INTERVIEW MIT THOMAS DUDZAK

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin in Kamenz (heute Landkreis Bautzen) aufgewachsen. 2003 bin ich zum Studium nach Leipzig gezogen und hier geblieben. Ja, Leipzig ist Zuhause geworden und weg will ich hier nicht mehr.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin seit 16 Jahren Mitglied der PDS bzw. von DIE LINKE. Ich habe im StuRa der Uni Leipzig politisch viel gemacht und hab viel von diesen Erfahrungen in meine politische Arbeit mitgenommen. Nach Stationen als Wahlkreismitarbeiter und Pressesprecher bin ich seit 2017 Landesgeschäftsführer der sächsischen LINKEN und verantwortlich für die politisch-organisatorische Arbeit der Partei.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Ganz ehrlich: Nicht gerade immer erfüllend. Es hat schon bei frühestem Engagement angefangen, sich komisch anzufühlen. Man ist ja politisch aktiv, weil man Dinge aktiv gestalten und verändern will. In Sachsen hatte ich immer das Gefühl, dass es dafür nur einen begrenzten Rahmen gibt, einen, der einem von einer selbstherrlichen Obrigkeit zugestanden wird. Das Ganze getragen von Bräsigkeit und Selbstgerechtigkeit. Das passiert halt, wenn nach 40 Jahren Solo-Parteienregierung der einen Partei gleich wieder 30 Jahre Regierung einer anderen Partei (davon fast die Hälfte allein, die andere mit schwachen Partnern) folgen. Irgendwann kommt man an den Punkt, dass man das nicht mehr akzeptieren will und sich Leute sucht, die das gleiche Gefühl haben. Oft ist politisches und zivilgesellschaftliches Engagement in Sachsen – besonders dann, wenn man gegen den Strich bürstet – auch ein bisschen überlebenswichtige Notwehr. Das Gute daran ist, dass man sich dann aber zumindest auch über die kleinen Erfolge freuen kann.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Was ist denn Politik? Politik ist die Auseinandersetzung – und zwar nicht nur in Parteien oder Parlamenten – über die Frage, wie wir leben wollen. Also wie wir alle leben wollen. Deshalb ist es nicht vor allem wichtig, sondern vor allem naheliegend, dass das alle beschäftigt. Aber wenn es beim allein Reden unter Freundinnen und Freunden bleibt, wird sich nichts ändern. Das geht nur mit Engagement. Wo, ist dabei fast egal: Ob in der Bürger*inneninitiative, im einem der zig zivilgesellschaftlichen Bündnisse, die es derzeit gibt, in Parteien … Alles legitime Orte. Man darf sich nur nicht entmutigen lassen davon, dass in diesem Land Leute mit Hass, Fake News und Hetze mehr Aufmerksamkeit und Verständnis von vielen Medien und Berufspolitikern bekommen, als Menschen, die für ihre legitimen Interessen in ihrer Lebenswirklichkeit eintreten. Das ändert sich. Langsam, aber bestimmt.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, das muss gar nicht mehr ins Bewusstsein gerückt werden. Wir haben eine unglaubliche Repolitisierung der Gesellschaft erlebt in den letzten Jahren – wenn auch nicht immer aus sympathischen Anlässen. Aber wir erleben eine unglaubliche Welle politischen Engagements. Menschen haben zu Themen wieder Positionen, die sie öffentlich vertreten. Was passieren muss, ist, dass sich dieses Engagement verstetigt, dass wir nicht nur gegen Hass, sondern für unsere Interessen Partei ergreifen. Aus Reaktion muss Aktion werden. Aus einzelnem Engagement gemeinschaftliches Handeln. Und zuletzt dann: gesellschaftliche Veränderung.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Wir sind Ossis. Unser materielles Erbe wird also voraussichtlich sehr gering sein, das dürfte klar sein. Ansonsten Gegenfrage: Was ist unsere Gegenwart? Die ist nämlich Startpunkt für das, was kommt. Und das ist derzeit einerseits eine Gesellschaft, in der an vielen Stellen die Solidarität aufgekündigt worden ist, die soziale Spaltung stark ist und größer wird und die Demokratie sich seit Jahren kaum weiterentwickelt hat. Andererseits gibt es aber für alles Beispiele in vielen Teilen der Welt, wo die Sachen richtig gut laufen. In den USA ist „demokratischer Sozialismus“ auf einmal kein Unwort mehr, sondern Fixpunkt für eine ganze Generation. In Barcelona wird die digitale Bürger*innen-Demokratie neu erfunden, in Berlin machen die Leute ordentlich Druck auf die großen Immobilienkonzerne und so weiter. Da geht was.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Dass sich Menschen in unserer Gesellschaft nicht damit zufrieden geben, dass es anderen schlechter geht als ihnen, sondern dass sie gemeinschaftlich dafür kämpfen, dass es für alle besser wird.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Menschenrecht. Und das ist unveräußerlich.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Da die Aufzählung in dieser Frage ja fast alles abdeckt (Stichwort: „Soziales“), was es gibt: Sehr wichtig.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Zum Ersten: Selbst wählen gehen. Zum Zweiten: Mit Menschen in der Umgebung über Politisches reden, klarmachen, worum es geht. Man muss nicht überzeugen und nicht auf alles eine Antwort haben, aber man kann Nachdenken anstoßen. Und zum Dritten: Ganz Mutige können, auch als Nichtmitglied, die Partei unterstützen, die man gut findet. In jeder Form, ob durch Aktion, Engagement oder vielleicht auch finanziell. Denn eines wird oft vergessen: Parteien sind keine Dienstleisterinnen. Da stehen nicht hauptsächlich Profis. Da stehen Menschen wie wir alle, die sich engagieren, weil ihnen das wichtig ist. Sie deshalb ihre Freizeit opfern. Und sich auch oft genug fragen, warum sie das alles eigentlich tun. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass die allermeisten Menschen, die sich politisch engagieren, ihren Lebensunterhalt damit nicht bestreiten, sondern tatsächlich dafür bezahlen, mitzumachen, nämlich Mitgliedsbeiträge. Ist das Wahnsinn? Nein. Es ist Überzeugung.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Hä? Die Rechtsaußenpartei hat bei den Kommunalwahlen in Sachsen nicht gesiegt. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Die Gründe sind vielschichtig, aber unter uns: Ein Grund dürfte sein, dass alle nur wie das Kaninchen auf den Wolf starren, statt sich auf ihre eigenen Inhalte zu fokussieren. Man merkt es auch an den Fragen in diesem Interview: Nur eine Partei wird namentlich genannt – und damit aufgewertet. Dann auch noch den Sieg bei einer Wahl zu erfinden, den es nicht gab, das muss nicht sein. So schafft man sich selbsterfüllende Prophezeiungen.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Man kann nicht mit zwei verschiedenen Ergebnissen (Europa- und Kommunalwahl sind verschieden ausgegangen) in ein Parlament einziehen. Ansonsten: Bestenfalls passiert das nicht. Zweitbestenfalls kann es passieren, dass das einfach keine Auswirkungen hat, ob die jetzt mit 10, 20 oder 30 Leuten auf ihren Sitzen im Landtag herumblöken. Ansonsten lohnt der Blick ins Geschichtsbuch.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Am besten indem man mitmacht. Indem man über ihr Engagement redet. Indem man hilft. Manchmal ist Hilfe schon ein Schulterklopfen und ein aufrichtiges Dankeschön.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Sie müssen das Gefühl bekommen, dass es was zu entscheiden gibt. Und bei dieser Landtagswahl gibt es was zu entscheiden, mehr als jemals zuvor. Nichts wird mehr so sein, wie es war, egal, wie es ausgeht. Also stehen wir vor der gesellschaftlichen Entscheidung: Wo soll es mit diesem Land hingehen? Progressive Zukunft oder Barbarei.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Gesellschaftliche Verwerfungen und persönliche Nachteile haben so gut wie alle Ostdeutschen nach der Wende erlebt. Und wer benachteiligt wurde, darf sich übrigens auch so fühlen. Und anders, als es die Frage nahelegt, steht man damit nicht „außerhalb der Gesellschaft“ und muss von irgendwem „zurückgeholt“ werden. Die strukturellen Nachteile, die es bei uns im Osten noch gibt, zu bekämpfen und überhaupt eine starke Stimme für den Osten und uns Ostdeutschen zu sein, das sehe ich auch als Aufgabe meiner Partei. Aber, wenn die These der breiten Betroffenheit stimmt, dann gibt es einen Großteil in dieser Gesellschaft, der das alles erlebt hat, ohne jetzt nach unten zu treten. Ich sage: Nicht der Asylsuchende, nicht der Migrant ist schuld an dem, was hier passiert ist. Waren damals ja auch noch gar nicht da. Es ist der Kapitalismus. Die Grenze verläuft nicht zwischen der Herkunft von Menschen, sondern zwischen oben und unten. Eigene soziale Benachteiligung ist maximal eine schlechte Ausrede für Rassismus. Ich sehe das an meinen Eltern. Sie haben uns großgezogen, bis zum Hals in der Scheiße, aber sie sind anständig geblieben. Den Anstand zu verlieren ist eine Entscheidung, die man trifft. Ich sage: Du kannst hier stehen, an unserer Seite und gemeinsam gegen Ungerechtigkeiten kämpfen. Oder du kannst vor dem Heim stehen. Parolen schreien, hassen, Menschen bedrohen, Leute anspucken, weil sie anders aussehen. Aber dann werde ich dich bekämpfen. Es ist deine Entscheidung.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Hören wir auf, Rassismus als Angst zu bezeichnen, das verharmlost. Wer Angst kennt, weiß, wie sie sich äußert. Egal ob das Flugangst, Klaustrophobie oder Angst vor Spinnen ist. Die Leute stehen nicht da und schreien Flugzeuge voll oder zünden Fahrstühle an. Das ist nicht Angst, das ist Hass.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Wieso sollte „Politik“ Menschen abholen? Wenn ich Menschen abholen möchte, wäre ich Taxifahrer geworden. Politik ist Ringen um Meinungen, um Positionen, um bessere Argumente. Es ist kein Service, es ist gesellschaftlicher Streit im besten Sinne. Niemand hat das Recht, sich da an die Seitenlinie zu stellen und nur Erwartungshaltungen zu formulieren. Wer will, dass sich was ändert, muss sich engagieren. So hat es bei mir ja auch angefangen. So muss es immer beginnen. Es gibt einfach nicht „die Politiker*innen“ auf der einen und „die Bürger*innen“ auf der anderen Seite. Ich bin genauso Bürger, finde mich aber mit gesellschaftlichen Verhältnissen nicht ab und engagiere mich genau deshalb.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Lautstärke in der Debatte ist nicht unbedingt ein Zeichen für das bessere Argument – und auch nicht für numerische Überlegenheit. Insofern wäre es manchmal wirklich besser, nicht immer nur auf die Lauten und Wütenden zu schauen.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Sehr wichtig.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Wir müssen den Mut haben, auch Leute aus unserer Gesellschaft zu verabschieden. Es gibt einen Wertekonsens in unserer Gesellschaft. Freiheit, Menschenrechte. Wer das für sich reklamiert, aber für andere in Frage stellt, der verlässt unseren Konsens. Und dem bringe ich kein Verständnis entgegen. Dem sage ich: Danke. Raus, mit dir spiele ich nicht.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ein geiles Konzert. Mit einem komischen Gefühl am Ende: Da waren so viele Menschen. Wenn man sich so oft alleine gefühlt hat im politischen Engagement, dann ist es gut, zu sehen, dass hier noch so viele mehr sind, auf die man bauen kann.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich werde meine Koffer niemals packen. Ich werde kämpfen. Und ich hoffe, das sehen sehr, sehr viele Menschen genauso wie ich. Gäbe im Übrigen auch keinen Ort, an den ich sonst gehen wöllte.

INTERVIEW MIT MICHAEL LINDNER

wbh: Magst Du unseren Leser*innen kurz von Deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin Brandenburger Wirtschaftsflüchtling, Blogger, Ehrenamtler, Pressesprecher, Sozial PR-Manager, Fußballmanager, Agenturchef, Journalist, Lernender und vor allem Netzwerker.
Und, ganz plakativ: „Ich wurde so geboren, ich werde so bleiben bis ich sterb, ich wurde so geboren, Antifaschist für immer, für immer.“ (Antifaschist Songtext von Irie Révoltés)

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein? Wie gestaltest du Politik mit?

Die wichtigste Basis für Mitgestaltung von Politik ist der Alltag. Hier setze ich meine humanistische Grundhaltung um. Achtung und Anerkennung von Menschen und Umwelt. Das kann jeder umsetzen, jeden Tag im Alltag. Ansonsten stelle ich meine Fähigkeiten oft in den Dienst sozialer, kultureller und gesellschaftlich relevanter Projekte wie dem Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland oder eben hier für die Plattform #wirbleibenhier. Ich gehe zu Demos für Frieden, Demokratie und Menschenrechte, um Flagge zu zeigen.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es ist ein gutes und ein schlechtes Gefühl. Gut, weil ich aktiv für humanistische Ziele bin. Schlecht, weil sich mit der Wende hinsichtlich der Gerechtigkeit in der Gesellschaft nicht so viel getan hat. Die Demokratie und der Pluralismus in der Bundesrepublik sind leider nur ein Blendwerk für das Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich. Und an der Schnittstelle zwischen beiden auseinanderdriftenden Polen sitz eine große uninteressierte Masse, gefangen in der Angst des Abstiegs und in dem heimlichen Wunsch, in der Oberliga mitspielen zu dürfen. Und deshalb möchte ich gern meine Aktivitäten erweitern. Vielleicht muss ich dazu für meine Zukunft ein paar Entscheidungen treffen.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Zwar sind die demokratischen Kräfte in der Mehrheit gegenüber den AfD-Wählern, aber sie sind zersplittert zwischen rechtskonservativ bis links. Und deshalb braucht es Aufklärung, Gerechtigkeit, Bildung, Angebote für Jobs und Freizeit. Blicken wir auf die Kinderarmut. In Ostdeutschland ist jedes vierte Kind davon betroffen. Oder: Ungleiche Löhne und Gehälter in Ost und West zeugen von einer Schieflage der Bewertung von gleicher Arbeit. Das lässt sich erst recht auf die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern ausweiten. Die nicht aufgearbeitete Geschichte der Arbeit der Treuhand beim Ausverkauf der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wende. Seit 30 Jahren ein Verbot des Nachdenkens über die Leistungen der Bürgerinnen und Bürger der untergegangenen DDR. Das Festhalten an Stasi und Mauer als wohl schlimmsten Auswüchsen des Scheinsozialismus. Ich glaube, das sind auch Ursachen für die Unzufriedenheit und damit den erstarkenden Neofaschismus besonders im Osten. Darum ist das aktive politische und/oder gesellschaftliche Engagement wichtig.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Da bin ich wieder beim Alltag. Sich nicht wegducken, wenn am Mittagstisch über „die Ausländer“ geredet wird, weil „die alles bekommen“. Dann muss man ins Gespräch kommen und fragen, woran es denn dem gegenüber fehle. Ich will es verstehen, warum diese Meinung bei Menschen, denen es im Verhältnis zu den Geflüchteten sehr viel besser geht, hochkocht. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen ihre Umgebung nicht an Fakten, sondern an Gefühlen festmachen. So wie wir als Kinder das Wort „heiß“ erst mit dem Gefühl dafür wahrnehmen konnten.
Daher ist es eine der wichtigsten Aufgaben für JETZT und für die Zukunft, Kindern und Jugendlichen eine politische Bildung angedeihen zu lassen, die zu allererst den Humanismus oder nennen wir es auch Nächstenliebe in den Vordergrund stellt. Hier werden die Gefühle der Menschen angesprochen. Nicht nur eine Stunde Ethik bei den höheren Klassen, sondern die Entwicklung zum Humanismus von den Kleinsten bis zu ihrer persönlichen Selbstständigkeit. Wir diskutieren stattdessen über Einschränkungen im Musikunterricht, im Sportunterricht – beides Fächer, in denen man über gemeinsames Singen und Musizieren oder in Mannschaftssportarten, das Zusammenstehen als Team fördert. Jetzt will man Wirtschaft als Lernfach einführen. Warum? Kapitalismus verstehen? Das sind hier nur kurze Gedanken, die mich stets umtreiben, wenn es um die Wichtigkeit von politischer Aktivität geht: Bildung zuerst!

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Erbe: Ein Besuch in Theresienstadt vor ein paar Tagen. Erkennen, was Nationalismus und Faschismus ist, was Menschen Menschen angetan haben. Nachdenken über die Nachkriegssituation in Europa. Zwei deutsche Staaten mit sehr unterschiedlichen Gesellschaftszielen und doch gleichen konservativen Machterhaltungsansprüchen.
Drüben fand bis heute nie eine richtige Entnazifizierung statt. Das Resultat ist der immer mehr erstarkende Rechtsterror. Zudem konnte sich im „Westen“ auf Basis von Marshal-Plan und Kriegsgewinnlern ein relativ leistungsstarkes Wirtschaftssystem etablieren, das mit allen – auch undemokratischen Mitteln (z. B. der „Radikalenerlass“ von 1972) – seinen Erhalt bis in die Gegenwart rettete.
Auf der hiesigen Seite suchte man mit allen Mitteln den Sieg über Hitlerdeutschland durch Disziplinierung und Einschüchterung sowie Verfolgung von Andersdenkenden zu verteidigen. Mauertote, Gefängnis, Enteignungen, Bespitzelung, Reiseunfreiheit … einbegriffen. Meiner Meinung nach versteckte man sich hinter einer sozialistischen Idee, die aber niemals diese Verfehlungen von Menschen an den Machthebeln sowie ihren kleinen Helfershelfern in Betriebskollektiven, Künstlertruppen, Medien … beinhaltet. Dadurch fand eine Diskreditierung dieser Idee für eine sozial gerechte Gesellschaft auf Jahre hin statt.
Doch dürfen wir nicht vergessen, dass beide beispielgebenden Entwicklungen in Deutschland sehr eng zusammenhängen. Menschen haben zu lange weggeschaut, Unrecht geschehen lassen. Wir waren zum Großteil alle ein Teil der Systeme, hüben wie drüben. Da schließe ich mich gar nicht aus. Als es aus dem Ruder lief, hatten sich Machtstrukturen so verfestigt, dass die Massen sich mit dem Zustand abgefunden hatten und jegliches Andersdenken als Aufstand gegen das Bestehende verstanden und selbst von der Masse bekämpft wurde und wird. Genau in dieser Schleife hängen wir jetzt schon wieder fest. Und deshalb … Zukunft: Wir haben jetzt die Chance, vieles von dem, wozu uns damals der Mut oder die Möglichkeiten fehlten, anders zu machen, aktiv mitzugestalten. In Vereinen, Verbänden oder Sammlungsbewegungen. Alle Parteien, auch wenn sie das gestaltende Machtinstrument der Bundesrepublik sein sollten, sind derzeit nicht in der Lage über ihre Machterhaltungsbestrebungen hinweg zum Wohl der Bürgerinnen und Bürger beizutragen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Achtung, Umsichtigkeit, Empathie, Ehrlichkeit. Das sind aber menschliche Eigenschaften, die nicht vererbt werden, sondern in den Entwicklungsprozess für jeden Menschen einfließen müssen. Im Elternhaus, in der Kita, der Schule, der Berufsschule, an der Universität und an jedem Arbeitsplatz. Das bedarf aber vieler geschulter Fachkräfte, die es verstehen, einerseits Werte für das menschliche Miteinander zu vermitteln und andererseits jedem die Freiheit zu lassen, selbst Erfahrungen mit dem menschlichen Miteinander zu machen. Und genau an diesen Fachkräften mangelt es noch. Hier muss sehr viel aufgeholt werden.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Wir sind alle Menschen: https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/dirk-steffens-gibt-es-menschliche-rassen-100.html Es gibt keinen Grund für uns, Unterschiede untereinander festzumachen. Und daher sollten wir uns untereinander gegenseitig achten, unterstützen, fördern und fordern. Es geht in erster Linie um die Erhaltung des Lebens auf dieser Erde. Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung haben eine Basis: Frieden. Da ist kein Platz für Neid, Arroganz oder Doppelmoral.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Alles gehört zusammen. Wir könnten vielleicht auf die psychologische Betreuung einschränken, wenn wir mehr Zeit und Muße für das Aufnehmen von Bildung und den Genuss von Kunst und Kultur hätten. Wenn Elternhaus, Schule, Medien … mehr achtgeben würden, was in den verfügbaren Medien verbreitet wird, dann wäre der Gesellschaft auch schon viel geholfen. Und wieder das Thema soziale Gerechtigkeit: Armut ist eine der Hauptursachen, warum Kinder und Jugendliche aus der gesellschaftlichen Bahn geworfen werden. Hier können Clubs, soziale Jugendzentren nur ein Auffangbecken sein. Sie sind nur ein Teil der Lösung des Problems und daher gegenwärtig so wichtig bei der psychologischen und psychosozialen sowie kulturellen und Bildungsbetreuung von Kindern und Jugendlichen. Sie können eine gewisse ausgleichenden Balance schaffen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Lest die Parteiprogramme durch. Nicht nur die plakativen Zusammenfassungen. Wenn Euch etwas nicht klar ist, dann schreibt an die Kandidaten oder geht zu den Bürgerversammlungen. Wenn Ihr keine Antwort erhaltet oder es von dem Abgeordneten vor Ort keine Fragen-Antwort-Stunden gibt oder das Zeitfenster für die Antworten auf Eure Fragen nicht ausreicht, dann solltet Ihr diese Kandidaten nicht wählen. Wenn Euch die Antworten nicht passen, dann bohrt nach, bis Ihr Lösungsansätze für ein besseres Sachsen/Brandenburg/Thüringen erkennen könnt.
Schult Euch selbst. Die klassischen Medien sind nur ein Hilfsmittel. Nutzt das Internet, um Euch zu informieren. Facebook & Co. können Anreize zum Nachdenken liefern, aber sie sind keine wirklichen Informationsmittel, dessen muss sich jeder bewusst sein. Bücher sind hervorragend, aber anstrengend, weil sie oft so dick sind. Aber es steht viel Kluges drin, was kein YouTube-Channel in seiner Kürze erfassen und zusammenfassen kann.

wbh: Was sind Deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Mangelndes Selbstvertrauen und mangelnde Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger. Zu viele schauen nach oben und machen für gesellschaftliche Entwicklungen die da oben, die Politiker, die Chefs verantwortlich. Und natürlich sind die da oben auch nur Menschen. Mal mit, mal mit weniger Bildung. Sie machen Fehler, weil man sie diese hat machen lassen. Oder besser, die kritischen Stimmen wurden als Demokratiekritiker abgewiesen. Die Fehlentwicklungen der letzten Jahre hinsichtlich der Gestaltung sozial gerechter Lebensbedingungen für alle Bürgerinnen und Bürger haben Spuren hinterlassen.
Schauen wir uns an, wohin Unternehmen mit ihren Investitionen gehen. Dorthin, wo die Infrastruktur stimmt. Kleine ostdeutsche Gemeinden und Städte haben vielleicht sanierte Straßen und die Beleuchtung dazu. Vielleicht hat der ein oder andere einheimische Häuslebauer seinem Haus einen neuen Anstrich verpassen können. Aber, Arbeitsplätze gibt es keine. Kultureinrichtungen für Theater, Ballett, Musik: Fehlanzeige. Jugendclubs: Nein oder kaum. Vielleicht ein Faschingsclub oder Fußballverein, die sehr wertvolle Arbeit für den Zusammenhalt der Bürgerschaft leisten. Das reicht aber nicht aus, um den Menschen eine Zukunft zu geben. Daher halten die Leute eher am Bestehenden fest. Wollen sich nichts und nicht noch mehr wegnehmen lassen. Und die AFD schnappt diese Ängste auf, mischt es mit trumpschem Krakeelen gegen das bestehende Establishment, sprich gegen die herrschenden Parteilandschaft und stellt das Heimatgefühl über alle Menschlichkeit. Es ist eine offensichtliche Methode, um den „besorgten Bürger“ in seiner Meinungsbildung politisch zu beeinflussen. Und gerade auf der kommunalen Ebene kennt man sich. Da steht der freundliche Nachbar auf der Wählerliste der AfD. Der versteht die Menschen, den kann man doch mal wählen, seine Gedanken waren nie verkehrt. Das mag auch alles nachvollziehbar sein. Jedoch steht dieser AfD-Kandidat für eine Partei, die sich offenkundig gegen die erreichten demokratischen Errungenschaften wendet. Eine Partei, die offen gegen Ausländer und Menschen anderen Glaubens oder anderer sexueller Ausrichtung hetzt. Eine Partei, die den Nationalsozialismus als „Vogelschiss in der Geschichte“ bezeichnet.
Alle anderen Parteien haben nichts für die Bürgerinnen und Bürger Ansprechendes als Alternativen entgegenzusetzen. Weder werden die AfD-Wähler durch die Themen Frieden und soziale Gerechtigkeit angesprochen, noch durch Umweltfragen, noch durch „wirtschaftsliberale Themen“. Es sind nicht ihre Probleme. Sie wollen Arbeit, den ÖPNV, den kleinen Konsum und die Kneipe mit Gesellschaftssaal, die Gemeindeschwester oder einen Arzt, den ABV oder „Dorfpolizisten“ … Jetzt kann die Politik überlegen, wo sie in den letzten 30 Jahren den Rotstift angesetzt hat bzw. Fehlentwicklungen zugunsten von Ballungsräumen und vorgeschobenen Investorenzwängen zugelassen hat. Aber letztlich, da bin ich am Anfang der Antwort zur Fragestellung, haben die Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten in der Nachwendelethargie am Ortseingang in den Müll geworfen.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft – Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Es darf gar nicht zu einem Erfolg der AfD in Sachsen oder Brandenburg oder Thüringen kommen. Wenn man sich die Aussagen hinter den Schlagworten, die in einigen Punkten gar nicht so anders sind wie die von anderen Parteien, schaut, dann wird ein ganz großer Abbau von Werten in Kunst und Kultur, Bildung und Soziales stattfinden. Genau in den Bereichen der Gesellschaft, die unser Land so auszeichnen und bunt machen.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Geht dorthin, wenn Veranstaltungen stattfinden oder sich wieder eine Gegenwehr etablieren will. Kommt mit den Aktivisten ins Gespräch oder bietet Eure Hilfe an. Manchmal reicht es, wenn man seine eigenen Netzwerke nutzt, um Informationen von den Initiativen zu verbreiten. Wir haben alle genug Zeit, um eine Alternative zur „Denkzettel-Wahl“ zu organisieren. Das geht aber nur, wenn wir alle zusammenstehen und unsere Stimme gemeinsam mit Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort erheben.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen oder Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Es geht nicht mit Versprechungen, die alle vor Wahlen vollmundig in die Mikrofone säuseln. Die Bürgerinnen und Bürger sind zumal in den Punkten intelligent genug, um aus ihren Erfahrungen zu wissen, dass Wahlversprechen noch nie für den Bürgerinnen und Bürger gefühlt umgesetzt wurden. Und die Fehler aus den letzten 30 Jahren wird man bis September nicht korrigieren können.
Ich glaube, dass es erstens wichtig ist, keine menschenverachtende Rhetorik in der Öffentlichkeit, vor allem in den Landtagen und im Bundestag zuzulassen. Das wäre die erste Abgrenzung von der AfD. Eine große öffentliche Entschuldigung für die Fehler seit der Wende wäre endlich angebracht. Dazu eine strikte Aufarbeitung durch eine Kommission, die sich aus Ost-West-Historikern ohne Parteibindung zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern zu den entsprechenden konkreten Themen zusammensetzen. Mit einem gewissen ernsthaften politischen Willen kann das schnell organisiert werden und hat etwas mit Bürgerbeteiligung zu tun.
Die konkrete Einbindung der Bürgerschaft in sie betreffende Projekte ist wohl einer der wichtigsten Punkte. Nicht nur Politiker haben gute Ideen, sondern jede/r hat etwas zu sagen und zur gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen. Die Arroganz der Politik und ihres Machtapparates muss eingedämmt werden. Das heißt aber auch, dass Entscheidungen mal etwas langsamer dauern oder auch unkomplizierter gelöst werden können.
Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger zu dieser Beteiligung motivieren. Die Wut in Engagement für sich und andere umwandeln. Vielleicht funktioniert es.

wbh: Warum haben Deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Das hat etwas mit dem schon erwähnten Festhalten an dem Bestehenden zu tun. Die konservative Haltung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber allen Veränderungen hat etwas mit den Erfahrungen aus den letzten 30 Jahren zu tun. Den Menschen wurde Vieles genommen. Das, was ihnen gegeben wurde, haben sie aufgrund der Normalität und des Alltags vollkommen vergessen. Man glaubt, dass man hier alles selbst erarbeitet habe. Das stimmt sogar zu einem gewissen Teil. Dass wir aber viele Dinge unseres Alltags, wie billiges Essen, billige Kleidung, billige Unterhaltungselektronik, billiges Bier durch eine Ungleichbehandlung im eigenen Land, in den osteuropäischen oder asiatischen oder afrikanischen oder lateinamerikanischen Billiglohnländern erreicht haben, scheint nur eine Propaganda „links-grüner Sozialromantiker“ zu sein. Privatfernsehen und -rundfunk sowie konservative Zeitungen tragen durch ihre Zerstreuungsprogramme noch dazu bei, dass man von den wahren Ursachen von Flucht und Vertreibung abgelenkt wird. Viele schauen voller Neid auf die „Geißens“, weil sie auch so ein Leben in Saus und Braus führen möchten. Oder sie ergötzen sich am Leid der noch „niedrigeren Schichten“ bei „Vera unterwegs – Zwischen Mut und Armut“. Oder sie „fiebern“ mit den jungen Mädels bei „GNTM“ mit. Da ist kein Platz mehr für die Probleme von Müllhalden in Agbogbloshie, so „heißt jener Teil der ghanaischen Hauptstadt Accra, in dem eine der größten Elektro-Müllhalden der Welt liegt. Er gehört zu den verseuchtesten Arealen der Welt. Rund 6.000 Frauen, Männer und Kinder leben und arbeiten hier.“ (https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/ttt-23072018-welcome-to-sodom-100.html).
Hinzu kommen die Umweltschäden, die wir durch unseren unmäßigen Verschwendungswahn verursachen. Erderwärmung, Abschmelzen des Polareises, Ansteigen des Meeresspiegels, Vernichtung von Lebensgrundlagen ganzer Inselbevölkerungen. Alles potenzielle Flüchtlinge, die sich dann auf dem Weg dorthin machen, wo vermeintlich die besten Lebensbedingungen herrschen.

wbh: Meinst Du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja, siehe oben und unten, wo ich mich dazu geäußert habe.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und WutBürgerinnen und Bürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Es sollte auf alle Probleme aller gesellschaftlicher Interessensgruppen eingegangen werden. Ich habe es oben schon geschrieben, dass die Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger an den sie betreffenden Entscheidungen wichtig ist. Das geht bei Entscheidungen über Rüstungsprojekte und Beteiligungen an Kriegseinsätzen los und zieht sich weiter über die Themen Kitagebühren, Bildung, Jugendarbeit, Kultur- und Kunstfreiheit, Weg mit Hartz IV, sozial gerechte und gerechtfertigte Bezahlung von Arbeit, bezahlbare Mieten, kostenlose Gesundheitsversorgung und Pflege für gesundheitlich eingeschränkte und ältere Menschen … Die Politik muss aufhören, sich in parteipolitischen Ränkespielen zu verlieren und endlich mit den Bürgerinnen und Bürgern langfristige Lösungen erarbeiten.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

In erster Linie verbinde ich damit keine örtliche Beschränkung. „Wir bleiben hier“ heißt für mich: Ich bleibe bei meiner humanistischen Grundeinstellung. Die will ich verteidigen und immer wieder durch Gespräche mit Menschen weiterentwickeln. Der Ort dafür ist egal. Dort, wo Menschen glauben, ausgrenzen zu können, möchte ich ihnen entgegentreten; in Diskussionen, auf Demos, im Ehrenamt, auf meinem Blog.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Den großen Wunsch, dass wir die wabernde und schweigende Masse bewegen können, sich ihrer Kräfte bewusst zu werden, um für sich, ihre Kinder und Enkel aktiv in Sachen Frieden, soziale Gerechtigkeit und Umwelt aktiver zu werden und die Demokratie so auszureizen, dass man den Herrschenden in Politik und Wirtschaft immer wieder den Spiegel vor das Gesicht hält und ihnen verdeutlicht, dass wir es sind, die diese Demokratie tragen und stärken. Politiker und Wirtschaftschefs sind als Dienstleister von uns berufen worden, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die fragile Demokratie in Deutschland und Europa stabiler wird und für jeder seiner Bürgerinnen und Bürger eine Zukunft bietet.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Zivilcourage bedeutet in erster Linie für mich, dass ich mich an die Konventionen halte, die wir für uns Menschen untereinander vereinbart haben. Die Charta der Menschenrechte, das Grundgesetz, die Straßenverkehrsordnung … oder für manch einen sind es religiöse Schriften, Manifeste, die Vereins- oder Hausordnung. Auch wenn es schwerfällt, sich immer daran zu halten, so scheint es mir doch sehr wichtig. Ansonsten versinken wir im Chaos. Und deshalb zählt zur Zivilcourage auch dazu, meinen Nächsten zu motivieren, sich auch im Rahmen dieser Konventionen zu bewegen. Und dann bilden wir alle, die verstanden haben, wie wichtig das Zusammenleben von Menschen als soziale Wesen, als Teil der Umwelt auf dieser Erde ist, die Zivilgesellschaft.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Gehen wir wählen. Arbeiten wir in sozialen Projekten ehrenamtlich mit. Streiten wir für den Frieden und eine gesunde Umwelt. Schauen wir nicht weg, wenn es um Ungerechtigkeiten, Unmenschlichkeit geht, Unterstützen wir Hilfsorganisationen, die Menschen auf der Welt vor dem Ertrinken, dem Verhungern und Verdursten retten oder Kindern eine Chance geben, zur Schule zu gehen. Sagen wir dem Nachbarn im Haus einfach mal freundlich „Guten Morgen“ und wünschen ihm einen schönen Tag.

INTERVIEW MIT MICHAEL SCHWESSINGER

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich arbeite als Schriftsteller und Bäcker, bin irgendwann mal vor knapp 20 Jahren aus der Fränkischen nach Leipzig gezogen und ich hatte mich damals in die Stadt verliebt. In ihre Ambivalenz, ihre Widersprüche, Bruchstellen, und es war eben die Stadt der Gothic-Culture und damals war das der Platz, wo ein Romantiker gut und gerne leben wollte. Hab dann in Leipzig und Halle Afrikanistik und Ethnologie studiert und nach einigen schönen Jahren der Studiererei, war ich dann doch irgendwann froh, dass ich was konnte, mit dem man einfacher über die Runden kam als mit Sozialwissenschaften. Außerdem sind Arbeit und Schreiben bei mir auch kein Widerspruch, also im Gegenteil. Ich bin immer wahnsinnig gerne gereist und hatte diese Neugier, immer hinter die nächste Kurve dieser Welt zu schauen, die Straße noch einigen Kilometern zu folgen, diesen Feldweg zu gehen, um zu schauen, was es da zu sehen gäbe. Das war auch der Grund für meine Fächerwahl. Neugier auf die Welt. Ich kann heute sagen, dass es dafür auch keinen besseren Beruf gibt als Bäcker, denn als Bäcker kannst du überall auf der Welt arbeiten, und du lernst die Menschen nicht auf einem Traumschiff oder im Urlaub kennen, sondern arbeitest mit ihnen zusammen. Das erzeugt eine ganz andere Atmosphäre, Nähe und Vertrautheit. Daraus speisen sich dann auch meine Geschichten. Die Erfahrung der Welt sozusagen. So reiht sich ein Land an das nächste und nach Süd- und Osteuropa bin ich nun gerade in Norwegen gelandet. Life goes on.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Nach fünf Jahren quer durch Europa bin ich natürlich sehr dankbar, dass dies überhaupt möglich ist. Mich interessiert dabei auch gar nicht die Diskussion über irgendwelche Bananennormen oder blablabla. Das mag alles sein, aber Europa ist eine wunderbare Möglichkeit. Ich fuhr 2016 von Tarifa in Andalusien bis nach Leipzig ohne eine einzige Kontrolle. Ich habe in einem halben dutzend Ländern gearbeitet und dabei soviele Menschen aus allen Teilen der Welt und ihre Gesichten kennengelernt. Das ist einfach wunderbar. Ich muss da immer an meinen Vater denken und eine Situation aus meiner Kindheit, die sich mir eingebrannt hat. Mein Vater war Jahrgang 1937, Bäcker, Jahrzehnte Bürgermeister und politisch für die CSU im Kreistag Bayreuth. Er war von dieser Kohl-Generation, für die die deutsche Einheit ein Lebenstraum war. Es muss irgendwann in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gewesen sein, als wir in den Frankenwald fuhren und mein Vater einfach ne halbe Stunde schweigend vor diesem Grenzzaun stand. Wir konnten das als Kinder nicht deuten, waren eher an den Wachtürmen interessiert, aber diese Momente, die sich mir dann erst viel später erschlossen, haben sich mir eingebrannt. Mein Vater schweigend vor diesem Grenzzaun. Das war eine große Wunde für diese Generation und ich finde mich auch in der Verantwortung daran zu arbeiten, dass es diese Grenzen nicht mehr gibt. Das vergisst man heute recht schnell.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Also ich denke, dass der Mensch ein zoon politikon, ein politisches Wesen ist, dass er eben den Austausch braucht mit anderen Menschen, ansonsten erstarrt er und vereinsamt. Es mag einige Gurus geben, die sagen, sie lieben die Einsamkeit, das sind spezielle Fälle. Wenn man jahrelang im Ausland war, weiß man, wie sich Einsamkeit anfühlen kann, diesen Deal muss man eingehen, wenn man sich auf die Reise begibt. Wenn ich zwischen meinen Auslandsaufenthalten kurz nach Leipzig zurückkehrte, schätzte ich es immer ungemein, Anteil zu nehmen an verschiedenen Diskussionen, Lesungen zu veranstalten und einfach mit unterschiedlichen Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich muss sagen und ich spüre das vielleicht durch meine Abwesenheit deutlicher, dass es dieses Klima des offenen Austausches nicht mehr gibt. Das hat für mich immer den Reiz von Leipzig ausgemacht, dieses weltoffene, undogmatische. Als Ethnologe würde ich sagen, wir haben in vielen Bereichen der Gesellschaft sowas wie eine Re-Ethnisierung. Jeder zieht sich mit seiner feststehenden Meinung in seine Clans und Gruppen zurück. Ich habe das dieses Jahr sehr deutlich bei zwei Lesungen gespürt, wo Menschen nach einer Geschichte von mir den Saal verlassen haben, nachdem sie bei der Gesichte davor noch hoch erfreut waren. Mein Sohn wurde 2017 geboren, und in dieser Geschichte stelle ich diese einfachen Fragen aus der Perspektive eines Kindes. Warum lassen wir Menschen im Mittelmeer ertrinken? Warum sperren wir Menschen in Lager? Ich hatte das Gefühl, dass irgendwann diese Fragen aus seinem Mund kommen würden. Kinderfragen eben, ungeeignet für einen Kontinent, der über sein Altern die Würde verloren hat. Diese Fragen halten viele anscheinend nicht mehr aus und natürlich kann man mir da auch widersprechen, aus diesem Austausch verschiedener Meinungen ensteht ja auch ein Zugewinn an Wissen. Ein andermal wurde mir in einer Lindenauer Kneipe visueller Sexismus vorgeworfen, weil ich mich an einer Diskussion über Sexismus beteiligen wollte. Ich hatte jahrelang dort gelebt und plötzlich merkst du eben, dass du für die Jungen eben ein Alter Weißer Mann bist. Das sind nur Splitter, aber sie zeigen mir deutlich, dass dieser gemeinsame Grund, auf dem Politik gedeiht, also diese Orte ohne feste Codierung, im Schwinden sind. 

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich mag diesen Aktionismus, dass jeder sich mit allem beschäftigen muss, eigentlich nicht. Wie oben schon angedeutet, glaube ich, dass jeder Mensch im Austausch zum politischen Wesen wird, das ist für mich Aktivität, mit Menschen zu sprechen, an ihnen Anteil zu nehmen. Ansonsten haben wir eine parlamentarische Demokratie – also es muss auch nicht jeder Brot backen können, dafür gibt es Menschen, die sich damit auskennen. Ich hab gar nicht die Expertise, mich in diese ganzen Themen einzulesen, und will das auch nicht. Das Leben ist endlich. Das Problem ist eben, dass viele Politiker sich dieser Bürgschaft nicht mehr bewusst sind, sondern eben Karriereabsichten im Sinn haben. Das führt zu Vertrauensverlust, man fühlt sich nicht mehr vertreten. Ich glaube aber daran, dass man durch sein Verhalten etwas ändern kann. Vielleicht nicht immer gleich die ganze Welt retten, sondern seinen Umgang mit den Anderen, seinen Umgang mit der Natur, mit den Ressourcen ändern. Damit gestalte ich schon sehr viel mit. Ob das dann mehr aktiv oder passiv ist. Ich bin kein Freund von Missionierungsbewegungen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Indem man sie lebt, unterschiedlichen Meinungen zuhört, auch mal zugeben kann, dass man falsch liegt, nicht immer zum Absoluten tendiert. Eben verletzlich bleiben oder berührbar, wie es Hartmut Rosa in seinen Büchern so schön beschreibt, und es gilt auch für die Demokraten, was Nietzsche über die Philosophen sagte: Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel, als er imstande ist ein Beispiel zu geben. Das bedeutet für mich, dass man manche Dinge, die mir nicht gefallen, einfach auch aushalten muss, man kann die Freiheit nicht durch Dogmatismus verteidigen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Dass alle mal einen Schritt zurücktreten und vielleicht mal durchatmen, oder um es mit Bukowski zu sagen: „Wir werden alle sterben, jeder von uns, was für ein Zirkus! Das alleine sollte uns dazu bringen, uns zu lieben, aber das tut es nicht. Wir werden terrorisiert von Kleinigkeiten, zerfressen von gar nichts.“

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Damit ist meine ethische Grundkonstante ziemlich gut erfasst.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sehr wichtig natürlich. Ohne Kunst und Kultur wäre das hier doch eine ziemlich öde Angelegenheit, und dass immer mehr Menschen darunter leiden, dass diese geistigen Quellen zusammengestrichen werden, sieht man ja überall, von der Zunahme psychischer Erkrankungen ganz zu schwiegen. Sozialer und kultureller Kahlschlag macht sich ja nicht gleich bemerkbar, das ist keine lineare Angelegenheit, auf A folgt nicht direkt B, sondern es kommt erst C und D, und dann merkst du, dass es ein Fehler war, bei A zu sparen. Dann ist es aber meistens schon zu spät.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Sein Wahlrecht einfach aktiv in Anspruch nehmen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Ich glaube, das sind sehr vielschichtige Gründe, zu großen Teilen irrational, denn durch die AfD bessert sich ja nichts für die meisten Menschen. Das ist ein neoliberaler Verein mit völkischem Programm. Als ich in Leipzig studiert hatte, musste ich mich immer mit den unterschiedlichsten Jobs rumschlagen. Damals war Leipzig keine Boomtown, sondern so eher sechs Euro die Stunde und, wenn du was dagegen hast, stehen noch drei Leute in der Schlange. Ich habe Steine geschleppt für Häuser in Schleußig, in der Sternburg-Brauerei gearbeitet, bei der LVB etc. Das waren alles fürchterliche Jobs und natürlich hat man da auch mitbekommen, wie scheiße das ist, wenn du vorher bei Wismut ein angesehener Arbeiter warst und nun war die Hälfte deines Lebens einfach nichts wert und du arbeitest für eine Zeitarbeitsklitsche. Das konnte ich alles verstehen. Was ich nie verstanden habe, war dieses devote Verhalten nach oben. Das war etwas, was sich irgendwie fast vererbt hat. Ich hatte zu der Zeit wieder angefangen in Leipzig in einer Bäckerei zu arbeiten und das war ein junges Team, aber mal zu sagen, wir backen morgen nicht, weil ich einfach nicht für 7,50 Euro aufstehe nachts, da war ne riesige Angst, obwohl es schon damals kaum Bäcker gab. Im Gegenteil, als ich das angesprochen hatte und der Chef kam, warste alleine auf weiter Flur und alle wunderbar glücklich in der Ausbeutung. Und ich glaube, dass dieses mangelnde Selbstbewusstsein eine große Rolle spielt. Die Leute sind tiefenfrustiert, aber bekommen das Maul nicht auf. Ich hatte ein ähnliches Erlebnis in diesem Jahr, als ich kurz daran dachte, mal für eine Zeit in Leizig zu arbeiten. Ich meinte dann, Schichten von 01:00 Uhr bis 09:00 Uhr und 09:00 Uhr bis 17:00 Uhr sind nicht drin, ich hab ein Kind und das muss auch mal zur KiTa oder hat sonstwas. Ja, da müssen sie halt ihr Leben an den Job anpasssen, war die Antwort. Wenn ich nicht wüsste, dass es in den meisten Ländern eben nicht so ist, würde ich vielleicht auch sagen: Oki, sorry, hast halt kein Leben mehr. Ist halt so. Aber in Andalusien, Rumänien oder speziell hier in Norwegen hat sich dann eben die Arbeit anzupassen, da sagen die Leute einfach: Nee, ist nicht, such dir jemanden anderen und da klappt das wunderbar, dass Bäcker um 06:00 Uhr morgens anfangen und es eben erst ab 09:00 Uhr Brötchen gibt. Was ist das Problem? Also denke ich, dass das zusammenhängt, diese Unfähigkeit die Grenzen seines Glücks abzustecken und der folgende Frust. Da ist es natürlich dann gut, wenn es eine Gruppe gibt, die noch weiter unten steht, da kann man dann schön draufhauen. Ich denke, so eine Art Übersprungshandlung, die eigentlich nicht logisch zu erklären ist. Vielleicht auch so eine Art Identitätsfindung, die nicht vom Westen diktiert wurde, obwohl das Führungspersonal aus dem Westen kommt. Eben irrational, aber ich halte mich auch nicht so häufig in Deutschland auf, um mir da ne profunde Meinung bilden zu können. Manche Dynamiken verstehe ich einfach nicht.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Fürchterlich natürlich. Das wird einen Kahlschlag geben, da muss man sich keiner großen Illusionen hingeben. Dass die AfD nicht an einer heterogenen Gesellschaft interessiert ist, dürfte außer Frage stehen.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem man die Menschen unterstützt, ihre Veranstaltungen besucht, auf jeden Fall nicht durch Facebook-Solidarität.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Im Artikel 38 des Grundgesetzes heißt es: Die Volksvertretungen werden in allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen gewählt. Wenn jemand sein Wahlrecht nicht in Anspruch nehmen will, ist das legitim. Ich frage mich da immer, was wäre die Alternative dazu? Eine Wahlpflicht, nee will ich nicht. Wenn jemand nicht wählen will, wird er seine Gründe haben und es ist ja auch eine Form des demokratischen Protestes, zu sagen, ich fühle mich nicht vertreten. Euer Angebot gefällt mir nicht. Man sollte diesen Raum nicht verengen. 

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Sie sind ja Teil der Gesellschaft, oder definiert sich Gesellschaft nur durch die, die keine Angst haben? Also würde ich erstmal ihre Ängste ernstnehmen. Sie sind ja da, ob sie rational sind, steht auf einem anderen Blatt. Also miteinander reden, soweit das geht und ansonsten einfach akzeptieren, dass es eben am Ende nicht immer eine Synthese gibt.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Also ethnologisch gesehen, ist das gar nicht so untypisch. Menschen haben gewöhnlich Angst vor den Unbekannten. Dieses Misstrauen findet man in vielen Kulturen. Interessanter für mich sind die nächsten Schritte. Wie kann ich Misstrauen abbauen? Ein Beispiel aus Norwegen. Als ich hier letzte Woche ankam, lud die Gemeinde alle Saisonarbeiter zu einer Rafting-Tour ein. Da waren ein Kroate mit Kriegserfahrung in seiner Jugend, eine Französin mit Hjab, eine Norwegerin, eine Jamaikanerin, ein anderer Franzose und ich in diesem Boot. Und wenn du mal so ein Rafting bei Schneeschmelze zusammen gemacht hast, dann verbindet das. Also ich zum Beispiel hab auch eine Unsicherheit bei verschleierten Frauen. Ich denke immer, was darfst du jetzt, was nicht, bekommt sie jetzt Probleme, wenn du sie zu lange ansiehst, etc. Dann sitzt du da im Boot und fällst übereinander, springst von irgendwelchen Felsen, merkst, dass du gar nicht so verschieden bist und kommst ins Gespräch danach. Also fragte ich sie dann, was ich schon immer mal wissen wollte, und sie war total relaxt und offen und erzählt mir dann eben ihre Sicht der Dinge drauf. Es war ein enormer Zugewinn. Also denke ich, man muss eben diese Orte schaffen zur Begegnung. Irgendwelche Sammelstellen sorgen für das Gegenteil. Warum man sich dieser Möglichkeit der Begegnung beraubt, weiß ich aber auch nicht.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja, das Gefühl habe ich, wobei ich auch glaube, dass der Einzelne sich da mal nicht so wichtig nehmen soll und vielleicht auch mal mehr als seine Wehwehchen im Blick haben sollte.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Naja, ich kann da nur aus eigener Erfahrung sprechen. Mit 16 hatte ich ne Mao-Bibel auf dem Nachttisch und eine Che Guevarra-Flagge im Zimmer. Da bin ich schon ganz dankbar, dass man da damals nicht gesagt hat: Erzähl uns mehr von deinen Erfahrungen. Du rettest damit ja gerade die Welt. Die Jugend hat immer einen leichteren Zugang zum Ideal. Natürlich waren das politische Fragen und heute haben wir es mit anderen Fragen zu tun, die die nächste Generation weitaus stärker treffen. Man kann aber nicht alles immer easy going lösen, wenn die Jugend an ihre Ideale glaubt, wird sie sich durchsetzen. Diese merkwürdige Verbrüderung der Generationen finde ich etwas strange. Etwas mehr Oppositon gegen die Älteren könnte dieser Prozess schon gebrauchen. Vielleicht bin ich da auch zu dialektisch. Dieses Friede, Freude, Eierkuchen, halte ich nicht für förderlich. Wir tragen die Verantwortung für den status quo der Welt, also wenn es die jüngere Generation ernst meint, wird das kaum ohne Blessuren abgehen. Get in the ring! Und zertrümmert den SUV von Papa.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Sehr wichtig, wobei das auch immer leicht gesagt ist. Vor zwei Wochen bin ich mit der Regionalbahn durch Thüringen gefahren und da waren nette Kampfmaschinen mit Nazi-Tattoos in der Bahn. Also in der Situation, wie man da dann handelt, wenn der Raum nicht mehr save ist, ist sehr schwierig, weil eben mittlerweile bei den Wahlergebnissen auch das Vertrauen fehlt, dass dir da jemand beisteht. Aber das sind theoretische Annahmen, ungefähr so wie würde man jemanden erschießen oder sich erschießen lassen. Ich bin dankbar, dass ich das in der Praxis noch nicht verifizieren musste.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Schwierige Sache, Freiheit kann man nicht beschützen, ohne Gefahr zu laufen, sie zu verlieren. Ich schreibe Geschichten darüber, wie ich unterschiedlichen Menschen begegne, wie mich das bereichtert, dass es diesen Raum gibt. Vielleicht hilft es jemanden, auch zu sagen, ich schau mir die Welt erstmal an, bevor ich die Schotten dicht mache und meine Freiheit abgebe, ich weiß es nicht.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Gar nichts, weder sagt mir dieses „Wir“ was noch glaube ich gerade an das „mehr“. Und selbst, wenn es so wäre, würde es etwas ändern? Es geht doch hier nicht um einfache Mehrheiten, sondern darum, dass auch eine Minderheit dieses Land mit Hass überschütten und das Klima vergiften kann oder den Diskurs bestimmen. Es ist ein Erbauungssatz, vielleicht hilft er, einigen Mut zu machen und sich selbst zu vergewissern. Meine humanistischen Werte und Ideale sind aber so hoch, dass sie immer eine Minderheit darstellen. Mihai Sebastian, ein rumänischer Schriftsteller der Zwischenkriegszeit hat mal den Ausspruch geprägt: „Ich bin kein Anhänger irgendeiner Idee oder irgendeines Anführers, ich bin immer Dissident. Vertrauen habe ich nur in das jeweilige Individuum, aber in dieses habe ich ein großes Maß an Vertrauen.“ Dem würde ich zustimmen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ebenso wenig, meine Niebelungentreue zu Orten hält sich in Grenzen. Ich habe an so vielen verschiedenen Orten gelebt, dass es ab einem gewissen Punkt bei mir auch nen Schalter gibt, der sagt: Willste jetzt wirklich, dass sich dein Leben ständig um diese politische Sphäre und Diskussionen um AfD dreht. Dass du, um Brecht zu zitieren, dir sagst: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Willst du wirklich, dass dein Sohn in so einer Umgebung des Hasses aufwächst. Also ich lebe definitiv in keinem Bundesland, in dem die AfD an der Macht ist und mein halber Bekanntenkreis kommt mittlerweile nicht aus Deutschland, ich möchte nicht, dass ich jedesmal Angst haben muss, dass sie halb totgeschlagen werden, wenn sie mich besuchen. Ich glaube mittlerweile nicht mehr an Protestwähler, das sind einfach Menschen, die das so wollen. Die sich der Tatsache bewusst sind, was das bedeutet. Okay, meine Sprache reist mit mir, aber es lebt sich auch jenseits von Sachsen ganz gut.

INTERVIEW MIT MARTINA JACOBI FÜR DEN SCHWEIZERHAUS PÜCHAU E.V.

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin durch die Arbeit nach Leipzig gekommen. Für mich war Sachsen eine zufällige Wahl, die mit einem interessanten und verantwortlichen Job im Bereich Soziokultur und Kinder- und Jugendarbeit zu tun hatte.
Inzwischen arbeite ich im Landkreis Leipzig u. a. für den Kunst- und Kulturverein Schweizerhaus Püchau e.V. Dieser Verein wurde von mir mitgegründet und besteht seit fast zehn Jahren. Ich bin in der Organisation des Schweizerhauses tätig. Ich befasse mich also mit allen formalen Zusammenhängen, schreibe Konzepte, treffe Menschen und plane Projekte etc. Zum Glück kann ich nach wie vor noch regelmäßige Kurse im Bereich Bildende Kunst umsetzen. Ich mag das Büro, aber ebenso mag ich die Arbeit mit Menschen aller Generationen.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Unser Verein setzt sich für kulturelle Bildung für alle Generationen im ländlichen Leipziger Raum ein. Wir gestalten künstlerische Beteiligungprozesse, die hauptsächlich für Kinder und Jugendliche, aber auch vermehrt für ältere Menschen bzw. generationsübergreifend angeboten werden.
Dafür betreiben wir in Püchau (einem Ortsteil von Machern) ein Offenes Atelier, in Wurzen in einem ehemaligen Ladengeschäft einen Raum für Kunst und Kultur und haben die „Mobile Initiative Kultur“ gegründet, um auch in entlegenen Orten im Landkreis Leipzig und Nordsachsen Angebote der kulturellen Bildung umsetzen zu können.
Wir schaffen Begegnungs- und Bildungsräume, die sich als dezidiert offen für alle Menschen verstehen. Wir möchten Begabungen und Fähigkeiten fördern, Miteinander und Solidarität stärken und ganz einfach: gute Momente zwischen unterschiedlichsten Menschen schaffen – egal welchen Alters oder welcher Herkunft.
Unsere Kurse, Projekte und Workshops sind Übungsfelder für demokratisches Handeln. D. h. sie sind immer praktisch in der Auslegung, wir vermitteln Methoden und befähigen Menschen sich künstlerisch auszudrücken, sich auszutauschen und nehmen dabei gesellschaftliche Themen ins Blickfeld.

wbh: Was ist existenziell und notwendig für deine und eure Arbeit?

Existentiell für unsere Arbeit ist Vertrauen. Sowohl das Vertrauen der Menschen, die zu uns kommen, als auch das, was wir in uns tragen. Wir arbeiten sehr viel mit Kindern und Kindern im Übergang zum Erwachsen-werden. Vertrauen ist dort alles.

wbh: Woran mangelt es?

Wir sind ein Kunst/Kultur- und Bildungsverein auf dem Land. Wir werden seit bald zehn Jahren projektfinanziert und erhalten Förderung zumeist nur über ein Jahr. Wir haben keine fest angestellten Mitarbeiter*innen. Das bedeutet, dass viele „Drumrum-Sachen“ im Ehrenamt gestemmt werden. Natürlich muss sich das ändern, wenn man mit kultureller Bildung wirklich Nachhaltigkeit erreichen möchte.

wbh: Im Idealzustand: Was wünschst du dir für bessere Grund- und Rahmenbedingungen für deine und eure Arbeit?

Grundständige langfristige und damit planbare finanzielle und personelle Ausstattung und damit Anerkennung der geleisteten Arbeit der Menschen und deren Bedeutung für die Gesellschaft. Das gleiche sehe ich auch für den gesamten Bereich Pflege und Betreuung.

wbh: Was sind deine Wünsche an die Politiker*innen?

Kommt rum!

wbh: Was sind deine Wünsche an die Bürger*innen in deiner Stadt?

Macht mit!

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Für uns geht das gut in Kooperationen mit anderen Einrichtungen und mit Menschen, die Angebote stellen und gestalterisch bei uns tätig sind. Es hilft auch, wenn einfach jemand das Kochen für den Ferienkurs übernimmt oder sich darum kümmert, dass ein Text lektoriert wird.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Alle unsere Handlungen sind auf irgendeine Weise politisch.
Es geht darum eigene Haltungen, Handlungen und Werte reflektieren zu können und demokratisch zu ver/handeln.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Über Kinder und Jugendliche. Sie treffen den Kern der Dinge häufig sehr genau. Außerdem haben sie oft gute Ideen, wie man Aktionen starten kann und den nötigen Mut, auch erst einmal Unrealistisches anzupacken.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Aus Vergangenheit erwächst Verantwortung, Zukunft ist das, was wir gemeinsam gestalten können.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Tatsächlich fände ich Freundlichkeit, Höflichkeit und Großzügigkeit als Neustart ziemlich gut.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das sind unsere Grundlagen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Für mich hat das große Bedeutung. Ich arbeite seit vielen Jahren in diesen Zusammenhängen und sehe die Erfolge, Hilfen und Stärkungen bei den Menschen.

Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Wählen gehen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Ich kann die beiden vorausgegangenen Felder nicht zusammenfassend beantworten.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Man kann mit ihnen sprechen, wenn man den persönlichen Zugang hat, und sie einladen gemeinsam wählen zu gehen.
Langfristig helfen hier nur kulturelle und politische Bildung und praktische, auch niederschwellige Zugänge. Etwa im „Kinderwahlbüro – Quark oder Brause“ einer Schule oder KiTa, damit gelernt und erlebt wird, dass sich Beteiligung lohnt und wirklich etwas bewirken kann. Und das es wertvoll ist – die Wahl – zu haben.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Alle Menschen, die hier leben, sind Teil der Gesellschaft.
Kraft und Anstrengung sollten zum Beispiel auf bürgerschaftliches Engagement, auf offene Orte und Aktionen, Kooperationen, Kunst, Kultur und Bildung ausgerichtet sein.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Das sind traditionelle und erlernte Muster. Jeder von uns trägt in irgendeiner Form solche und andere diskriminierende und ausgrenzende Muster in sich. Man kann sie im Grunde gut reflektieren, wenn man offen mit ihnen umgeht und sich informiert.
An diese Muster kann man allerdings auch sehr gut andocken und damit verbundene Ängste instrumentalisieren.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Insgesamt sehe ich das nicht so. Ich finde die Bürger*innen sind hochpolitisiert, sie mischen sich ein und sind auch in Parteien/Vereinen sehr engagiert.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Junge Menschen haben ein Recht darauf, dass man sie ernst nimmt und einbindet. Das sollte selbstverständlich sein.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Im ländlichen Raum sind besonders die Strukturen im Ehrenamt oder in Selbstorganisation sehr wichtig und meist die einzigen, die überhaupt noch direkte/r Ansprechpartner*innen vor Ort sind. Ohne sie geht es nicht. Zivilcourage brauchen wir als Korrektiv und Unterstützung für Menschen, die sich zum Beispiel in einer Situation nicht allein helfen können, aber auch für Themen, die in der Öffentlichkeit wenig Wahrnehmung finden.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir uns beteiligen und einmischen, uns solidarisieren und kooperieren, offen und gastfreundlich sind. Das kann jeder in seinem kleinen oder großen Umfeld tun.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Wir-Begriffe sind ja immer so ein bisschen komisch. Wir sind mehr! Wir (wer ist das?) sind mehr (als wer denn?). Also ich kann damit nicht so viel anfangen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig arbeitet die Herkunft des Slogans gerade neue auf. Es gibt nun klare Nachweise der Erstnennung, die auch uns überrascht haben. Einer der damaligen „Erst-Rufer“ ist Mitglied in unserem Verein und immer noch hier. Insofern stimmt hier das WIR für uns.

INTERVIEW MIT ANNEKATRIN MICHLER

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin gebürtige Leipzigerin, wurzle hier und bin dankbar, hier und jetzt leben zu können.
Ich bin seit fast 30 Jahren selbstständig und heute als Teamentwicklerin, Rednerin, Coach und Kommunikations-Expertin bundesweit tätig. Ich erlebe viele Unternehmenskulturen und gestalte mit meiner Tätigkeit Veränderungen mit. Ich stärke und begleite Menschen.
Weiterhin stehe ich auch im öffentlichen Theater auf der Bühne. Ich spiele … auch in meinem Hauptberuf. Ich bringe Menschen in Bewegung, in Beziehung (zu sich selbst, zueinander) u. a. mittels Spiels, Humor, kreativen oder gar absurden neuen Strategien. Seit fünf Jahren nenne ich mich deshalb „Die Ändertainerin®“.
 
wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?
 
Ich bin aktiv in Firmen, im Ehrenamt in der Wirtschaft sowie als Familienmutter und Oma.
Ich trete ein für Respekt, Klarheit und Dankbarkeit für uns, für diese Welt und für mehr Rückbesinnung auf das, was uns trägt – die Erde – die Natur.
Ich engagiere mich, indem ich Haltung zeige. Mit jedem öffentlichen Auftrag zeige ich Haltung und lade zur Reflektion eigener Positionen ein. Mein Ansatz ist handeln statt ewig reden, aktiv mitgestalten und in Verantwortung gehen. Ich agiere ebenfalls als Vizepräsidentin der IHK zu Leipzig, als Fördermitglied der Wirtschaftsjunioren und bundesweit als Sächsin mit viel Herz, die den Sachsen (mit viel Herz) bewusster macht.
 
wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Herausfordernd – es ist interessant, wie Botschaften bzw. Fragen umgedeutet werden.
Wenn ich klar Dinge auf den Punkt bringe – holt man(n) oft zum Gegenschlag – „Sei nicht so emotional.“– aus. Dann weiß ich, es hat gewirkt. 😊
 
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Weil wir für diese Welt aktiv einstehen sollten. Ich kann zunehmend schlecht mit diesem – „Die da sollen erst mal …“ – leben.
Jeder hat Möglichkeiten. Das beginnt beim Nachbarn, in der Straßenbahn – in der Familie, unter Freunden.
Wir sehen viel und schweigen. Wir lassen zu, dass wir uns getrennt verhalten, einander Vorwürfe machen. Ich wünsche mir sehr, dass wir uns wieder an das WIR erinnern. Da kann nur jeder bei sich selbst beginnen.
Aktiv mitgestalten bedeutet, angemessen zu reden UND vor allem zu handeln.
Das sind Kleinigkeiten: Den Restmüll nach der Grillparty mit nach Hause nehmen, die Achtsamkeit ab 23 Uhr Ruhe statt Party bis drei Uhr morgens, das Aufstehen in der Bahn, ein Lächeln, ein freundliches Wort – oder ein sehr klares Wort. Ich plädiere dafür, klarer Stopp zu sagen und zu begrenzen, was zerstörerisch unterwegs ist.
 
wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Mit mehr Humor und Leichtigkeit und damit, dass wir aufhören, Dinge, die wir a) entweder nicht gleich verstehen, b) die erst einmal nicht unserer Einstellung entsprechen oder c) die falsch bzw. unangemessen ausgesprochen werden sofort zu bewerten.
Ich wünsche mir, dass wir an einer Kultur des Respekts arbeiten – wenn dies doch endlich mal groß angelegt politisch thematisiert werden würde:  Wie wollen wir Menschen miteinander in diesem Land leben.
Das Thema höre ich nur in Talkshows, nicht im Bundestag erörtert.
Ich erlebe derzeit Nebendebatten über Personal, Krisen in Parteien – es geht ums uns!!!!
Das führt zu Frust und dem Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden.
Eigentlich ist es wie in manchen Firmen. Statt sich dem Kunden (Bürger) zu widmen, beschäftigt sich das Unternehmen ständig mit sich selbst. Und … der Kunde geht zur Konkurrenz (AfD).
 
wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 
 
Alles ist unser Erbe: Unsere Geschichten, unsere Erkenntnisse – auch aus dem Scheitern. Unsere Zukunft wäre, das Gegenwärtige mal wieder zu würdigen, in vollen Zügen zu genießen und auszuhalten, dass manches misslingt – so kämen wir leichter ohne Ängste, sondern mit mehr Neugier in die Zukunft.
 
wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Respekt und Toleranz!
 
wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Respekt und Achtsamkeit und KLARHEIT.
Freiheit bedeutet für mich, auch Verantwortung für sich selbst zu übernehmen – für das eigene Leben, das eigene Handeln und Verhalten.  
Es sollte sich nicht jeder mit seiner Strömung zum Heilsbringer erheben, sondern neugierig offen sein.
Geben und Nehmen mit Bewusstsein wäre für mich ein gutes Maß für Gleichberechtigung.
 
wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Das sind wunderbare Orte, Gelegenheiten, um zu lernen, zu entspannen, einander zu begegnen und um zu wachsen, um Ängste zu thematisieren und abzubauen, um Toleranz und Erleben zu befördern.
 
wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Erstmal selbst reflektieren, wie denke ich selbst, was tue ich konkret, schaffe ich es, meine Haltung gegen rechts klar zu zeigen, sich verbinden und Leuten, die unterwegs nach rechts sind, nicht ausgrenzen, ihnen gegenüber aber klare Grenzen aufzeigen und widersprechen, wenn es um die Verletzung der Menschenwürde und unserer demokratischen Grundwerte geht.
 
wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Diejenigen, die sich erst in diese Richtung bewegen, fühlen sich möglicherweise nicht gehört.
Man sucht Schuldige bzw. Verantwortliche für die eigene – möglicherweise missliche – Lebenssituation und übernimmt nicht die Verantwortung für sich selbst.
Angst vor Veränderung, Angst vor dem möglicherweise Neuen und Unbekannten.
Aber auch: Sicherung des eigenen Besitzstandes – nach dem Motto: Das habe ich mir erarbeitet, davon gebe ich nichts ab.
Meines Erachtens sitzen auch Mitverursacher in Ämtern. Dort erleben Bürger Ungerechtigkeit, nicht genügend Bürgerengagement, Aussitzen und scheinbares Desinteresse. Dort wird Wut und das Gefühl der Ohnmacht mitgeschürt.
 
 
wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Dramatische Auswirkungen. Und ich bin mir sicher, dass dies vielen, die aus Protest die Wahl der AfD in Erwägung ziehen, gar nicht bewusst ist. Ich kann nur darauf drängen, das Wahlprogramm dieser Partei zu lesen und sich damit auseinanderzusetzen. So mancher Protestwähler wird nach einem potenziellen Wahlsieg deutliche negative Veränderungen in seinem Leben spüren und direkt erleben.
 
wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Mit einer anderen Medienstrategie. Gute Geschichten nicht so als – Das da sind die Guten – vermarkten.
Fördern, dass wir vor Ort, im ländlichen Raum evtl. über Kultur und Kunst miteinander reden.
Kultur verbindet noch. Das sollten wir mehr nutzen.
Lachen, sächsischer Humor hören auch AfD-Wähler gern.
 
wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Ich glaube, man sollte eher den provokativen Stil nutzen. Indem wir um Nichtwähler buhlen, bekommen sie zu viel Status. Wer sich zum Nichtwählen entschieden hat, geht auch nicht zur Wahl und wenn doch … dann um die AfD zu wählen. Dahin tragen sie ihre Gleichgültigkeit.
 
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Indem wir einfach wieder zuhören, ohne gleich Ratschläge zu geben, was richtig für sie ist. Das ist der erste Schritt und dann konsequent klären: so und nun folgt der 2. Schritt: Jetzt wird verziehen, getrauert und nun in die Eigenverantwortung gehen.
Was kannst du selbst anders machen. Also auch klar auffordern und nun ist auch mal wieder gut: Übernimm nun auch Verantwortung.
Lehren, wie man nach vorn schaut. Vergangenheit kann ich nicht mehr gestalten, aber ansehen, was daraus zu lernen ist. Zukunft kann gestaltet werden.
Vielleicht gibt es bald mal ein Bürger-Coaching!
 
wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

• Unkenntnis, überhaupt kein Kontakt z. B. zu Migrant*innen und Muslimen
• Schlechtes Benehmen einiger Personen – vor allem bei den jungen Alleinreisenden – (wie übrigens auch der jungen Halbstarken in unserem Land)
• fehlende differenzierte Betrachtung der Menschen
• Medien
• Man hört nur auf diejenigen, die u. a. mit Fake News Angst schüren, ohne sich selbst zu informieren.  

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Aus meiner Sicht sind es nicht immer die Politiker. Die sind ordentlich unterwegs, suchen das Gespräch, werden teilweise angeschrien und beschimpft und manchmal frage ich mich, wer das noch aushält.
Die Parteispitzen agieren aus meiner Sicht wie eine uneinige Familie, das nervt und frustriert. Weiterhin sehe ich wie gesagt die staatlichen Institutionen als Quelle:
Die erlebbare Politik machen Menschen in Ämtern, Schulen, Verbänden. Dort entsteht der Frust.
 
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Beides ist wichtig. Ich lehne immer dieses – „Das ist wichtiger als das“ – ab.
Jung und Alt sollten nicht gegeneinander abgewogen werden – das bringt neue Kluften.
 
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Unbedingt notwendig und in unserem Land noch ausbaufähig.
 
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Mit Zivilcourage und Engagement der Gesellschaft.
Mit klarem Widerspruch, mit schnellen Reaktionen und Sanktionen, wenn durch Aussagen, Handlungen oder Verhalten unsere demokratischen Grundwerte in Frage gestellt oder gefährdet werden.
Positive Geschichten von Zivilcourage und Beispiele mehr berichten.
Politische Bildung in den Schulen – überhaupt: Bildung, Bildung, Bildung.
 
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Bloß gut, dass es so ist. Dennoch empfinde ich genau diese Bewegung als eine Mitursache, dass sich Andersdenkende ausgegrenzt fühlen bzw. sich in den „jetzt erst recht Status“ bringen.
Das trennt uns.
Wir – das sind alle und wir tragen alle gemeinsam die Verantwortung für unsere demokratische Gesellschaft.  Das klar zu machen, fände ich viel besser.
 

INTERVIEW MIT JEAN-PHILIPPE OBST

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin ein 40 Jahre alt, verheiratet und dreifacher Familienvater. Bis auf die vielen Jahre bei der Bundeswehr, habe ich mein gesamtes Leben in und um Leipzig verbracht. Ich wurde hier geboren, ich möchte hier leben und irgendwann werde ich hier wahrscheinlich auch sterben. Leipzig war und ist meine Heimat.
Was den Beruf angeht, so war (und bin es noch) ich die meiste Zeit meines Lebens Staatsdiener. Früher beim Bund, jetzt beim Freistaat Sachsen.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Aktiv bin ich fast ausschließlich auf FB, auch wenn meine Aktivitäten dort in den letzten Monaten (leider) sehr viel weniger wurden. Grundsätzlich versuche ich – und das schon seit Beginn der „Flüchtlingskrise“ –, in allen möglichen Kommentarspalten gegen Verallgemeinerungen, Hass und Hetze anzugehen. Ich bin der Meinung, dass gerade die Verallgemeinerung von „Straftäter = Ausländer, also Ausländer = Straftäter“ ein hässlicher Nährboden für die menschenverachtende Einstellung ist, von der manche Teile der Gesellschaft befallen sind. Nach meiner Meinung sind wir alle zuerst Menschen, doch das wird oft und, wie es scheint, von immer mehr Menschen vergessen. Hier versuche ich meinen Beitrag zu leisten, um dieses „Menschsein“ immer wieder ins Bewusstsein zu rücken.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich glaube, nur wer sich informiert und beteiligt, hat ein Recht darauf sachlich mitzureden, oder darf sich hinterher über Dinge aufregen, die schief liefen. Mich nerven diese Menschen, für die alles in Deutschland pauschal „Scheiße“ ist, die dann aber verneinen, wenn man sie fragt, ob sie denn gewählt oder sich überhaupt zum Thema informiert haben. Niemand muss sich mit allen Themen beschäftigen, aber mit den großen Themen, wie sie aktuell diskutiert werden, mit denen sollte man sich schon beschäftigt haben. Nur wer sich (sinnvoll) informiert, der kann verstehen, wie die Dinge funktionieren und sich in die Debatte einbringen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, hier ist zu allererst die Politik gefordert. Solange Politiker die Missachtung des Grundgesetzes vorleben, Menschen für ihr Anderssein oder für „abweichende“ Vorstellungen von Leben, Politik und Gesellschaft von den gewählten Volksvertretern herabgewürdigt oder ausgelacht werden, oder ganz allgemein Politik an der Realität der Bevölkerung vorbei gemacht wird, solange wird man kaum die breite Masse für Politik und alles, was dazu gehört, begeistern können. Wenn man wieder und wieder gezeigt bekommt, dass der Wille des Volkes nicht zählt, Stichwort Uploadfilter oder Fridays for Future, wirkt das eben demotivierend.
Es gibt Politiker, die aktiv unsere Werte vorleben, aber die findet man, zumindest nach meiner Erfahrung, nur auf der kommunalen Ebene und das reicht eben nicht aus.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Empathie und die Bereitschaft, sich die Position/Meinung seines Gegenübers vollständig anzuhören, zu überdenken und dann darüber zu sprechen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Hier kann ich nur etwas zu Medienkompetenz und Bildung sagen. Letztere ist eigentlich enorm wichtig, um die doch sehr komplexen Themen verstehen und diskutieren zu können. Medienkompetenz ist wiederum wichtig, um „Fake-News“ u. ä. erkennen und Quellen beurteilen zu können. Ich finde, in beiden Bereichen haben viele Leute Defizite, was wahrscheinlich auch ein Stück weit den Erfolg der Rechten erklärt.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Grundsätzlich wählen gehen und auf jeden Fall nicht Rechts wählen. Aber auch nicht jene Partei, die sich als in der Mitte verortet sieht, aber so sehr Rechts anbandelt, dass diese Partei sich eigentlich weder als Volkspartei, noch als christlich bezeichnen dürfte.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Ich glaube, viele „Ossis“ fühlen sich noch immer abgehängt, sehen sich als schlechter gestellt als den Rest der deutschen Bevölkerung. Dieses Gefühl, gepaart mit dem bereits erwähnten an den Bürgern vorbei Regieren unserer Politiker führt dann zu einer Politikverdrossenheit und einer Art Abkapselung vom Rest der Gesellschaft, hinein in eine Filterblase Gleichgesinnter, die es den Rechten leicht macht, mit vermeintlichen Lösungen und Schuldzuweisungen die Leute auf ihre Seite zu ziehen. Wenn dann noch mangelhafte Bildung, fehlende Medienkompetenz und fehlende Perspektiven dazu kommen, dann hat man einen Teil der Antwort darauf, warum die Rechten so erfolgreich sind.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Was Kunst und Kultur angeht, so hat die sächsische AfD ja in ihrem Positionspapier schon klar gemacht, wohin die Reise gehen soll. Gut, die haben mit dem Papier auch gleichzeitig wieder deutlich gezeigt, dass sie von Politik keine Ahnung haben. Dennoch zeigt es auch ebenso deutlich, wie sich die Gesellschaft nach Willen der AfD wandeln müsste.
Insgesamt werden die Auswirkungen sehr negativ sein. Sachsen hat so schon einen sehr schlechten Ruf, der würde mit einem Wahlsieg der AfD endgültig in den Keller sinken. Ich denke, die AfD wird gnadenlos versuchen, den Bürgern ihre krude Weltsicht aufzudrücken. Dinge, die gut und wichtig sind, wird die AfD angreifen und versuchen auszuschalten. Ich denke da an die gleichgeschlechtliche Ehe, Förderprogramme für „nicht-identitätsstiftende Zwecke“, so ziemlich alles, was mit Integration zu tun hat, und auch alles, was deren Vorstellung von Familie entgegenläuft. Hier kann man nur hoffen, dass die anderen Parteien geschlossen gegen derartige Pläne stehen, aber wenn ich an die Machtversessenheit einiger „Volksparteien“ denke und deren offenen Gedankenspielen, auch mit der AfD zusammen zu regieren, da will ich dann doch nicht mehr so recht an eine so notwendige Einigkeit glauben.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Wer nach dem Mauerfall viel verloren hat, sich noch heute deshalb abgehängt fühlt, Überfremdung fürchtet und ggf. auch nicht davor zurückschreckt, Gewalt und sei es „nur“ verbaler Art zu nutzen, um seine politische Meinung/Gesinnung zu vertreten, der ist für die Gesellschaft verloren. Solche Leute kann man nicht mehr zurückholen und ganz ehrlich: Solche Leute sollte man auch nicht mehr zurückholen.
Und auch bei jenen ohne Gewaltanwendung bin ich mir nicht sicher, ob die überhaupt in die Gesellschaft zurückwollen und zurückkehren sollten. In den Jahren seit Beginn der Flüchtlingskrise habe ich eines mitbekommen: Diese Leute wollen nicht verstehen, was Menschen über den Balkan oder das Mittelmeer treibt. Die wollen nicht begreifen, dass Straftäter durchaus Ausländer sein können, deshalb aber nicht automatisch alle Ausländer Straftäter sind. Diese Leute akzeptieren oft nur jene „Meinungen“, welche das eigene Weltbild bestätigen, alles andere wird abgelehnt. Auch solche Leute möchte ich eigentlich nicht in unserer Gesellschaft, aber letztlich gehört es zu einer freien Gesellschaft dazu, dass wir mit solchen Leuten in unserer Mitte leben müssen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Ich glaube, das liegt einfach daran, dass der Mensch schon immer Angst bzw. Abneigung gegenüber Fremden verspürt hat. Und wenn man das von klein an so beigebracht und vorgelebt bekommt, dann prägt das eben. Kleines Beispiel: Ich selbst sehe mich als weltoffenen Menschen, dennoch habe ich Vorurteile gegenüber Zigeunern. Ich weiß ganz rational, dass das Unsinn ist, dennoch erwischen ich mich immer wieder dabei, Zigeuner oder Leute, die ich dafür halte, mit Skepsis zu betrachten. Und warum? Nur weil ich als Kind ganze oft mitbekam, wie meine Großmutter auf dem Dorf immer wieder und ganz aufgeregt mit den Nachbarn darüber sprach, dass Zigeuner unterwegs sind und man aufpassen muss, weil die immer klauen und sogar einbrechen. Dieses Verhalten ist dann wahrscheinlich auch der Grund, warum gerade in ländlichen Gegenden der Anteil an Fremdenfeindlichkeit so hoch ist.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Definitiv. Gerade die Union bzw. die GroKo haben in den letzten Monaten mehr als deutlich gezeigt, dass sie sich nicht für die Wünsche und Vorstellungen der Bürger interessieren. Da wird maximal so agiert, dass es Stimmen bringt und das war es dann auch schon. Wenn sich ein Friedrich Merz als zum Mittelstand gehörig sieht und kein Problem damit hat, als Lobbyist tätig zu sein, oder ein Horst Seehofer Gesetze möglichst kompliziert gestaltet, damit der Bürger nicht zu viel Widerstand leistet, dann zeigt das leider, dass „die da oben“ nicht mehr verstehen, was „die hier unten“ bewegt.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Naja, auf deren Bedürfnisse wird ja nicht wirklich eingegangen, ihn wird nur sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Was falsch ist, denn im Gegensatz zur Jugend sind die Wutbürger eben nur sehr wenige, sie schreien aber am lautesten. Ja, man muss geradezu auf die Jugend eingehen, aber leider glaube ich nicht, dass das auf absehbare Zeit geschehen wird. Unsere Gesellschaft überaltert und das wird eher schlimmer als besser und das wirkt sich leider auf die Politik aus, die wiederum mehr Politik für „die Alten“ machen wird als für „die Jungen“.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Sehr wichtig. Allerdings fehlt mehr und mehr der staatliche Anteil. Würden z. B. Straftäter, welche durch couragierte Bürger gestoppt wurden, schnell und gerecht abgeurteilt werden, die Leute würden wahrscheinlich mehr Mut aufbringen, um bei Problemen einzugreifen. Wenn man aber ggf. schon gefühlt ewig warten muss, bis überhaupt die Polizei am Ort des Geschehens eintrifft, dann wird es für viele schwer, couragiert zu sein.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Ich glaube, in der Theorie haben wir eine wehrhafte Demokratie, in der Praxis scheitert es aber zumeist am effizienten Einsatz der Mittel, die zur Abwehr von Gefahren vorhanden sind. Wir brauchen an den entscheidenden Stellen einfach mehr Personal, um schnell und richtig reagieren zu können.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Eigentlich nur meine persönliche Sturheit, dass ich meiner Heimat nicht den Rücken kehren möchte. Auch wenn ich es tun würde, würden die Dinge schlimmer werden. Wie ich an anderer Stelle schon sagte, so bin ich froh und gleichzeitig traurig, dass meine Kinder nicht meine Hautfarbe oder gar die meines Vaters geerbt haben. Ich bin also froh, dass sie nicht die Blicke abbekommen werden, die ich wegen meiner dunkleren Hautfarbe bekomme, und traurig, weil sich unsere Gesellschaft so gewandelt hat, dass ich froh sein muss, dass sie eben nicht aussehen wie ich. Hier bleiben heißt für mich, weiter diese Blicke auszuhalten, weiter mein Möglichstes zu tun, um die Verhältnisse wieder zum Besseren zu wenden, damit meine Kinder, so wie ich, in einer offenen, toleranten und großartigen Stadt aufwachsen und von ganzem Herzen „Mein Leipzig lob ich mir!“ sagen können.

INTERVIEW MIT KARINA ESCHE

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin 56 Jahre alt, habe drei Kinder und arbeite seit 14 Jahren als Klinikclown, worüber ich mega glücklich bin! Mir sind Menschen wichtig, die ehrlich, offen, humorvoll, hilfsbereit, achtsam, neugierig, aktiv und positiv sind!

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Tierschutz/Kulturkino Zwenkau/Ökologie, biologisch wertvolle Nahrungsmittel, gute Nachbarschaft …

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Verantwortungsvoll … gut …

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Nur gemeinsam geht es voran! In die positive Kommunikation mit unseren Mitmenschen gehen. Zuhören – Denken – Handeln

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Es Leben! Mit gutem Beispiel vorangehen und die Menschen respektieren, die anders denken! Im Gespräch bleiben.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Verantwortung zu übernehmen! Den Mut zu haben, der Pharmaindustrie, den großen Wirtschaftsunternehmen und … kontra zu bieten!

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Miteinander kommunizieren, aufeinander zugehen, Hilfe anbieten, tolerant sein, positive Lebenseinstellung und soviel Liebe säen, wie es möglich ist!

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Alles! Grundlagen zum Leben!

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Enorm wichtig, da z. B. Kultur/Kunst schon viele hundert Jahre eine Verbindung zwischen verschiedenen Kulturen, Hautfarben und Ländern schafft.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Mit seinen Großeltern reden und dies weitergeben! Geschichtsbücher lesen und den Mut haben, darüber zu reden! Bei sich anfangen!

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Dummheit und Unglaubwürdigkeit der Politik!

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Verheerende! Geballte Dummheit kann gefährlich sein! Man muss auf die arbeitende Bevölkerung zugehen und ihnen mit verständlichen Fakten klar machen, was hier gerade passiert! Was sie konkret tun können!

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Leider keine Zeit!

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Reden, reden und zuhören!

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Zuhören und ihnen klar machen, wie gut es ihnen geht im Vergleich zu … positiv.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Falsche Medienberichte … negative Meldungen … nicht genügend Selbstwertgefühl!

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

100 % … Unglaubwürdigkeit ist ebenfalls Thema …

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Jeder muss Achtung, Würde und Ehrlichkeit erfahren und leben dürfen! Junge Menschen brauchen Vorbilder und Akzeptanz.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Enorm wichtig, denn wir können nicht immer nur von anderen erwarten, dass sie alles verbessern!

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Vorleben und an unsere Kinder weitergeben. Mut zeigen und friedlich Paroli bieten.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Wir sind nicht nur treudoofe Bürger, sondern engagieren uns zunehmend mehr für eine gerechtere Welt!

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ausdauer, Vertrautheit und Rechte sowie Mut.

INTERVIEW MIT KARSTEN KRIESEL

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Geboren und aufgewachsen in Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt. Seit fast zwei Dekaden Wahl-Leipziger. Nacht-, (Sub-)Kultur-, Stadt-, Natur- und Familienmensch. Punk – behaupten manche, ich widerspreche nicht. Dramaturg, Journalist und Veranstalter – sagen andere, auch hier: Haut hin.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin in keiner Partei, keiner Organisation oder Initiative und tue mich schwer mit abgeschlossenen Programmatiken, Manifesten oder sonstigem. Vielleicht liegt das auch an meiner zutiefst, in der Familie über Generationen ausgeprägten, atheistischen Grundhaltung: Alles religiös Betriebene, alles, was behauptet „die Wahrheit“ zu kennen, ist mir fast automatisch suspekt. Heilig ist mir kaum etwas. Dennoch gibt es Dinge, für die ich eintrete. Wenn es sein muss, gibt es dafür auch meine Stimme, meinen Körper, z. B. auf Demos, meine Unterschrift, auch meinen Namen und mein Gesicht: Natürlich bin ich etwa „gegen Rechts“ und das recht kompromisslos, das ist für mich seit jeher eine Selbstverständlichkeit. Mein Hauptmetier ist allerdings die Kunst & Kultur, dafür arbeite ich leidenschaftlich. Hier bin ich gern frei, provokant, aber gern auch gnadenlos hedonistisch und humorvoll. Ich ziehe gern Verbindungen, zeige Mechanismen auf, bringe Menschen zum Lachen, Weinen und Nachdenken. Als Journalist, wo ich ebenfalls überwiegend mit Kunst und Kultur zu tun habe, wenn auch als „Beobachter“, ist es kaum anders: Auch hier wird mein Engagement geweckt, wenn ich merke, es sind Dinge auszusprechen, zu analysieren und zu begründen, die ich für wichtig halte, in die Öffentlichkeit zu tragen.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es fühlt sich ambivalent an: Einerseits war das so aktiv nie geplant, sondern hat sich ergeben, indem man eben das macht, was man macht. Wenn man sich die aktuellen Wahldrohungen der AfD, gerade in Sachsen, anschaut, bin ich wohl gesamtberuflich so ziemlich das perfekte Feindbild, meine private Erscheinung entkräftet das nicht gerade. Aber ich maße mir nicht an, was ja Politik auch immer beinhaltet, für andere Leute zu sprechen oder wen zu belehren. Zum selbstständigem Denken, zur Eigeninitiative anleiten, beispielsweise in der Theaterpädagogischen Arbeit, das geht klar. Man ist ja schon davon überzeugt, dass der Blick, den man auf die Gesellschaft oder Weltlage hat, ein halbwegs unverklärter und vernünftig gangbarer ist. Vor allem, wenn man ihn für sich selbst begründen kann. Da fühlt es sich natürlich auch gut an, sich in eine Position hineingearbeitet zu haben, in der man diesen Blick öffentlich ins sächsische Kaltland tragen kann.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Bis vor ein paar Jahren habe ich geglaubt, dass es in der Menschheitsgeschichte wohl noch nie so eine perfekte Zeit zum Verweigern und Faulsein gegeben hat. In gewissen Punkten stimmt das auch immer noch: Wir haben uns hier in Europa ein ziemlich dickes Polster angefressen. Und selbst wenn man sich dieser Haltung hingibt, stecken hier schon mal zwei wichtige politische Entscheidungen drin: Erstens: Man lebt den Luxus von Frieden, Freiheit und Wohlstand, den sich Europa erarbeitet hat. Zweitens: Dieser Luxus hat Auswirkungen auf andere Regionen der Welt: Gute, synergetische und leider auch viele schlechte, weil unser Luxus in weiten Teilen ein geliehener und ausgrenzender ist … Man kann also selbst im hedonistischsten Leben überhaupt nicht unpolitisch sein. Und was passiert, wenn man sich nicht informiert, nicht kümmert, nicht beteiligt, das erleben wir gerade verstärkt: Die Lücken meiner fehlenden Beteiligung füllen andere, mache ich meine Lobby nicht geltend, tun das andere mit ihrer …

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, ein Weg wäre, den Menschen klar zeigen, was ihnen fehlt, wenn Demokratie und Grundwerte auf dem Spiel stehen. Die, die im Moment am lautesten gegen alles krakeelen, was nicht in ihre kleine Welt passt, würden sich ziemlich umschauen, wenn alles Realität würde, was sie fordern. Das wäre ein ziemlich trostloses Leben …

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe marschiert montags durch Dresden, unsere Zukunft freitags auf der ganzen Welt. Mit ein bisschen Glück entscheidet sich der Mensch in den nächsten Jahren nicht dafür, dass es umgekehrt ist. Oder anders: Wir kommen theoretisch mit ein paar Mausklicks an das gesamte Wissen der Welt. Wir haben mit unserer Geschichte das Schlechteste und vielleicht auch das Beste, wozu der Mensch fähig ist, durchlebt: Das könnte als lehrreiches Erbe für eine ziemlich rosige Zukunft sorgen, wenn wir all diesen Input „vernünftig“ nutzen. Einerseits. Andererseits ist das dem Menschen allzu oft nicht gegeben. Und so haben wir auch ein Erbe angehäuft, dass es der Zukunft sehr schwer macht: Unser Leben zerstört den Planeten. Unsere Gesundheit macht andere krank. Unser Luxus lässt andere verhungern, unsere Freiheit macht andere zu Sklaven. Jeden Tag. Jede Kaufentscheidung trägt das mit. Vielleicht, ziemlich sicher sogar, kann das nicht jeder jeden Tag ändern. Aber jeder sollte es wissen. Denn dann überdenkt man vielleicht hier und da sein Erbe, tut hier und da den ein oder anderen kleinen Schritt für die Zukunft.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Entspannung. Nicht immer der/die Lauteste sein wollen. Und dort, wo man trotzdem klar einen Standpunkt haben muss, den nach Möglichkeit ganz unpopulistisch begründen können. Mehr Musik, mehr Kunst, mehr Humor.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Meine Eltern, obwohl tendenziell konservativ, haben es irgendwie geschafft, mir ein Weltbild einzuimpfen (und ja, ich bin unbedingt fürs Impfen!), in dem die Neugier Fremdes größer ist als die Angst. Sie haben mir eine Welt gezeigt, in der Freiheit etwas Tolles, Luxuriöses und Schützenswertes ist: Reisefreiheit, Freiheit der Berufswahl, Meinungsfreiheit und Freiheit in der eigenen Erscheinung, ohne dass man dafür ernste Konsequenzen fürchten muss: Alles Dinge, von denen ich im Zuge des Endes der DDR als Kind schon bewusst mitbekommen habe, dass sie jetzt gerade erst entstehen für viele Menschen. In meiner Welt ist die Gleichheit der Menschen und Geschlechter etwas so selbstverständliches, dass ich nach der Wende sehr verdutzt auf Lebensmodelle wie „Hausfrau“ reagiert habe, auf angebliche Unterschiede von Mann und Frau. Als ich 1994 mit damals zwölf erfahren habe, dass in Deutschland Homosexualität AB JETZT nicht mehr strafbar ist, 1997, dass Vergewaltigung in der Ehe AB JETZT nicht mehr strafbar ist, bin ich jeweils aus allen Wolken gefallen. Ich hatte das seit Jahrzehnten für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Ja, Selbstverständlichkeit ist wohl die richtige Antwort auf die Frage, was mir diese Dinge bedeuten.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Abseits des rein organischen Überlebens sind dies wohl die Säulen dessen, was den Mensch überhaupt zum Menschen macht.
Es gibt seit der Steinzeit keine menschliche Kultur, die sich nicht auch über Kunst reflektiert hat. Als soziales Wesen strebt der Mensch nach einer sozialen Gesellschaft, und wenn diese sich selbst ernst nehmen will, gehört ein soziales Netz, Jugendarbeit, psychologische Betreuung einfach dazu, um am Ende allen Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Wie sehr „Medien“ unser heutiges Leben bestimmen, ist bei jedem Blick auf die Straße offenbar, wo sich die Menschen kaum mehr direkt anschauen. An Medienkompetenz kommen wir in einer medial durchzogenen Welt überhaupt nicht drumherum. Wenn man aber sieht, wie sich Menschen in sozialen Medien benehmen, was Journalisten und bestimmten Medienorganen an Hass entgegenschlägt, der aus Falschannahmen und Verschwörungsglaube herrührt, dann haben wir in dieser Hinsicht noch einigen Nachholbedarf …

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Ich glaube durchaus, dass die Mittel hier an bestimmten Stellen drastisch sein müssen. Klare Kante und Grenzen. Raus aus den Blasen und in die Blasen der anderen stechen. Gern auch ziviler Ungehorsam. Als Kultur-Punk ist mir auch das Mittel der Spaßquerilla sympathisch. Rechts zu sein, bedeutet per Definition Abgrenzung und Ausgrenzung, das qualitativ unterschiedliche Werten von Menschen. Der Weg zur Unterdrückung und Vernichtung, der Weg vom Wort zu Tat ist da sehr kurz, wie wir gerade wieder erleben. Deswegen gilt für mich ganz klar: Keine Toleranz für Intoleranz. „Erweiterte Toleranz in Richtung Rechts“, wie es gerade wieder gefordert wird, empfinde ich als blanken Hohn, denn nichts anderes ist in den letzten Jahren passiert. Vielmehr müsse es als selbstverständlich gelten, dass diese „Meinungen“ nicht in den demokratischen Konsens passen, Menschen, die dies offen vertreten nicht in Gremien, öffentlichen Ämtern, in der Disko, im Theater, in der Kneipe oder sonstwo willkommen sein sollten. Ausgrenzende und gewaltverherrlichende Standpunkte bewegen sich schnell über den Rand der Meinungsfreiheit. Wir müssen aufhören, bestimmtes Vokabular in den Kanon des Sagbaren aufzunehmen, wie es seit ein paar Jahren verstärkt geschieht. Wer gegen Minderheiten hetzt, im Angesicht von Gewalttaten verbal Beifall klatscht oder diese gar heraufprovoziert, der hat im demokratischen Spektrum für mich nichts verloren. Dafür gebe ich auch gern 10 – 15% auf, die dann eben nichtwählend an ihren Stammtisch zurückkehren. Mit denen hatte ich vor der AfD auch schon nichts gemein. Für jeden einzelnen muss das heißen: Sich selbst zeigen: Ich wähle nicht Rechts! Keine Angst vor Trotzreaktionen. Keine Scheu vor Widerspruch gegen rechte Hetze. Dafür muss man überhaupt nicht links sein. Aber leider ist das unter anderem seit Jahren ein Grundproblem vieler Konservativer, wie der CDU. Die Annäherung an die AfD in bestimmten konservativen Kreisen, weil sie ihre Felle davon schwimmen sehen, empfinde ich als unerträglich und nebenbei völlig wirkungslos. Ich bin bei Weitem kein Fan der CDU, aber ich glaube, es gäbe weniger AfD-Prozente, wenn die CDU denen weniger versucht hätte nachzueifern, als vielmehr echten christlichen Konservatismus als Markenkern dagegenzusetzen und sich von „Rechts“ klar abzutrennen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Erstmal finde ich Sieg hier ein zu starkes Wort. Prozentual sind diejenigen, die nicht die Rechtsradikalen wählen, immer noch in einer Mehrheit. Wer hier von Sieg redet, redet am Ende die Sieger, die er nicht habe möchte, mit herbei. Daher finde ich Dinge wie Framing, Informationspolitik, Berichterstattung und soziale und mediale Blasen hier wichtige Stichworte. Es begegnen einem leider recht häufig Menschen, die scheinbar nicht allzu viel darüber nachdenken, warum sie sich für eine politische Richtung oder ein Werturteil entscheiden. Die für komplexe Probleme nach allzu einfachen Pseudolösungen suchen. Und die AfD hat in einem Maße die Informationspolitik gekapert, die in vielen Kreisen die Themen setzt und selbst Widerspruch an ihr zum Erfolg ummünzen kann. Würde man ab und zu das Internet einfach abschalten (und die Bildzeitung von der Bäckertheke schmeißen), sähen die Wahlergebnisse wohl anders aus. Diese geschlossenen, für andere Meinungen, ja allein Informationen, von außen zum Teil völlig resistente Blasen sind sicherlich ein Grund, der sich jedoch nicht auf Sachsen und Brandenburg beschränkt. Offenbar sind Teile der Bevölkerung Ostdeutschlands durch die spezifische Geschichte hier besonders prädestiniert, Rattenfängern hinterherzurennen, zumindest die, die ein zu naives Anforderungsdenken haben: Mit der Wende glauben „Jetzt geht es los mit dem Schlaraffenland“ und ein paar Jahre später merken, dass dies nicht eintritt, zumindest nicht von selbst. Die Schuld bei anderen suchen und dann schöne Sündenböcke präsentiert bekommen: Die da oben und die da von außen, alle wollen mir was wegnehmen: Zack, braune Soße im Kopf, fertig. Ist bestimmt viel zu einfach diese Erklärung und es gibt noch einen ganzen Kartoffelsack voll anderer Faktoren. Aber da ich keiner von den nach Rechtsruckenden bin, kann ich es mir am Ende auch nicht erklären.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Wenn man sich deren Programm anschaut, bekommt man schwer Angst, das klingt verheerend. Ich glaube auch, je stärker die AfD in den Parlamenten vertreten ist, umso schwieriger wird es, Dinge im Sinne der offenen Gesellschaft, Bildung, Soziales, Kunst & Kultur durchzusetzen. Allerdings würde ich auch hier vor Panik warnen: Viele der Ziele sind undemokratisch und nach dem Grundgesetz nicht durchsetzbar, eine Regierungskoalition mit AfD-Beteiligung halte ich trotz der momentanen CDU-Kapriolen für unwahrscheinlich. Und zu guter Letzt glaube ich auch, dass sich, was andere Parteien leider gerade zur Unkenntlichkeit verschleift (siehe SPD), bei der AfD ein Vorteil sein könnte: Politisches Geschäft ist allzu oft Kompromiss, populistische Forderungen werden bis zur Gesetzlage oft so weit geschliffen, bis sie an Radikalität verloren haben, Regierungspolitiker bekommen angesichts von Ämtern allzu schnell Eurozeichen in die Augen und verlieren ihre idealistische Kraft …

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Sichtbar und hörbar machen! Den entsprechenden Protagonist*innen und ihren Anliegen eine öffentliche Stimme geben und sie nicht im Gegenteil als idealistische Spinner oder gar Extremisten hinstellen (Yes, Sachsen-CDU, das ging gegen Dich!) Und, was noch viel wichtiger ist: Indem man nach eigenen Kräften teilnimmt an dieses Initiativen, nur auf die Schulter klopfen reicht ja nicht. Es werden Workshops organisiert oder Aktionen? Dann braucht es auch Teilnehmer und Mittler, die Workshops und Aktionen teilnehmerstark werden lassen. Es gibt coole Konzerte, allerdings nicht im Kiez, sondern auf dem Land? Dann ab ins Auto oder den Bus, am besten in der Gruppe, dann machts mehr Spaß, und hin da!

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Die gestiegene Wahlbeteiligung zur Europa- und Kommunalwahl vor ein paar Wochen hat es gezeigt: Jeder mit Einfluss sollte aktiv dafür einstehen. Ich habe dieses Mal sogar von vielen sonst eher oberflächlichen Celebrities und anderen Personen des öffentlichen Lebens demokratische Wahlbekenntnisse gehört. Aufstand und Aufklärung durch die Anständigen, wie es immer so schön heißt, halte ich für einen wichtigen Weg. Bei vielen Menschen kann eben Helene Fischer mehr erreichen als K.I.Z. Der Weg muss dann natürlich weiter gehen bis zu jedem Einzelnen: Ihr, die ihr Wählen geht: bekennt Euch! Bis in der in der öffentlichen Wahrnehmung Wählen gehen als minimalste demokratische Beteiligung selbstverständlich ist.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

In welche Gesellschaft? Wohin zurück? Da steckt für mich ein zu sozialarbeiterischer Anspruch dahinter, man müsse immer jeden an die Hand nehmen und in einen ominösen gemeinsamen Energiekreis führen. Stehe ich selbst nicht manchmal als schräger Kultur-Vogel viel mehr „out of society“ als … äh … sagen wir Handwerker Meyer aus Freiberg? Geht es irgendjemandem schlechter, seitdem alle davon reden, wie schlecht es allen geht? Wer einem angeblich alles etwas wegnehmen will? Seid ihr nicht fett und rosig, solltet ihr nicht glücklich sein? Was hat euch bloß so ruiniert? Ok, die letzten Sätze habe ich mir von den „Sternen“ geklaut. Dennoch: Ängste haben, glaube ich, viele von uns, die Frage ist ja nur immer, wie und wohin wir sie kanalisieren. Wer seine eigene Situation, gerade im Osten, mit der „Angst vor Überfremdung“ verbindet, dem kann ich wahrscheinlich auch nicht mehr helfen. Schlagworte wie „benachteiligt“ und „abgehängt“ fühlen müsste man viel mehr auf den Zahn fühlen: Benachteiligt wem gegenüber? Abgehängt wovon? Menschen verlieren viel aus den unterschiedlichsten Gründen, viele Existenzsorgen haben ihre Ursache oft in himmelschreienden Ungerechtigkeiten vom bürokratischen Klein-Klein über kapitalistische Fehlverteilungen bis zu globalen Zusammenhängen. Und nicht jeder davon wird AfD-Wähler. Wir konstruieren hier manchmal, denke ich, zu sehr homogene soziokulturelle Räume, die es so nicht gibt: Viele Menschen haben schon lange vor Pegida und AfD Leben geführt, die mit meinem nichts zu tun haben und die ich in mein soziokulturelles Umfeld auch nicht „zurück“ holen möchte, umgekehrt ist es sicher genauso. Trotzdem sind wir natürlich alle Teil einer Gesellschaft.
Aber um an dieser Stelle noch etwas Konstruktives zu sagen: Natürlich dürfen wir dieses sprich- und wortwörtliche Hinterland nicht den Populisten überlassen, sondern muss auch die „Abgehängten“, gerade bei öffentlichen politischen Äußerungen, in der journalistischen Berichterstattung, in kultureller Arbeit etc. mit meinen und einbeziehen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Das liegt, denke ich, weniger an schlechten Erfahrungen als an Klischees. Diese sind zum Teil uralt und in unserer westlichen Welt kulturell gefestigt: Siehe das Bild von Farbigen in bestimmten Kinderserien, siehe die Politik selbst aus der vermeintlichen Mitte wie der CDU über Jahrzehnte. Es liegt zum Teil gerade daran, dass man keine kennt – der strukturelle Rassismus im weitgehend weißen Osten zeigt das recht gut. Es liegt natürlich an Fake News in völlig irrational geschlossenen Infoblasen. Klar, eine bestimmte Vorsicht vor Neuem und Fremdem ist uns angeboren. Aber es liegt ja in meiner Verantwortung, in welche Richtung ich diese auspräge: In Angst und Ablehnung oder vielmehr Neugier oder einfach eine alltagstaugliche Vorsicht, wie ich sie etwa brauche, wenn ich über die Straße gehe.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Sind denn Politiker keine Bürger? Gibt es denn DEN/DIE Politiker*in? Der hinter dieser Frage liegende Anspruch nervt mich manchmal und zwar in mehrfacher Hinsicht: Was steckt denn da für ein Sozialarbeiter- oder gar Taxifahrer-Bild dahinter, dass man ständig von Politikern abgeholt werden will? Wir sind doch nicht mehr im Kindergarten mit einer eins zu zehn Betreuung! Ob Meine Meinung in einem politischen Programm vertreten ist, erfahre ich erst, wenn ich erstens die Programme kenne (und wenn alle AfD-Wähler wüssten, wie sehr sie eigentlich gegen sich selbst wählen, dann …) und zweitens überhaupt eine klare Meinung zu bestimmten Dingen entwickelt habe, die über den Rand einer Bild-Schlagzeile hinausgeht. Dass ich wahrscheinlich selten ein Parteiprogramm finde, dem ich zu 100% zustimme, ist für mich ein alter Hut, deswegen kann ich mich ja alle paar Jahre entscheiden, bestimmte Kursrädchen zu korrigieren. Dass es Politiker*innen gibt, die gefühlt mehrere Leben von mir entfernt sind und sich aus ihrem Elfenbeinturm heraus nie in mich hineinversetzen können, ist für mich ebenso eine Binsenweisheit, die es nicht erst seit 2015 gibt. Ebensowenig kann ich mich in das Leben irgendeines Pegida-/AfD-„Absaufen“-Horsts aus Dresden hineinversetzen, sorry Dresden und sorry an andere coole Horste … Aber es gibt auch Politiker, die nicht schon von Bürokratie und Kapital verschluckt sind, die Ohren haben und Augen, die sehr wohl wissen, wo der Schuh bei verschiedenen Leuten drückt.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Unbedingt! Die Jugend ist die Zukunft und dieser klischeehafte Spruch bereitet mir seit ein paar Monaten endlich mal weniger Kopfzerbrechen, sondern ist wieder mit Hoffnung verbunden. Ich kann es sowieso nicht mehr hören: Seit etwa 2015 höre und sehe ich nix anderes mehr als die Bedürfnisse, der besorgten Bürger. Uns hört ja keiner zu? Bullshit! In jeder Talkshow, jeder zweiten Äußerung von Politikern, jedem dritten Artikel steckt eure Agenda. Und was merkt man, wenn man tiefer auf die „Bedürfnisse“ eingeht, versucht, mit Wutbürger*innen zu reden? Dann merkt man schnell, dass ganz viele Sorgen & Ängste der Besorgten keine wirklichen Sorgen & Ängste, sie sind nur Hass! Wer AfD wählt, wählt Nazis, wer sich zu PEGIDA und Konsorten auf den Platz stellt, wird nicht in die rechte Ecke gestellt, der steht in der rechten Ecke.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ich hätte in so vielen Fällen die Fresse halten können, wahrscheinlich wären mir metaphorisch wie wortwörtlich ein paar blaue Augen erspart geblieben: Aber es hätte sich auch nix bewegt. Ein paar Leute sind dadurch um ihre blauen Flecken drumherum gekommen. Ein paar Leute sind dadurch ins Grübeln gekommen. Das finde ich schon mal gut. Naja, und dann ist da ja auch noch der alte kategorische Imperativ von olle Kant: Ich fände es schon auch cool, wenn sich Leute mir gegenüber korrekt verhalten, wenn Not am Mensch ist, also sollte ich nämliches tun.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Demokratisch leben, und nicht nur so tun, als ob!

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Dass es trotz aller Unkenrufe immer noch stimmt. Nicht immer und überall, aber insgesamt mehr, als es uns unsere Panik manchmal weismachen will. Und dieser Fakt könnte wichtiger kaum sein, im momentanen Lärm: Ihr seid nicht das Volk! Ihr seid nur ein besonders hartnäckiger Pickel am Arsch des Volkes!

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich empfehle jedem den Roman „Vorhofflimmern“ des preisgekrönten Journalisten Michael Kraske. Was „Wir bleiben hier“ bedeuten kann, habe ich noch nirgendwo besser gelesen.
Ich kann jeden verstehen, der auf der Suche nach einem besseren Leben woanders hingeht, im Kleinen wie im Großen.
Dass ein Hashtag wie dieser jedoch überhaupt aufgestellt, gesagt und überlegt werden muss, verunsichert mich schon. Denn es zeigt, dass No-Areas längst Realität sind, allerdings nicht für dumpfe Deutsche, sondern für offen agierende Menschen außerhalb des rechten Spektrums. Dass wir schon in den 1990ern mit gefärbten Haaren und bestimmten T-Shirts besser nicht aufs Dorf, zum Stadtfest/Rummel, in die Sächsische Schweiz oder bestimmte Chemnitzer Stadtteile gefahren sind, war damals so normal wie im Rückblick beunruhigend.
Wir sind doch das Land, dass Leute aufnimmt, die nicht mehr leben können, wo sie herkommen, aus verschiedenen Gründen. Dass es innerhalb des Landes für viele Leute eine ernsthafte Überlegung ist, aus politischen Gründen und Bedrohungszuständen umzuziehen und bestimmte Gegenden rechter Meinungshoheit zu überlassen, sollte uns allen schwer zu denken geben. Ich habe den allergrößten Respekt an alle, die ähnlich oder oft noch aktiver handeln wie ich, und nicht auf einer Insel wie Leipzig leben! Lasst #wirbleibenhier und #wirsindmehr so lange wie möglich und so selbstverständlich wie möglich wahr bleiben!

INTERVIEW MIT JULE NAGEL

Jule Nagel, Leipzig, geb. 1978, MdL und Stadträtin für DIE LINKE, Antifaschistin und Aktivistin

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin seit nunmehr 20 Jahren politisch aktiv, zuerst ehrenamtlich, dann als Mitarbeiterin einer Europaabgeordneten und nun seit 2014 Mitglied des Landtages in Sachsen. Außerdem wurde ich erstmals 2009 für den Leipziger Süden in den Stadtrat gewählt. Ich habe zudem 2000 das linXXnet mitgegründet. Das linXXnet symbolisiert den politischen Ansatz, den ich vertrete: Offen, vernetzt, pluralistisch und bewegt. Wir sind kein klassisches Parteibüro, sondern eine Schnittstelle zwischen Partei, Bewegung und den kleinen individuellen Kämpfen gegen Unrecht. Seit Ende der 1990er engagiere ich mich gegen Neonazis, Rassismus und weitere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, für soziale und politische Rechte von Marginalisierten, für Freiheitsrechte und vieles mehr.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es gibt einen glasklaren Unterschied zwischen der politischen Arbeit in Leipzig und anderen Orten in Sachsen. In Leipzig gibt es eine gewissen Offenheit, im Stadtrat, aber auch bei den Menschen auf der Straße. Hier lässt sich gut um Argumente und die besten Lösungen streiten.
Ich bin oft in Sachsen unterwegs und auch im Landtag präsent. Gerade die Arbeit in Dresden war für mich ein gewisser Schock: Demokratietheoretisch und auch bezüglich der politischen Kultur. Insbesondere die CDU agiert mit einer unglaublichen Arroganz der Macht und lässt Vorschläge, die ihnen nicht in den Kram passen, abprallen. Natürlich ist auch die AfD ein Faktor: Seit 2017 hat sich die Rhetorik dieser rassistischen, national-konservativen Partei extrem verschärft.
Kraft und Hoffnung geben aber immer wieder die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteure, die es überall in Sachsen gibt.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich denke gerade in diesen Zeiten ist es wichtig aktiv zu werden, denn es geht um den humanistischen und demokratischen Konsens dieser Gesellschaft. Das kann im eigenen persönlichen Umfeld und im Alltag beginnen: Indem man menschenfeindlichen Sprüchen etwas entgegenhält, sich aktiv an Diskussionen über Probleme und Problemlösungen beteiligt. Ich denke aber, generell ist es wichtig, sich und seine Gedanken einzubringen. Es gibt zahlreiche partei-unabhängige Initiativen und Vereine, man kann Projekte auf die Beine stellen, man sollte sich gegen Mieterhöhungen oder für ökologische Belange einsetzen. Unser linXXnet versucht genau für solche Bewegungen und Ideen Platz zu schaffen und Unterstützung zu geben.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich denke, die Themen sind bereits stark in der Öffentlichkeit. Auch wenn wir über einen Rechtsruck sprechen müssen, der sich in den vergangenen drei bis vier Jahren Raum verschafft hat, nehme ich eine starke Politisierung der Gesellschaft wahr.
Ich denke, dass es normal sein muss, Aktionen zu veranstalten, um auf Probleme hinzuweisen. Das Versammlungsrecht ist das wichtigste Grundrecht, das kollektive öffentliche Meinungsbildung ermöglicht, es gibt die Möglichkeit Veranstaltungen und Diskussionen durchzuführen. Es ist wichtig die Stimme zu erheben, wenn Unrecht geschieht. Das ist Aufgabe eines und einer jeden, nicht nur „der“ Politik. Die jungen Leute von Friday for Future zeigen zudem gerade, welche Dynamik und Wirkung Engagement erzeugen kann. Genau wie die Protestbewegung gegen LEGIDA in Leipzig.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Zu unserem Erbe gehört der dunkelste Teil der Menschheitsgeschichte, der Nationalsozialismus. Auschwitz, von den Deutschen erdacht und betrieben, markiert die Abgründe der Zivilisation. Das muss weiterhin in den Köpfen präsent sein und der Anspruch „Nie wieder Faschismus“ Leitlinie des täglichen Handelns sein. Heißt: Kein Mensch darf ausgegrenzt und erniedrigt werden, weder durch staatliches noch durch individuelles Handeln. Das ist leider nicht die Realität.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das sind die Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Übrigens solche, die von Gesetzen fast am Meisten bedroht sind, wenn man sich die neuen Polizeigesetze vor Augen hält, mit denen repressive Kompetenzen der Polizei maßlos erweitert werden, oder die zahlreichen Asylrechtsverschärfungen, mit denen Geflüchtete entrechtet und prekarisiert werden, oder die Untätigkeit bezüglich der Gleichstellung der Geschlechter und übrigens auch Gleichstellung der Menschen, die im Westen und Osten wohnen bezüglich Löhnen, Renten und anderen sozialen Sicherungssystemen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Diese Faktoren sind essentiell. Ich denke, dass neben der „harten“ Infrastruktur, also Verkehrsanbindung, medizinische Versorgung oder Internet, diese Elemente zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehören und das Leben vor allem auch im ländlichen Raum lebenswert machen. Es sind die Bereiche, die gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und die sich jenseits der kapitalistischen Logik, dass alles zweckmäßig sein muss, bewegen und das ist gut und wohltuend.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Indem sich jede und jeder einmischt, Diskussionen in alle Bereichen seines/ihres Lebens führt. Indem Ansprüche an die Politik formuliert werden. Es wird zudem verschiedene Möglichkeiten geben seine Meinung auch auf die Straße zu tragen: z. B. bei den Unteilbar-Demonstrationen am 6.7. in Leipzig und am 24.8. in Dresden.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Das lässt sich nicht kurz beantworten. Ich denke, dass es ein Geflecht von Gründen gibt, genau wie die Wähler*innen der AfD sehr verschieden sind. Sicher ist bei vielen, vor allem im Osten, immer noch die Enttäuschung über die Benachteiligung und den Niedergang der Infrastruktur ausschlaggebend. Das reicht aber als Erklärung nicht. Wir müssen darüber sprechen, dass es doch bei relevanten Teilen der Bevölkerung tief verankerte menschenfeindliche Einstellungen gibt, dass das Zusammenleben mit Migrant*innen und die Bereitschaft humanitäre Hilfe zu leisten nicht als Normalität empfunden werden und dass mit demokratischen Prozessen gefremdelt wird. Der Kahlschlag der sozialen Sicherungssysteme durch CDU, SPD und auch Die Grünen und die Neoliberalisierung des Lebens hat tiefe Wunden gerissen. Das Ding ist, dass die AfD hier gar keine Vorschläge macht, sie ist selber eine wirtschaftsliberale Partei, die von Eliten geführt wird. Ich hoffe sehr, dass das zumindest Teile ihrer Wählerschaft noch checken und sich für eine soziale und demokratische Perspektive entscheiden. Dazu müssen sich aber auch die Parteien ändern, runter von ihrem hohen Roß kommen und Politik partizipativer gestalten und die Interessen von armen und abstiegsbedrohten Menschen stärker auf den Schirm nehmen, übrigens egal welche Herkunft diese Menschen haben.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Es ist klar: Ein Durchmarsch der AfD wird verheerende Folgen auf alle die Bereiche haben. Die AfD wird bei Kunst, Kultur, Demokratieförderungen oder Integrations- und Antidiskriminierungsarbeit einen harten Kahlschlag vollziehen. Zudem ist zu erwarten, dass sie – wie die CDU insbesondere in Sachsen über Jahre auch praktiziert hat – alle kritischen und unangepassten Akteure diskreditiert. Mit der AfD ist eine Gleichschaltung von Politik und Gesellschaft zu erwarten. Für den sozialen Bereich erwarte ich von der AfD keine Konzepte, im Gegenteil werden Armutslagen sicher weiter verhärten. Auch im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit ist schlimmes zu erwarten, insbesondere für Akteure, die sich aktiv für die Menschenrechte einsetzen.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Das beste ist sie zu besuchen, ihnen zuzuhören, ihnen Öffentlichkeit und Anerkennung zu geben. Durch die offizielle Politik gilt es Förderprogramme zu stärken und auch langfristige Förderung zu ermöglichen, damit die Initiativen nicht Jahr für Jahr zittern müssen, ob es weitergeht.
Auch eine Vernetzung von demokratiepolitischen Akteuren über die eigenen Bezugsräume hinaus macht Sinn und kann Stärke geben.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Indem man klar macht, dass ihre Stimme etwas bewirkt und ihre Bedürfnisse auch in den fünf Jahren zwischen den Wahlen gehört und ernst genommen wird. Viele Menschen haben ja das Vertrauen verloren, weil sich sowieso nichts ändert. Heißt: Politik muss sich ändern und flexibler werden! Am 1. September geht es in Sachsen zudem um den demokratischen und humanistischen Grundkonsens der Gesellschaft. Das muss ganz klar und deutlich formuliert werden.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Ich wiederhole es: Zuhören, aber auch Grenzen markieren, wenn Neiddebatten losgetreten oder Schwächere zu Sündenböcken gemacht werden.
Es muss weiter darum gekämpft werden, dass die ökonomische Benachteiligung von „Ossis“ ein Ende hat und auch ihre Lebenserfahrungen vor 1989 nicht einseitig diskreditiert werden. Hier muss Politik handeln.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Insbesondere im Osten gibt es nicht viel praktische Erfahrung im Zusammenleben mit Migrant*innen. Ich habe schon oft erlebt, dass sich Abwehrhaltungen in Luft aufgelöst haben, wenn Menschen aufeinander zugegangen sind. Das muss viel mehr passieren. Vor allem müssen die, die „Angst“ haben oder Abwehr an den Tag legen, verstehen, dass Migrant*innen Menschen wie du und ich sind, und dass es durchaus spannend sein kann andere Lebenserfahrungen, andere Gewohnheiten und Einflüsse zu erleben. Das erfordert Mut und Offenheit anderes zuzulassen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ja. Das ist so und die Wahrnehmung, dass es so ist, hat sicher auch zu großen Unmut geführt, der oft auch antidemokratisch vorgetragen wird. Ich bin sicher, dass Politiker*innen mehr Kraft investieren müssen, vor Ort ins Gespräch zu kommen und Kritiken und Anregungen aufzunehmen. Damit meine ich explizit nicht das Durchschneiden von Bändchen.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich stimme dem zu und füge neben jungen Menschen noch die hinzu, die Zielscheibe von Attacken sind: Migrant*innen, LGBTIQ, Muslime und Menschen anderer Religionszugehörigkeit. Sich permanent nur an denen auszurichten, die die Menschenrechte von Minderheiten mit den Füßen treten, ist ein fataler Fehler.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Wichtig, sie sind das Rückgrat einer lebendigen Gesellschaft, zumindest wenn sie einen demokratischen und der Menschenwürde und Freiheit verpflichteten Grundkonsens haben.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ein Slogan, der in der Zeit übelster rassistischer Hetze und Gewaltausbrüchen in Chemnitz empowern sollte und allen, die sich gegen rechte Hetze einsetzen, Hoffnung und Mut geben sollte. Von Akteuren aus dem ländlicheren Raum wurde allerdings berechtigterweise eingewendet: Nein, wir sind nicht mehr. Das halte ich für eine wichtige, ernstzunehmende Perspektive, einen Hilferuf. Ich denke, dass mensch nicht den Fehler machen darf, sich die Verhältnisse schön zu reden. Gerade die, die Tag für Tag dort kämpfen, wo sie Beschimpfungen und Bedrohungen ausgesetzt sind, die brauchen Aufmerksamkeit und Unterstützung. Da reicht ein Konzert und ein Slogan nicht.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

… bedeutet, sich nicht unterkriegen zu lassen und gemeinsam gegen die Bedrohungen von Demokratie, Menschenwürde und Freiheit und kritischem Denken vorzugehen. Heißt: zusammenhalten und offensiv für eine vielfältige, soziale und solidarische Gesellschaft kämpfen.

Foto: Herzkampf

INTERVIEW MIT BERND SCHALLENBERG

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin Bernd Schallenberg, aus Magdeburg. Dort betreibe ich mit Salka Schallenberg einen Lokalsender mit Namen kulturmd. Wie es der Name vermuten lässt: Schwerpunkt Kultur. Das machen wir inzwischen etwa 18 Jahre. Nach dem Studium (Salka, Literaturwissenschaft, ich Musikpädagogik) haben wir das Unternehmen kulturmd.de gegründet.
Nebenher spiele ich etwas Gitarre, hier mal ein Konzert und dort eine Lesung begleiten.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Soweit möglich und es unser Zeitrahmen hergibt, bringe ich mich gern in die Schule der Kinder ein. Ich engagiere mich für ein tolerantes Miteinander. Dabei trete ich für die Gleichbehandlung von Linkshändern ein. Das ist besonders in der Schule immer noch ein Problem, weil die Lehrkräfte einfach keine Ahnung haben.

Für mich sind Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Respekt wichtige Dinge. Wir leben das mit unserer Familie. Das tragen wir alle nach außen.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Wir wollen alle in Freiheit und Frieden leben. Dafür muss jeder etwas tun. Und jeder kann etwas tun. Kleine Schritte sind möglich. Freundlich grüßen oder unaufgefordert helfen, wenn es nötig wird zum Beispiel. In Gesprächen sollte man dem anderen zu hören und vor allem ihn ausreden lassen. Jeder ist Teil dieser Gesellschaft.
Weniger soziale Medien, mehr echte Kommunikation.
Für uns Digital-Migrants ist das immer noch etwas einfacher als für die Digital-Natives.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Über den Sender transportieren wir immer wieder Einladungen der Stadtverwaltung zum Bürgerdialog. Da ist man hier sehr rege. Wir empfehlen Bücher zum Thema, transportieren Ausstellungen der Landeszentrale für politische Bildung. Darüber hinaus besuchen wir regelmäßig die Moschee in Magdeburg und reden mit den Leuten. Auch die jüdischen Gemeinden finden bei uns Platz. Für uns als „gelernte DDR-Bürger“, die in einem religionsfeindlichen Umfeld aufgewachsen sind, ist Kirche ein Thema. Ebenso wichtig, die CSD-Bewegung, hier kann man hervorragend Toleranz lernen und üben. Wenn man diese bunte schrille Welt für sich akzeptiert, ist vieles deutlich einfacher.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Zu unserem Erbe zählt auf jeden Fall mindestens 1.000 Jahre europäische Geschichte. Deshalb 1.000 Jahre, weil z. B. Magdeburg mit dem ersten Römischen Kaiser deutscher Nation, Kaiser Otto der Große, unmittelbar verbunden ist. Daran geknüpft der Sachsenspiegel und das Magdeburger Recht an, welche bis heute die Rechtssprechung in Europa bestimmen.
Zum Erbe in Magdeburg gehören die zwei großen Zerstörungen der Stadt: 1631 (Magdeburgisieren) und 1945.
Die Revolutionen von 1919 und 1989, die zwingend zusammen betrachtet werden müssen.
Letztlich ist die DDR ein Erbe mit allem, was dazu gehört.

Die schwerste Last werden noch über Generationen hinweg die Folgen des Zweiten Weltkrieges sein.

Es gibt aber auch das familiäre Erbe. Was haben uns die Eltern hinterlassen? Meine Eltern haben zwei Scheidungswaisen hinterlassen.

Desweiteren hat jeder auch so etwas wie ein soziales Gedächtnis geerbt. Dinge, die man zwar nicht selbst erlebt hat, aber eventuell die Großeltern.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Ich denke, die Menschen sollten wieder mehr zusammenrücken, mehr miteinander reden. In der Hausgemeinschaft kann so etwas leichter gelingen. Im Öffentlichen Raum wären mehr nicht-kommerzielle Räume nötig, nicht nur draußen, einfache Räume nur zum Treffen und zwar über alle Altersschichten hinweg. Da könnte man zum Beispiel die Kulturhausidee aus der DDR wieder ins Spiel bringen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Freiheit ist ein sehr hohes Gut. Dafür war ich 1989 Teil der Demonstrationen.
Freiheit bedeutet in erster Linie, seinen eigenen Kopf zum Denken benutzen. Dazu ist Bildung unerlässlich. Daraus leitet sich dann die Fähigkeit ab, eigenständig zu handeln.
Freiheit bedeutet ebenso, sich frei zu äußern, gerade heraus und ehrlich. Das heißt nicht, sich gegenüber anderen zu erhöhen und sich für den Nabel der Welt zuhalten.

Die Menschenwürde zu achten, geht nur, wenn man respektvoll miteinander umgeht.
Dann klappt auch die Gleichberechtigung.
Wir haben in unserem „Mini-Unternehmen“ 50 % Frauenanteil :-). Jeder hat seine Aufgabe und seine Spezialkenntnisse. Jeder greift dem anderen unter die Arme, wenn es sein muss.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Alles sind zentrale Pfeiler für die Gesellschaft.

Kunst und Kultur sind die Lebensadern einer Gesellschaft. Ohne diese Zutaten gäbe es keine Zivilisation. Bildung ist sehr entscheidend, wenn man eigenständig handeln will.
Medienkompetenz hängt schon immer mit Bildung zusammen. Man muss lesen können, um sich über Bücher und deren Inhalte auszutauschen. Das ist übertragbar auf sämtliche Medien.

Im Zuge der Digitalisierung unseres gesamten Lebens kommt die Medienbildung offenbar nicht hinterher, teils durch das hohe Tempo, teils ist es auch nicht gewollt. Medienkompetenz befördert mündige Bürger.

Der soziale Zusammenhalt ist der Klebstoff der Gesellschaft. Wir leben mit unseren Kindern genau das. Als Scheidungswaise will ich unbedingt vermeiden, dass unsere Kinder ähnliche Erfahrungen machen müssen.
Soziale Gerechtigkeit halte ich für eine funktionierende Gesellschaft für unerlässlich. Ich bin für ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Denn, wenn man genug Geld zum Leben hat, kann man auch deutlich freier entscheiden, was man tun möchte. Der Faktor Neid spielt dann eine unbedeutende Rolle.

Darüber hinaus sollte sich der Staat zum Dienstleister entwickeln und sich aus dem Leben der Bürger weitesgehend heraushalten.

Aber ebenso sind Hilfsangebote sehr wichtig. Jeder kommt einmal in eine Situation, wo er schnell Hilfe braucht.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Man sollte unbedingt sein eigenes Selbstbild überprüfen, sollte herausfinden, wo seine Probleme liegen und wer sie lösen könnte. Manchmal genügt es, nicht mehr zu jammern.
Jeder Bürger sollte im Vorfeld versuchen, mit den Politkern zu reden. Man darf dabei keine Angst haben. Auch wenn es schwer fällt. Viele hören sogar zu. Und ein großer Teil meint es wirklich ehrlich.
Beschimpfungen oder Ignoranz führen in die falsche Richtung.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Identitäts- und Heimatverlust. Zukunftsangst.
Das hat viel mit dem Ende der DDR und der Zeit danach zu tun. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft zerstörte auch das soziale Gefüge.
Wenn man damals nicht sofort mit dem Neuaufbau der Region begonnen hat, haben die Menschen heute keine Gegenwart und erst recht keine Zukunft. Hier in Magdeburg ist das recht gut gelungen.

Da müssen wir nun allerdings erst noch lernen, warum die AfD zweistellig in den Stadtrat eingezogen ist.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Die Mitglieder der AfD und alle in dem Umfeld der Partei sind Feinde der Demokratie. Sie werden größtmöglichen Schaden anrichten, die Gesellschaft spalten. Wir gegen die. Bist Du nicht für uns, dann sind wir gegen Dich. Die Pressefreiheit wird zuerst beseitigt. Dann die Kunst. Die Bildung wird verkümmern. Die sozialen Errungenschaften werden abgeschafft. Übrig bleibt wohl möglich ein dummes, kriegsbereites Volk. (Sorry für die Endzeitstimmung á la Orwell).

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem man sich einfach mal damit beschäftigt, zu deren Veranstaltungen geht. Einen Flyer mitnimmt und mit Freunden darüber spricht. Indem man selbst mit anpackt.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Nichtwähler haben aus meiner Sicht ein sehr geringes Selbstvertrauen. Es ändert sich ja eh nix. Da hilft nur mantra-artige Wiederholung.
Ein Bsp.: Unsere mittlere Tochter (gerade 21) kurz vor der Europawahl: Ich gehe nicht wählen. Hier hat sich in den letzten 20 Jahren sowieso nichts verändert. Kurzes Lächeln im elterlichen Gesicht. Ich habe an das Schülerferienticket erinnert, darauf hingewiesen, dass man inzwischen mit der Straßenbahn überall hinkommt. Obendrein konnte sie ihr Abitur ohne Einschränkungen machen, hat eine gut bezahlte Lehre usw. usw. Noch kurz die Vorzüge vom freien Europa erwähnt, nämlich in Leipzig den Flieger gestiegen und ab nach Edinburgh zum Schulpraktikum geflogen. Zum Glück war es nur eine Laune.
Ihr Freund hingegen ist ein echter Wahlmuffel. Er sieht es zwar grundsätzlich ein, will aber erst sein eigenes Leben auf die Reihe bekommen. Dass dazu Demokratie notwendig ist, hat er noch nicht richtig verstanden.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Man muss bei diesen Menschen das Selbstwertgefühl wieder aufbauen, ihnen zeigen, dass sie ein wichtiger Teil der Gesellschaft sind.
Hier gibt es in Magdeburg zwei gute Beispiele zum Thema Angst vor Fremden. Nach den Himmelfahrtskravallen 1994 hat die Polizei ein Fest der Begegnung installiert. Es findet seitdem jedes Jahr statt. Die Stimmung gegenüber Fremden ist relativ entspannt, obwohl die Probleme nicht weg sind.

Das andere ist die Meile der Demokratie. Dort hat die Zivilgesellschaft gezeigt, wie man sich erfolgreich wehren kann. Mit dem Einzug der AfD in den Landtag hat sich diese Form des Widerstands leider totgelaufen. Aber, es gibt neue Formen, um dem Rechts-Außen-Lager klar zu machen, dass wir sie nicht haben wollen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Sie haben einfach Angst. Angst, weil sie noch nie einen „bösen schwarzen Mann“ gesehen haben. Angst, weil ihnen jemand die Geschichte davon eingebläut hat.
Meine erste Begegnung mit einem schwarzen Mann hatte ich als Junge. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon zur Schule ging. Am Ende unsere Straße war ein Arbeiterwohnheim. Dort wohnten Mosambikaner. Einer kam jeden Tag die Straße entlang. Eines Tages bin ich zu ihm hingelaufen und habe ihn die Hand gedrückt, einfach so. Mir hatte niemand irgendetwas erzählt. Außerdem hätte ich mir auch so meine eigene Meinung gebildet.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politikerinnen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Oft bekommt man tatsächlich den Eindruck. Aber wenn ich mir hier die Landesregierung und die Stadtverwaltung ansehe, dann sind diese beiden Parlamente doch sehr bürgernah.
Der Oberbürgermeister bietet regelmäßig Kindersprechstunden an. Die Landesregierung tut sehr viel zur Prävention. Sie steht unbeirrt hinter dem Verein Miteinander e. V. Dieser kümmert sich seit 20 Jahren um eine bessere Gesellschaft und kämpft aktiv gegen rechts.
Aktuell werden sehr viele Schulen über Stark III saniert. Schulbildung, Hort und Kita haben einen hohen Stellenwert.
Bei der Bundesregierung könnte man eher vermuten, dass sie sich vom Bürger entfernt hat. Da muss man aber fairerweise die Bemühungen um Europa als positives Beispiel benennen (bei allem Für und Wider).

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Erstmal, Wut, Hass und Angst sind schlechte Ratgeber. Dennoch muss man genau zu hören, was diese Leute bedrückt. Ich weiß, viele sind sehr beratungsresistent und realitätsfremd.
Die Jugend braucht Perspektive. Eine echte Chance im Leben. Eine Ausbildung, die Möglichkeit, im Ort oder im näheren Umkreis Arbeit zu finden.
Jugendklubs und andere Treffpunkte sind notwendig.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Beides hat einen hohen Stellenwert. Wenn jemand Hilfe braucht, dann helfe ich. Geht man ehrlich, respektvoll und aufrichtig miteinander um, kann man sich gegenseitig auch vertrauen. Ohne Zivilcourage geht es nicht.
Die Zivilgesellschaft sind wir alle!

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Wir müssen darüber reden, immer und immer wieder. Die Menschen brauchen Mut zur Freiheit und Mut zum Mitgestalten. Das Mitreden sollte einfacher gehen. In wirklich zukunftsweisenden Fragen, etwa den Bau einer neuen Elbbrücke, könnte man auch auf einen Volksentscheid setzen.
Die Politiker sollten für Transparenz sorgen. Der Landtag Sachsen-Anhalts bietet z. B. eine lückenlose Dokumentation jeder Parlamentssitzung, jeder Anfrage und jeder Antwort darauf.
Jeder ist aufgefordert, sich davon ein Bild zu machen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Die Mehrheit will Frieden, Familienglück, Liebesglück, gut bezahlte Arbeit und sichere Rente. Niemand kommt mit gezogener Waffe auf die Welt. Diese Mehrheit hat die Kraft eine laut schreiende Minderheit in Grenzen zu halten. Wir müssen es nur alle gemeinsam wollen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Einerseits bin ich heimatfühlig. Meine Stadt, meine Elbe, meine Familie. Wir können auch nicht einfach mal eben weg. 1989 sind auch geblieben, da ist dann die DDR abgehauen.
Andererseits vor Problemen weglaufen, bringt oft wenig.
Außer man muss vor z. B. Assads Bomben oder vor Erdogans Vorstellung von Pressefreiheit fliehen. Die Probleme, die wir hier im Land haben, können auch wir selbst regeln. Es gibt genug Möglichkeiten sich zu beteiligen. Davon bin ich überzeugt.

Foto: Dana Schallenberg