in Belgien oder Griechenland (ohne Sanktionen).

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Mit Geduld. Die AfD wird deren Leben auch nicht besser machen. Das versteht man wohl aber erst, wenn man es erlebt. 

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil es keine bzw. kaum Erfahrungen mit dem „Anderen“ gab bzw. gibt und weil sich Unwissenheit und Hysterie in sozialen Medien reproduziert.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja, weil Politik zu kompliziert und zu verstrickt ist und sie wenig mit der Lebenswelt von jeder*m Einzelnen zu tun hat.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Es muss wohl beides passieren, aber als Jugendarbeiter stehe ich eher auf der Seite der Jugend, denn denen gehört die Zukunft. Aufgrund des demographischen Wandels stellen die Wutbürger*innen wohl grundsätzlich eine größere Zielgruppe als Wahlklientel, allerdings widerspricht es der Generationgerechtigkeit, wenn „alte“ Menschen die Zukunft der jungen Menschen mit Rückschritten behindern.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

In Ostdeutschland wichtiger denn je. Zivilgesellschaft hilft dort, wo Verwaltung und staatliche Institutionen nichts bewirken können. Die ist für eine solidarische Gesellschaft unerlässlich, sie kann neben den Medien auch eine Kontrollinstanz und ein Sensor für undemokratische Verhaltensmuster sein.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Durch ein kritisches, politisches Selbstverständnis eines jeden einzelnen, frei nach Winston Churchill: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Eine Parole, die leider das Gefühl vermittelt, nichts weiter tun zu müssen, weil wir ja „mehr“ sind. Es stellt sich auch die Frage einer Definition, wer „wir“ eigentlich sind. Wenn „wir“ die demokratischen Kräfte dieses Landes sind, dann wird das wohl rein rechnerisch eine korrekte Aussage sein. Aber für wie lange und was passiert, wenn es nicht mehr stimmt? Wir im Treibhaus e.V. dachten, dass nach Chemnitz oder jetzt nach den Kommunal-und Europawahlen, ganz sicher nach den Landtagswahlen der #wannwennnichtjetzt der bessere Slogan ist.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Mein Motto, mich in Döbeln und im Treibhaus e.V. zu engagieren, ist ganz nach der Prämisse „Das Private ist politisch. Das Politische ist privat.“ Die Entscheidung gegen ein bequemeres Leben in einer Großstadt mit allen Versuchungen, ausgehend von meiner Sozialisation in der Hardcore-Punk Szene und der DIY Einstellung. Quasi: „Döbeln nervt, also lass mal was tun!“

(Credit Foto: ZEIT online)

INTERVIEW MIT CLAUDIA MAICHER, MDL

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aktiv und sitze seit 2014 für Leipzig im Landtag. Neben Klimaschutz und Erhalt der Artenvielfalt sind mir eine vielfältige, lebendige Kunst, Kultur und Medienlandschaft wichtig. Ich setze mich für gut finanzierte Hochschulen ein, an denen Studierende und Wissenschaftler*innen beste Forschungs- und Lehrbedingungen haben. Vor Ort, im Leipziger Westen, arbeite ich mit der engagierten Nachbarschaft an einem lebenswerten Umfeld mit Stadtgärten, Erhalt von Treffpunkten im Stadtteil und einer Stadtentwicklung, die alle im Blick hat.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Politische Ideen für das Miteinander in diesem Land zu entwickeln, ist eine schöne Aufgabe. Mir ist wichtig, dass die Anliegen der Menschen Sichtbarkeit und eine Stimme bekommen. Politisches Engagement beginnt nicht im Landtag, sondern im Gespräch mit der engagierten Zivilgesellschaft vor Ort. Deshalb sind Bündnisse mit denen, die sich für eine gute, lebenswerte Zukunft in Leipzig und Sachsen einsetzen so wichtig. Nur so können wir gemeinsam Demokratiefeinden, Klimaschutzgegnern und Freiheitsräubern etwas Starkes entgegensetzen.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Demokratie lebt von Mitbestimmung. Sie hört aber nicht beim Wahlgang auf. Nur wer seine Meinung einbringt, kann gehört werden. Und Politik gestaltet die Zukunft. Dass jetzt so viele Menschen vom Klimaschutz sprechen und aktives politisches Handeln einfordern, hängt damit zusammen, dass junge Menschen nicht nachlassen ihre politischen Forderungen deutlich zu machen: auf der Straße, im Internet, zusammen mit Wissenschaftler*innen im Hörsaal und vorm Landtag. So kann sich etwas verändern.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Politik, Demokratie und Grundwerte sind nichts Abstraktes mehr. Da hat sich in den letzten Jahren in Sachsen einiges geändert. Die Zeiten sind politischer geworden und die Auseinandersetzung über unsere Demokratie und den Erhalt von Grundwerten gibt es nicht mehr nur in Expertenrunden, sondern im Wohnzimmer und auf der Straße. Politik findet nicht mehr nur aller fünf Jahre am Wahltag statt. Das ist gut und wichtig, damit Grundwerte und Demokratie nicht nur an Jubiläen gefeiert, sondern täglich verteidigt werden können. Wir sollten uns alle bewusster werden, dass von Freiheitseinschränkungen weniger Solidarität und Abgrenzungen niemand gewinnt.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Austausch und Kennenlernen von Menschen, die unterschiedlich sind, die nicht zusammen ihren Feierabend verbringen und sich in ihrem Job auch nicht begegnen würden, wäre gut für das menschliche Miteinander in einer gemeinsamen Stadt. Zu sehen, wie andere Menschen leben, arbeiten und was ihnen für sich und ihre Kinder wichtig ist, bringt eine andere Perspektive. Das kann hilfreich sein, für eigene festgezurrte Wahrheiten und es schafft Offenheit für Andere.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Diese Werte sind für mich nicht verhandelbar, weil sie universal ohne Ansehen der einzelnen Person gelten. Zuerst und zuvorderst für die Menschenrechte des Anderen einzutreten, ist eine herausfordernde, aber lohnenswerte Aufgabe. Ohne die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Medien gibt es keine Demokratie, weil Demokratie eine unzensierte Öffentlichkeit braucht.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

All das bereichert unser Leben, weil Zugang zu Kultur und Bildung und Unterstützungsleistungen zu einer aufgeklärten und modernen Gesellschaft gehören. Es ist deshalb eine grundlegende politische Aufgabe, Strukturen im sozialen Bereich und die Vielfalt und Freiheit von Kultur zu fördern.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Erstens: Sagen Sie allen und überall, dass am 1. September die Landtagswahl in Sachsen stattfindet. Sie entscheidet darüber, ob es einen alles blockierenden Rechtsruck geben wird oder eine progressive Mehrheit, die tatsächliche Lösungen für den Braunkohleausstieg, Artenschutz, Agrawende, notwendigen bezahlbaren Wohnraum, digitale Infrastruktur, Kulturförderung, tatsächliche Integration u. a. bringt.
Zweitens: Gehen Sie bis dahin mit auf die Straße und stärken sie die Menschen und Parteien, die für ein offenes, freies, vielfältiges und freundliches Sachsen kämpfen, z. B. am 6. Juli Demo #UNTEILBAR – Solidarität statt Ausgrenzung, ab 14 Uhr Windmühlenstraße in Leipzig oder am 24. August in Dresden.
Drittens: Wählen Sie selbst die politischen Kräfte, die sich seit Jahren für Demokratieprojekte, für mehr politische Bildung und Medienkompetenz an den Schulen einsetzt oder die Erinnerungskultur und den Aufbau von Gedenkstätten finanziell viel stärker fördern wollen, wie z. B. BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren haben in Sachsen 27 % der Wähler*innen die AfD gewählt. Bei der Europawahl am 26. Mai waren es mit 25,3 % für die AfD etwas weniger, aber immer noch viel zu viele. Dagegen haben 74,7 % der Wähler*innen diese Partei nicht gewählt. Es liegt jetzt in der Hand der Demokrat*innen zu verhindern, dass die AfD mit ähnlichen Ergebnissen in den Landtag einzieht. Das ist möglich, wenn die Wahlbeteiligung steigt und niemand seine/ihre Stimme verschenkt. Die Streichung der Kulturförderung, die Abschaffung von Qualitätsjournalismus, eine ausgrenzende Sozialpolitik kann noch verhindert werden.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Projekte und Akteure brauchen mehr Sichtbarkeit, Finanzierung und Vernetzung. Die Strukturen zu stärken und Verlässlichkeit zu schaffen, das ist Aufgabe von Politik. Da müssen wir viel mehr Verantwortung übernehmen. Es darf nicht sein, dass zu oft alles auf ehrenamtlichen Engagement beruht. Den Demokratieinitiativen wird zudem immer noch oft Misstrauen entgegengebracht, anstatt sie bei ihrem Kampf gegen Rechtsextremismus zu unterstützen. Sich vor sie zu stellen und mit ihnen gegen Rassismus zu kämpfen, darf von niemanden diskreditiert werden.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Vielen, mit denen ich spreche, ist der Wert ihrer Stimme nicht bewusst. Sie sehen nicht das Angebot und die Unterschiede zwischen den Parteien. Das müssen wir als Politiker und Politikerinnen im Wahlkampf deutlicher machen. Es ist entscheidend, wie stark welche Partei im Landtag sitzt, damit sie die Interessen und Themen, die dem einzelnen wichtig sind, gut vertreten kann.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Darauf habe ich keine einfache Antwort. Wir sollten aber nicht den Fehler machen diese Menschen, die sich (berechtigt oder auch nicht) als Verlierer fühlen, erneut zum Opfer zu machen. Stattdessen ihnen zeigen, dass sich Mitmachen und Gestalten vor Ort mehr lohnt als sich wütend zurückzuziehen. Zu erleben, dass ich selbst für meine Nachbarschaft etwas erreichen kann, wenn ich aktiv werde, ist eine Erfahrung, die positive Kraft gibt und vielleicht auch Ängste abbauen kann.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Es gibt zu wenig wirkliches Kennenlernen und zu viel Nebeneinander. Wenn mehr persönliche Begegnung da wäre, würde sich das Gefühl des Fremdsein verringern. Dazu braucht es aber Offenheit und Neugierde.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ich verstehe, wenn Menschen das Gefühl haben, Politik sei weit weg von ihnen und löse Probleme zu langsam. Mir geht es selbst oft zu wenig voran. Es ist deshalb wichtig zu erklären, warum Entscheidungen manchmal nicht leicht getroffen werden können oder wie Mehrheiten zustande kommen. Die vermeintliche Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen wird immer dann kleiner, wenn ich in meinen Gesprächen erzähle, dass ich viele Probleme selbst kenne – vom Unterrichtsausfall meiner Kinder, mangelnde Internetanschlüsse bis zu fehlenden ÖPNV-Angeboten in Sachsen. Jede Politiker*in ist auch Bürger*in in Sachsen, das ist mir wichtig.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Mir ist bei meiner politischen Arbeit wichtig, immer auch die Interessen der Menschen im Blick zu haben, die nicht wählen können, z. B. weil sie nach uns leben werden. Alles, was wir heute entscheiden, in der Klimapolitik, bei globalen Krisen, aber auch der Frage von Bildungsinvestitionen oder Flächenversiegelung für Infrastruktur in Sachsen, hat Einfluss auf die Entwicklung in der Zukunft. Diese Verantwortung müssen wir ernst nehmen und dürfen nicht nur auf uns und unsere liebgewonnenen Lebensgewohnheiten schauen. Das alles ist aber nur gemeinsam umsetzbar und deshalb muss es mehr gesellschaftliche Debatten über unterschiedliche Möglichkeiten der Zielerreichung geben. Davor sollte sich niemand wütend verweigern.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ohne Engagement für das gesellschaftliche Miteinander außerhalb der Parlamente kann es keine widerstandsfähige Demokratie geben. Deshalb lebt eine freie parlamentarische Demokratie von kritischer Zivilcourage und der Organisation von Beteiligung und Meinungsbildung. Wir brauchen Bündnisse unterschiedlicher Akteure für die Stärkung der Gemeinwohlinteressen.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir uns alle noch stärker bewusst machen, dass von weniger Freiheit und Demokratie niemand mehr hat. Die errungenen Freiheiten der Medien, Kultur und Wissenschaft muss viel stärker überall auch im Alltag verteidigt werden.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!


Ich verbinde damit die Hoffnung, dass am 1. September zur Landtagswahl in Sachsen eine große Mehrheit den nationalistischen, rassistischen Parteien und denen, die am rechten Rand mitschwimmen, eine klare Absage erteilen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Für mich persönlich heißt das, niemals in Resignation zu verfallen. Wann, wenn nicht jetzt können wir gemeinsam mit so vielen auch hier in Sachsen für eine Zukunft arbeiten, die das Leben auch in Jahrzehnten noch für alle gut ermöglicht mit gesunder Natur, verträglichem Klima, reichhaltiger Kultur und Bildung und Menschen, die gern hier herkommen und hier bleiben wollen.