INTERVIEW MIT BEATE EHMS

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin Jahrgang 1965, in Finsterwalde geboren, studierte in Moskau und Leipzig und arbeite als Juristin beim MDR. Ich lebe seit 1988 in dieser tollen Stadt und freue mich, dass ich sie als Stadträtin mitgestalten kann.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Seit ich denken kann und politisch aktiv bin, streite ich für Mitbestimmung, eine bessere Welt, Gleichstellung, Frieden und Antifaschismus.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es ist spannend und erfüllend, gemeinsam mit engagierten Menschen Projekte voranzubringen und positiv verändern zu können. Es ist frustrierend, wenn sich zu wenig bewegt.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Weil Politik, ob in den Kommunen oder im Land, uns alle betrifft. Je mehr mitmachen, desto mehr Meinungen werden abgebildet und gemeinsame Lösungen gefunden. Ich wünsche mir, dass es noch viel mehr Beteiligungsmöglichkeiten gibt. Davon lebt Demokratie, dass Alle sich einbringen und mitgestalten können.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich denke, das fängt im Kleinen an. Im persönlichen Gespräch, im Zuhören und dem Verständnis für Unterschiedlichkeit, genauso wie Gemeinsames. Grundsätzlich brauchen wir mehr direkte Demokratie und Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben. Politik muss mitgestaltet und Demokratie auch wirklich gelebt werden können. Das wäre ein erster Schritt.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 
 
Das, was war. Das, was wird.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?
 
Mehr reden, mehr Begegnungen, mehr miteinander teilen, zusammen feiern und tanzen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?
 
Die Basis, um leben zu können.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sie sind elementar wichtig.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 
 
Sich selbst engagieren, soziale Alternativen mitentwickeln und klare Kante zeigen. Und progressiven Mehrheiten die Stimme geben.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Eine Mischung aus Frust, Protest, Suche nach einfachen Antworten. Hinzu kommen der jahrzehntelange Abbau von sozialen Rechten und Standards, Demokratieverlust und gerade hier im Osten auch das Gefühl, von den Verantwortlichen allein gelassen zu werden.
Zwischen Ost und West gibt es noch immer deutliche Unterschiede: z. B. bei der Rente, bei den Einkommen, bei der Berücksichtigung in leitenden Funktionen von Behörden und Unternehmen sowie bei der Verteilung von Vermögen.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?
 
Soziale Standards sinken, Projekte können nicht weiter arbeiten, mehr Rassismus, Angriffe auf Leib und Leben anders Denkender, Lebender und Liebender, de facto ein Angriff auf alles, was nicht ins rechte Weltbild passt. Ich sehe auch deutliche Gefahren für die Pressefreiheit.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?
 
Zum Einen müssen wir endlich eine bessere und langfristige finanzielle Unterstützung sichern. Oftmals wird alle Verantwortung allein auf die Schultern des Ehrenamtes geschoben, das ist falsch.
Zum Andern müssen wir eine viel breitere Öffentlichkeit schaffen, Engagement sichtbar machen und auch wertschätzen. Die Menschen in den Bündnissen und Initiativen leisten Enormes, mit viel Herzblut und mitunter über eigene Grenzen hinaus. Das muss uns mehr wert sein.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

In meiner Erfahrung als langjährige Politiker*in erreichen wir die Menschen am besten im persönlichen Gespräch.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

„Überfremdung“?? Was für ein Unwort!
Durch mehr Teilhabe. Eben nicht von oben herab, sondern ehrlich und gemeinsam. Probleme auch wirklich ernst nehmen. Das ist mir in meiner Arbeit besonders wichtig.
Und indem wir Alternativen aufzeigen, die auch wirklich etwas verändern. Eine Politik, in der Menschen vor Profiten stehen und Solidarität groß geschrieben wird!

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Ich habe das Gefühl, dass Orte der Begegnung fehlen. Dass die Menschen sich nicht kennen und kaum zusammenfinden. Das würde vieles einfacher machen und Ängste nehmen. Die politische Ursache ist eine Politik seitens der Regierung, egal ob Europa, Bund oder Land, die auf Abschottung und Abgrenzung setzt statt auf Inklusion und Integration. Was wir brauchen ist eine wirkliche Willkommenskultur, die Migration als Chance begreift und Vorurteile aktiv abbaut. Und, na klar, gibt es auch Rassist*innen, Nazis und fremdenfeindliche Bewegungen. Dagegen müssen wir kämpfen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?
 
Auf jeden Fall. Leider. Genau deswegen ist eine Politik auf Augenhöhe, mehr Mitbestimmung und ein Mehr an Solidarität so wichtig.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?  

Das wundert mich nicht, denn die Jugend ist unsere Zukunft. Sie können, und das sehen wir jetzt an Fridays for Future, noch vieles bewegen und verändern. Grundsätzlich müssen wir für alle Menschen ein offenes Ohr haben. Da gibt es viele reale Problemlagen, z. B. Altersarmut. Und die Mitglieder der Identitären Bewegung sind eher jüngerer Generation. So einfach scheint das also nicht zu sein. Es gibt viele engagierte ältere Menschen und Senior*innen . Ich denke da an die „Omas gegen rechts“. Tolle Frauen*!

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
 
Sehr wichtig: Sie sind das A und O unserer Gesellschaft, der Kit für ein solidarisches Miteinander.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
 
Jeden Tag aufs Neue durch Engagement, im Alltag, auf der Straße. Indem wir uns solidarisch zeigen mit Betroffenen. Wir müssen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Sexismus immer widersprechen. Das kostet Kraft, aber es lohnt sich.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!
 
Als erster Gedanke kommt mir das Konzert in Chemnitz. Und dann: Ja, sind wir und wir kämpfen. Und wir müssen noch mehr werden!

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Dass ICH hier bleibe. Es lohnt sich für eine bessere Gesellschaft im Osten, in Leipzig, zu kämpfen.
Und falle es mich doch mal woanders hin verschlägt, dann engagiere ich mich dort weiter.

INTERVIEW MIT CHRISTIN MELCHER

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin Landesvorstandssprecherin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen und aktiv in der Leipziger Zivilgesellschaft. Als Bündnisgrüne steht für mich im Mittelpunkt, viele Menschen in Leipzig und in Sachsen für das Miteinander zu begeistern. Eine freie, vielfältige und gerechte Gesellschaft ist mein Motor. Ob Bündnisse wie „unteilbar“, „Leipzig nimmt Platz“ oder „Druck.Machen!“, Initiativen wie das „Leipziger Brückenfest“ oder die „Leipziger Kita-Initiative“ – ich bin der Überzeugung, dass wir nur miteinander etwas besser machen können. Besonders setze ich mich für gute Bildung von Anfang an ein, ob gute Qualität und gut bezahlte Erzieher*innen, gesundes Essen für alle oder Bildungsbiographien, die nicht durch das Elternhaus oder durch Selektion im Bildungssystem vorgeprägt werden.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Politik zu machen, ist ein außerordentliches Privileg. Ich finde es wichtig, aktiv mit den Menschen vor Ort die Gegebenheiten besser zu machen, die beste Lösung für Herausforderungen zu finden, aber auch die Komplexität von demokratischen Prozessen und Entscheidungen sichtbar zu machen. Leider gibt es aber auch eine Kehrseite: Allzu oft werden Konzepte, Lösungen oder weltoffene, kreative Ideen einer aktiven Zivilgesellschaft von einer konservativen Landesregierung ausgebremst. Leider steht allzu oft nicht Leipzig oder Sachsen im Fokus der Landesregierung, sondern Parteikalkül und Taktik – das kann auch zermürben.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Politik lebt vom Mitmachen und Mitgestalten. Nur wenn alle Interessen, Meinungen und Expertisen hör- und sichtbar sind, kann die beste Lösung gefunden werden – Lösungen, die auch von der Mehrheit getragen werden. Demokratische Entscheidungsprozesse und Selbstwirksamkeitserfahrungen der Bürger*innen sind wichtig für unser Miteinander, schaffen Akzeptanz und Verständnis, während bloßes Meckern nichts ändert.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Demokratie muss praktischer werden. Die Jüngsten müssen schon in der Kita oder in der Schule positive Erfahrungen mit Mitbestimmung machen können, sie müssen erleben, dass ihre Stimme etwas wert ist und positive Selbstwirksamkeitserlebnisse erfahren. Die Fridays for Future-Bewegung macht es deutlich: Während die einen es nicht für rechtens halten, sehe ich das als politische Bildung, Beschäftigung mit den Grundwerten unserer Demokratie schlechthin. Die einen wollen verbieten, wir sagen „Macht weiter so und nehmt euch das Recht, politisch hörbar und sichtbar zu sein. Verändern wir gemeinsam diese Welt!“. Gleichzeitig müssen wir aber auch deutlich machen: Wenn Verfassungsfeinde oder Rechtsradikale den Boden unserer Grundwerte missachten, wenn die Grenzen des Sagbaren sich massiv verschieben und daraus Taten, Hass und Gewalt werden, müssen wir alle gemeinsam Grenzen aufzeigen und widersprechen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Ich möchte, dass wir uns als Menschen sehen. Wenn wieder über „Flüchtlingsstrom“ oder „Asylanten“ gesprochen wird, zeigt sich schon eine Entmenschlichung, gleiches gilt für „Hartzer“, aber auch über „die Politiker“. Wir sind alles Menschen, wir lieben, wir essen, wir trauern, wir lachen und weinen. Ich wünsche mir, dass wir dies in unserer Sprache und in unserem Tun bedenken.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Sagt was. Schweigen wir nicht bei der Familienfeier, wenn der Onkel wieder rassistische Parolen raushaut. Sagen wir was, wenn der Kollege wieder den Mitarbeiter mit Migrationsgeschichte schikaniert. Der Kampf für unsere Grundwerte beginnt genau dort.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Es würde noch rauer, noch polarisierender werden. Schon jetzt gehen Risse durch Familien, durch Generationen, durch Dörfer und Gemeinden, durch Sportvereine und Kollegien. Doch nicht nur das Erstarken der AfD würde dies verschärfen, sondern auch eine mögliche Regierungsbeteiligung von diesen Verfassungsfeinden. Ich möchte mir nicht ausmalen, was das für unsere Bildungslandschaft bedeuten würde, für den Klima- und Umweltschutz oder für die Gleichstellung.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Wichtig ist vor allem eine langfristige Sicherstellung der Gelder und Fördermittel. Viele Initiativen müssen wieder und wieder jedes Jahr um die notwendigen Gelder bangen. Das hat zur Folge, dass es wenig Planungssicherheit gibt, befristete Arbeitsverträge und gute Projekte, die einfach auslaufen. Demokratie-Projekte brauchen endlich den Stellenwert, den sie verdienen, das beginnt mit einer langfristigen Finanzierung.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Herz auf, Angst raus. Es wird tatsächlich bei der Landtagswahl, darum gehen, ob es gelingt, dass die Neugierigen, die Weltoffenen, Kreativen und jene, die auf etwas Besseres hoffen, ihre Version für ein anderes Sachsen in den Vordergrund stellen können. Zuversicht und der Wille gemeinsam Sachsen besser zu machen, kann eine Kraft sein, die Angst beseitigt.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil es leider sehr viele Rassist*innen gibt, um das auch mal klar und deutlich zu sagen. Und rassistische Einstellungen und solch Gedankengut wurde viel zu viele Jahre in Sachsen verharmlost.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Politik bedeutet den Bürger*innen ein Angebot zu machen. Die Menge an Bürgeranfragen, Wahlprüfsteinen oder Einladungen zu Diskussionen zeigen deutlich, dass sich Menschen für Politik interessieren. Politik ist nicht einseitig, sondern geht in zwei Richtungen: Wir machen Angebote, Bürgersprechstunden, Diskussionsveranstaltungen, sind erreichbar auf unterschiedlichen Kanälen – das kann jede*r nutzen, muss es aber auch wollen. Gleichzeitig müssen wir aber Politik weiterhin erfahrbar machen, komplexe politische Entscheidungsprozesse erklären, Disput aushalten und uns verständlich ausdrücken.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Wir kämpfen für eine Welt, in der auch meine Kinder und Enkelkinder noch leben können. Nichtsdestotrotz ist das aber weniger eine Frage der Generationen, als eine Frage des Selbstverständnisses, wie ich an politische Entscheidungsträger herantrete. Es macht eben einen Unterschied, ob ich nur meckere oder konkrete Lösungsansätze habe.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Eine aktive Zivilgesellschaft und Zivilcourage ist das Rückgrat unserer Demokratie und das notwendige Korrektiv für politisches parlamentarisches Handeln.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Die Demokratie stärken wir durch weitere Beteiligungsinstrumente, eine bessere Vermittlung von demokratischen Entscheidungsprozessen, Ehrlichkeit und Transparenz. Wir müssen auch Benachteiligte besser einbinden und ihnen den Zugang zu politischen und demokratischen Entscheidungsstrukturen erleichtern. Altersgerecht vermittelte politische Bildung ist ein Schlüssel, das alltägliche Erleben von demokratischen Entscheidungen, die Vermittlung unserer Grundwerte und die klare Abgrenzung zu jenen, die diese Basis verlassen, sind wichtige Bausteine für den Erhalt unserer Demokratie.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ich war in Chemnitz. Die vielen Menschen, ob jung, ob alt, die ein Zeichen gegen Menschenfeindlichkeit gesetzt haben – dass sowas in Sachsen möglich ist, hat mich in meiner Haltung und in meinem Engagement gestärkt und empowert. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mehrheit der Menschen in Sachsen demokratisch, weltoffen und tolerant ist und hoffe, dass solche Ereignisse Menschen ermutigen, ihre Haltung auch kund zu tun.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Es ist eine Ansage und eine Einladung an alle Neugierigen, Weltoffenen – für diejenigen, die etwas besser machen und dieses Land gemeinsam verändern wollen.

INTERVIEW MIT MADELEINE HENFLING

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin 1983 in Ilmenau/Thüringen geboren. Nach dem Abitur hab ich in Köln und den Niederlanden Geschichte, Afrikanistik und niederländische Sprachwissenschaft studiert. Seit 2008 lebe ich wieder in Ilmenau. Ich war in Thüringen Landesvorsitzende bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Mitarbeiterin eines Abgeordneten, Geschäftsführerin des Landesfrauenrates in Thüringen und seit 2014 bin ich Abgeordnete im Thüringer Landtag. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich engagiere mich seit meiner Schulzeit gegen Nazis, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In ganz unterschiedlichen Bereichen war und bin ich in den letzten Jahren aktiv. Bevor ich Abgeordnete wurde, habe ich mich vor allem beim Flüchtlingsrat Thüringen bei der Vernetzung der Thüringer Bündnisse und Initiativen gegen rechts engagiert, als Vorstandsmitglied und Sprecherin für Geflüchtete eingesetzt, Demos gegen Nazis und die AfD angemeldet und organisiert, Rassismus thematisiert und Missstände angesprochen. Ich trete ein für die Rechte aller Menschen auf ein gutes Leben, egal wo sie herkommen, wen sie lieben oder welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen. Ich kämpfe für eine liberale und gerechte Gesellschaft ohne Hass und Hetze. Und das auf allen Ebenen, ich bin für die Grünen aktiv auf kommunaler Ebene, Landesebene und ich sitze im Bundesparteirat der Grünen.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Politik gestalten ist eine wirklich gute Sache. Aber du brauchst Nerven und Durchhaltevermögen, Kompromissbereitschaft und etwas, woran du glaubst, was du erreichen willst. Dann fühlt es sich meistens richtig gut an Dinge zu verändern, auch wenn es nicht immer so schnell geht, wie ich mir das wünsche. Manchmal ist es aber auch frustrierend, wenn dir wieder alle erklären, warum bestimmte Dinge nicht funktionieren und wenn die AfD in den Parlamenten und auf der Straße gegen die hetzt, die sich engagieren für eine menschliche Gesellschaft. Wir müssen viel aushalten in den letzten Jahren, da braucht es Solidarität über Parteigrenzen hinweg.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Gesellschaft bedeutet, wir müssen aushandeln, wie wir zusammenleben wollen. Wir brauchen Regeln und es ist wichtig, dass sich möglichst viele Menschen bei der Aufstellung solcher Regeln beteiligen können. Dazu muss man sich mit Politik beschäftigen und muss mitmachen. Dazu braucht man nicht mal in einer Partei sein. Gerade auf kommunaler Ebene kann man sich auch anders engagieren. Wenn wir uns engagieren und einbringen, dann hilft das auch gegen Antidemokraten und Faschisten. Eine engagierte, aufgeklärte und aktive Zivilgesellschaft ist eines der besten Mittel gegen Nazis und Faschisten.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Durch Selbstwirksamkeitserfahrungen und Beteiligung vor Ort. Nicht nur drüber reden, sondern machen. Den Menschen die Möglichkeit geben Demokratie tatsächlich mitzugestalten, nicht fremdbestimmt zu sein.

Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Theoretisch leben wir in einer der besten Demokratien auf dieser Erde. Unsere Verfassung als Erbe, das uns mahnt, was passieren kann, wenn wir uns nicht um Demokratie bemühen, uns für Menschenrechte einsetzen und uns mit denen solidarisieren, die angegriffen werden. Für die Zukunft heißt das, wir müssen das, was so theoretisch auf dem Papier steht, in der Praxis verteidigen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Dass die Menschen wieder mehr zuhören, weniger nur ihre eigenen Interessen im Blick haben und mehr an andere denken. Offenheit und die Bereitschaft sich mit Fakten und Komplexität zu beschäftigen wären auch schön 😉

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Freiheit heißt für mich, so leben zu können, wie ich möchte. Freiheit heißt aber auch teilhaben zu können an einer Gesellschaft, egal wer du bist. Ohne die Wahrung der Würde aller Menschen und deren Geleichberechtigung gibt es auch keine Freiheit. Alle drei zusammen sind die Grundlage für unsere Gesellschaft.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Das sind wichtige Grundlagen für eine funktionierende Demokratie. Eine aufgeklärte Gesellschaft braucht Kunst, Kultur und Bildung. Umgedreht brauchen Kunst, Kultur, Bildung eine aufgeklärte Gesellschaft, um sich entfalten zu können. Es ist kein Zufall, dass Protofaschisten wie die der AfD gegen Kultur, Kunst und Bildung vorgehen. Sie arbeiten aktiv gegen eine aufgeklärte und emanzipatorische Gesellschaft.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Die Leute, die sich vor Ort engagieren brauchen Solidarität und Politiker*innen, die hinter ihnen stehen. Offene Ohren und offene Türen sind auch wichtig und letztendlich brauchen sie Geld.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Wir müssen den Leuten klar machen, dass ihre Stimme ein Gewicht hat. Diejenigen die nicht wählen, erzählen mir häufig davon, dass sie keinen Unterschied zwischen den Parteien erkennen und es für sie keinen Unterschied macht, ob sie wählen oder nicht. Gerade bei den anstehenden Landtagswahlen im Osten müssen wir den Leuten klarmachen, was für ein Gewicht ihre Stimme hat.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Rassismus ist tief verwurzelt in Deutschland. Vorurteile und Stereotype gibt es seit Jahrhunderten in unserer Gesellschaft. Hinzukommt, dass bspw. die deutsche Kolonialzeit erst seit ein paar Jahren thematisiert und aufgearbeitet wird. Ich würde also weniger von Angst mehr von Rassismus sprechen. Parteien wie die AfD wissen genau um diese vorhandenen Rassismen und nutzen sie, um Angst zu schüren.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ich finde das ist ein gegenseitiges Problem. Ja Politiker*innen müssen wieder mehr zuhören und den Leuten mehr erklären. Ich würde mir auch wünschen, dass Politiker*innen Leuten nicht nach dem Mund reden, sondern ihnen ehrlich sagen, was möglich ist und was nicht. Ich erlebe häufig, dass Menschen enttäuscht sind, weil ihnen Politiker*innen Dinge versprochen haben, die gar nicht wirklich in ihrer Macht liegen. Von Bürger*innen würde ich mir auf der anderen Seite wünschen, dass sie die Komplexität von Demokratie und Politik erkennen und sich damit auseinandersetzen.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ja, ich denke die „Wutbürger*innen“, Rassist*innen und Hater bekommen viel zu viel Aufmerksamkeit in dieser Gesellschaft und das ist nicht einfach nur schlecht, das ist gefährlich. Schon jetzt haben es diese Menschen geschafft bspw. für verschärfte Asylgesetze zu sorgen, der Diskurs in der Öffentlichkeit ist teilweise menschenverachtend. Und das liegt daran, dass wir die „Wutbürger*innen“ viel zu häufig zu Wort kommen lassen und ihnen massiv Raum in der Öffentlichkeit einräumen.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ohne sie gibt es keine Demokratie! Deshalb muss es unser aller Anliegen sein Zivilgesellschaft und Zivilcourage zu stärken, gerade im Osten.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem wir mitmachen und Demokratie und Beteiligung einfordern. Außerdem braucht es Rückgrat und einen klaren Kompass. Wir müssen uns klar gegen Menschen- und Demokratiefeinde stellen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Die Hoffnung, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland klar für eine offene und menschenfreundliche Gesellschaft einsteht.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich bin im Osten geboren und aufgewachsen, ich hab im Westen studiert und bin zurückgekommen nach Thüringen. Ich will, dass diejenigen, die sich dafür entschieden haben, im Osten zu leben, auch dafür kämpfen, dass es hier keine Mehrheiten für Faschisten wie die AfD geben darf. Ich bin bereit hier zu bleiben und dafür zu kämpfen. Und ich lade alle ein mitzumachen, damit der Osten für alle Menschen lebenswert wird und bleibt!

INTERVIEW MIT IRENA RUDOLPH-KOKOT, geb. 1973 in Moskau

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin mit zwei Kulturen und Sprachen aufgewachsen und was viel wichtiger für mein heutiges Engagement ist, auch in zwei Ländern mit ihrer jeweiligen Geschichte. So habe ich erfahren, dass Teile der Familie meiner russischen Mutter sich von ihr wandten, da sie einen Deutschen geheiratet hatte. Meine russische Großmutter erzählte mir, welche Menschen sie alles im Krieg verlor. Auf der anderen Seite erlebte ich wenig echte Aufarbeitung in dem deutschen Teil der Familie und den leider zu oft plakativen Antifaschismus in der DDR. All das hat mich geprägt.
Heute bin ich Personalratsvorsitzende in einem Eigenbetrieb der Stadt Leipzig, von Beruf Verwaltungsfachwirtin und aktive Gewerkschafterin bei ver.di und dem DGB. Außerdem engagiere ich mich in Projekten, Initiativen und Vereinen, die sich gegen Nazis und für eine solidarische Gesellschaft einsetzen, zum Beispiel im Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Für mich ist konsequenter Antifaschismus wichtig. Deswegen engagiere ich mich im Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“. Für mich ist Antifaschismus eine demokratische Selbstverständlichkeit. Politisch schlägt mein Herz für die vielen abhängig Beschäftigten und für Menschen mit Migrationsgeschichte. So bin ich aktive Gewerkschafterin in Gremien von Ver.di und dem DGB. Aber auch in der SPD begleite ich genau die genannten Themen in den Arbeitsgemeinschaften für Arbeitnehmer*innenfragen und Migration und Vielfalt.
Ich möchte eine Gesellschaft, welche die Vielfalt als Bereicherung begreift und in der alle Menschen die gleichen Chancen haben, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen. Ich möchte, dass Menschen überall demokratisch mitbestimmen können, vor allem auch in den Betrieben. Ich möchte, dass die Daseinsfürsorge prinzipiell nicht dem Markt unterworfen werden darf, damit alle Menschen den gleichen und guten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Pflege, Bildung, Wohnen, Verkehr sowie zu Versorgung mit Wasser und Energie haben. Ich möchte mich nicht darum streiten, wie man das gesellschaftliche (Fern-)Ziel nennt, Hauptsache die obigen Ziele werden erreicht.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es ist eine sehr kleinteilige und kräftezehrende Arbeit. Man muss Geduld haben und darf sich nicht entmutigen lassen. Außerdem erfährt man allerlei Anfeindungen, vor allem aus dem politisch rechten Lager. Im Moment treibt mich die Kampagne #umkrempeln, von der ich hoffe, dass auch die letzten Skeptiker in den Parteien von R2G begreifen, dass wir nur gemeinsam die Chance haben, Sachsen progressiv zu gestalten.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Politik ist kein Lieferdienst. Jede*r sollte einen Teil dazu beitragen. Dazu ist es nicht zwingend nötig, in eine Partei zu gehen, aber sich gesellschaftlich zu engagieren schon. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass in einer Parteiendemokratie die direkte Gestaltung natürlich in einer Partei besser umzusetzen ist.
Das Engagement in inhaltlichen Kampagnen, wie zum Beispiel bei Fridays for Future, kann Politik aber auch beeinflussen und dieses Engagement ist enorm wichtig für die Aushandlungsprozesse, wohin unsere Gesellschaft steuern soll.
Ich persönlich ziehe vor allen Menschen den Hut, die sich in ihrer Freizeit für eine positive Entwicklung in unserer Gesellschaft, frei von Egoismen, einsetzen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich bin ein großer Fan davon, dass schon ab der Kita in den Bildungsplan aufzunehmen. Aber nicht nur theoretisch, nein, sondern mit aktiver Mitbestimmung bis ins Berufsleben hinein. Dann wächst es zu einer Selbstverständlichkeit.
Auch die Medien spielen eine sehr wichtige Rolle. Meiner Meinung nach fehlen oft positive Erzählungen. Das muss sich ändern. Es reicht nicht „Tue Gutes und erzähle darüber“, wenn Medien das dann nicht aufgreifen. Das ist bestimmt nicht einfach, aber meiner Meinung nach zwingend notwendig.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Ich würde ja hier schreiben, dass das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte unser Erbe ist. Nur trifft das auf mich nur zur Hälfte zu, da ich die zweite Hälfte der Geschichte aus russischer Sicht sehe. Aber für Deutschland ist es ein Erbe, mit dem wir alle gemeinsam in der Gesellschaft verantwortungsvoll umgehen müssen. Das heißt für mich, dass dieser Teil der Geschichte in den Lehrbüchern und -plänen einen sehr großen Teil einnehmen muss. Auch der Besuch von Gedenkstätten muss viel stärker verankert werden, gerade weil Zeitzeugen immer seltener werden.
Die Zukunft kann und muss sich auf Grundlage der gezogenen Lehren aus dem dunklen Kapitel des Landes gestalten. Das heißt für mich, dass das Nationale nicht im Vordergrund stehen darf, sondern immer die Humanität und die Solidarität.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Es wäre gut, wenn Menschen sich positiv begegnen. Neid und Missgunst sollte es nicht geben. Hilfsbereitschaft, Empathie, solidarisches Denken und Handeln – all das wünsche ich mir.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das alles sind Grundlagen einer solidarischen vielfältigen Gesellschaft, also einer, wie ich sie mir vorstelle. Diese Grundlagen sind leider heute immer noch nicht selbstverständlich und müssen immer wieder erkämpft und verteidigt werden.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

All diese Sachen haben etwas mit Teilhabe an der Gesellschaft zu tun und all diese Faktoren sind notwendig, um mündig an demokratischen Entscheidungsprozessen teilnehmen zu können. Heißt kurz – enorm wichtig.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Sich einbringen in Initiativen wie #unteilbar zum Beispiel. Sich endlich einen Ruck geben und zu Demonstrationen gegen Rechte gehen. Aufmerksamkeit erzeugen für Demokratie und Zivilgesellschaft. Wählen gehen und Freunde und Bekannte dazu animieren. Und vielleicht auch Parteien oder Kandidat*innen im Wahlkampf unterstützen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Es reicht nicht auf die Lebensbrüche durch den Systemwandel zu schauen, denn das trifft alle „neuen“ Bundesländer. Ich denke, dass speziell in Sachsen durch eine entsprechende Bildungspolitik und das Forcieren der „Obrigkeitshörigkeit“ das Ankommen in der bundesdeutschen Demokratie kaum stattgefunden hat. Lange wurden Niedriglöhne begünstigt, Mitbestimmung im Betrieb unterdrückt und den Menschen eingeimpft, dass sie froh sein müssen, überhaupt eine Arbeit zu haben. So wurde eine Stimmung der Verlustangst immer weiter angeheizt. Leider haben sich zu wenige Menschen davon emanzipiert. Deswegen brauchen wir auch so dringend eine neue positive gemeinsame Erzählung mit der Aussicht, dass es nicht schlechter, sondern besser werden kann.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Ich finde es grundfalsch, sich an dieser Partei abzuarbeiten. Lasst uns lieber gemeinsam für das Positive werben! Diese Annahme muss sich nicht zwingend bewahrheiten. Lasst uns Sachsen lieber #umkrempeln!

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Da gibt es verschiedene Wege. Der beste ist einfach mitzumachen. Der einfachste, aber auch sehr notwendige, ist zu spenden. Dazwischen gibt es noch viele Zwischentöne – Hilfe in den sozialen Medien durch Erzeugen von Aufmerksamkeit, der Besuch von Demonstrationen und Veranstaltungen, Unterstützung bei Fördermittelvergaben etc. Ansonsten bleibt noch, zu den Projekten gehen, Interesse zeigen, zuhören und sie bekannt machen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Diese Aufgabe ist auf jeden Fall die von uns allen. In Familie, Betrieb, Freundeskreis immer wieder die Diskussion suchen und das Umfeld auffordern, sich an den Wahlen zu beteiligen. Ehrlicher Weise ist das auch eine Frage von Bildung und von Gewohnheit. Ich finde, dass wir den Fokus auf Gesellschaftswissenschaften in den Schulen in den letzten Jahren akut vernachlässigt haben. Das muss sich ändern. Und das Üben von Mitbestimmung kann auch im Betrieb stattfinden. Lasst uns die Gründung von Betriebsräten endlich fördern und mitbestimmte tarifgebundene Unternehmen zum Soll erheben! Dann klappt es auch bei den politischen Wahlen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Ich finde nicht, dass es zwingende Folge von Verlustängsten ist, dass man fremdenfeindlich wird. Es gibt genug Gegenbeispiele. Und oft sind es Menschen, denen es gut geht, die gegen Menschen mit Migrationsgeschichte hetzen. Sozialneid war und ist nicht zielführend. Vielen muss man das ganz klar sagen.
Mit Menschen, die es im Leben etwas schwerer haben – egal aus welchem Grund –, muss sich die Gesellschaft solidarisch zeigen. Das heißt, dass es aus meiner Sicht Aufgabe des Staates ist, die öffentliche Daseinsfürsorge und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für alle zu sichern und das absolut unabhängig von Herkunft und Alter.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Vieles resultiert aus Unkenntnis. In etlichen Ecken Sachsens gab es lange Zeit kaum Menschen mit Einwanderungsgeschichte, bei denen es sofort sichtbar war. Der größte Teil waren Russlanddeutsche und Kontingentflüchtlinge, welche es nach ihrer Ankunft auch nicht leicht hatten und in der Folge sich abkapselnde Communities bildeten. Ein anderer Teil waren die noch aus DDR Zeiten gebliebenen Menschen aus Vietnam. Auch hier gab es vor allem Anfang der 90er Jahre starke Anfeindungen und auch hier führte dies zur öffentlichen Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft bei gleichzeitiger privater Abschottung in eigenen Communities. Deswegen gab es in vielen Ecken Sachsens kaum private Kontakte zu Menschen mit Einwanderungsgeschichte.
Auch das partielle Versagen des Staates im Jahr 2015 war für eine positive Aufnahme der zu uns geflohenen Menschen nicht hilfreich. Was hilft, sind tagtägliche Begegnungen und das positive Erleben.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Nun, allen, die das ansprechen, sage ich ganz klar, dass es nicht „die Politik“ oder „die Politiker*innen“ gibt und dass jede und jeder sich politisch engagieren sollte, wenn Entscheidungen stören oder man etwas verändern möchte. Es fehlt die stetige Erzählung, dass die Mehrheit der Politiker*innen im Ehrenamt arbeiten. Dass es sogar Landesparlamente in Teilzeit gibt und schließlich, dass „diese Politiker*innen“ alle Menschen wie Du und ich sind.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der Besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ein wichtiger Punkt. Es sind viel zu wenig junge Menschen in fast allen Parteien (wenn man es insgesamt betrachtet) in Mandaten und Ämtern. Das muss sich ändern, denn unsere Jugend ist politisch. Deswegen lasst sie selbst gestalten, denn sie müssen ja mit der heute von uns allen für morgen gestalteten Zukunft leben. Ich denke, dass der ausgewogene Altersmix die besten Entscheidungen für alle hervorbringen kann. Hier ist hoffentlich klar geworden, dass es mir nicht darum geht, dass meine Generation für die Jugend deren Bedürfnisse stillt, sondern, dass die jungen Menschen es selbst in die Hand bekommen zu gestalten.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Für eine Demokratie ist eine aktive Zivilgesellschaft überlebenswichtig. Sie zeigt im positiven Sinne Missstände und Handlungsbedarfe auf, indem sie da einspringt, wo staatliches Handeln entweder an Grenzen stößt oder noch Zeit benötigt, selbst Handlungsoptionen zu entwickeln. Ein gutes Beispiel ist die Seenotrettung. Erst jetzt wird die Diskussion auch auf staatlicher Ebene laut, dass die Staaten selbst handeln müssen.
Wir müssen alle an uns arbeiten und laut werden, wenn wir Missstände entdecken. Ich versuche es im Rahmen meiner Möglichkeiten zu tun.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Sehr viel dazu habe ich schon in die Antworten der vorherigen Fragen gepackt. Politisch möchte ich noch anfügen – eine Partei, die demokratisch gewählt wurde, ist nicht zwangsläufig eine demokratische Partei. Mit diesem Thema müssen wir uns viel stärker auseinandersetzen. Auch damit, was eine Demokratie aushalten muss und was nicht.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ganz klar verbinde ich den Slogan mit den Ereignissen in Chemnitz. Dort hatte ich an dem Tag der zahlreichen Angriffe auf Geflüchtete und Protestierende allerdings nicht den Eindruck, dass der Slogan zutrifft. Ehrlicherweise würde ich das in Sachsen nur für Leipzig unterschreiben. Und es gab gerade aus dem Umland ja auch genau den Einwand, dass dieser an manchen Orten in Sachsen nicht zutrifft. Vielleicht ist es eine Arbeitsaufgabe, zu erreichen, dass der Slogan überall in Sachsen zutreffend ist.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Vor allem weiterkämpfen – für ein solidarisches, gerechtes Miteinander in Vielfalt. Klar haben wir gerade in Sachsen noch viel zu tun, aber Aufgeben gibt es nicht. Macht einfach alle mit beim Sachsen #umkrempeln!

Foto: Martin Neuhof

INTERVIEW MIT RON SCHÖNE

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin Ron Schöne, Leipziger Musiker im Privatleben und Fach-und Führungskräftetrainer in einem der größten deutschen Unternehmen.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Meine wirklich aktive Riot-Zeit war in den 90ern und 00er Jahren. Ich habe damals sehr aktiv mit dafür gesorgt, dass dieser Nazi Worch keinen Meter in Leipzig macht. Und wir haben es geschafft. Heute habe ich mein Engagement gegen Rechts auf andere Beine gestellt. Wo sich früher meine aktive Ablehnung gegen Rechts fast ausschließlich in Demonstrationen widerspiegelte, trage ich diese heute fast jeden Tag aktiv in mein Leben und in meine Arbeit. Leider fühle ich mich dazu gezwungen, da sich Teile der Gesellschaft langsam zu Menschenfeinden entwickeln, weil sie den Rattenfängern mit ihren angeblich einfachen Lösungen auf den Leim gehen.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Ich würde nicht behaupten, dass ich aktiv an der Politik beteiligt bin. Mein Einsatz im Kleinen durch aktive, nicht immer gern gesehene Nutzung meiner Meinungsfreiheit ist in meinem Verständnis meine demokratische, bürgerliche Pflicht.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich habe das Gefühl, dass sich die Politik in den letzten Jahrzehnten von seiner Grundlage für den Menschen da zu sein, entfernt hat. Wie man z. B. an den Reaktionen zum #rezovideo gesehen hat, ist die Politik der Gesellschaft gegenüber mittlerweile völlig entfremdet. Daher sollte Politik wieder von den Menschen gemacht werden, für die sie stehen sollte. Das klappt hier ganz gut. Viele meiner Musikerfreunde (z. B. ein großartiger Bassist, welcher später Landesvorstandssprecher der Grünen wurde… 😉 ) engagieren sich mittlerweile erfolgreich parteipolitisch und ich finde das toll.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Eines der schönen Beispiele sehe ich hier. Gesellschaftliches Engagement aus der bürgerlichen Mitte heraus hat m. E. mehr Erfolg Gehör zu finden, als dass es diverse Antirassismusprogramme der regierenden Parteien täten. Das liegt vor Allem daran, dass z. B. Ministerpräsidenten wie Sachsens Kretschmer ziemlich rechtsoffen agieren. Wenn einem christlichen Politiker aus Angst vor Machtverlust dauerhaft das rechte Auge zuschwillt, dann kann ich auch seiner Partei keinen Glauben mehr schenken. Ich kann und werde Person nicht von Partei trennen. Daher bin ich, und hoffentlich auch andere, empfänglicher für die ehrlichere Basis-und Gesellschaftspolitik.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe ist der demokratische Grundkonsens, den sich die vorangegangenen Generationen hart erarbeitet haben. Unsere Zukunft ist, diesen zu halten, auszubauen und aktiv mitzugestalten. Auch wenn sich derzeit wohl viele wieder eine teildiktatorische Führung wünschen: Das wird nicht passieren. Dafür wird der gute Teil der Bevölkerung sorgen. Da bin ich mir ganz sicher.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Alle Vorschläge zur Regulierung des Internets und der Meinungsfreiheit gehören schon mal nicht dazu. Allerdings muss man da differenzieren. Wenn Gesagtes Menschen verletzt und dieses Gesagte nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, weil es diskriminiert, beleidigt oder verleumdet, dann gehört das nach bestehenden Gesetzen geahndet. Und das passiert leider noch zu wenig. Daher gibt es auch keinen wirklichen Diskurs zwischen den politischen Lagern. Wie auch, wenn man einer kleinen Bevölkerungsgruppe einredet, sie seien das Volk, welches über alle Belange der Gesellschaft Deutungshoheit besitzt? Das kann man gerade ganz gut an Görlitz und der gelaufenen OBM-Wahl sehen. Die Enttäuschung, doch nicht die „neue“ Gesellschaft abzubilden, sieht man derzeit überall an den sog. AFD-Wählern. Da wird von Wahlbetrug gefaselt, ohne auch nur den kleinsten Gedanken daran zu verschwenden, dass es reale Demokratie ist, was dort passiert, und die Menschen eben nicht DAS „Volk“ sind.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das sind hohe Güter für mich, die es zu halten und zu verteidigen gilt. Das tue ich täglich im Privatleben, aber fast vielleicht mehr in meinem Berufsleben. Ich habe das Glück, bei einem Arbeitgeber zu sein, der sich Antirassismus, Gleichstellung und Inklusion sogar in die moralischen Richtlinien der Konzernführung geschrieben hat. Das äußert sich in diversen eigenständigen Antirassismus-Kampagnen, die jährliche Teilnahme am World Diversity Day, Coming-Out Hilfestellungen, um nur wenige zu nennen. Ich selbst bilde mittlerweile neben Führungskräften auch Operativkräfte aus. Diese bestehen mittlerweile zu fast 20% aus Neubürgern, die bei uns einen neuen Job gefunden haben. Wir machen weder in der Bezahlung noch in der Bewertung der Arbeitsleistung einen Unterschied zu hier geborenen Mitarbeitern. Ebenfalls sind bei uns rassistische und beleidigende Äußerungen per „Code of Conduct“ abmahnfähig. Immerhin sind wir derzeit in 220 Ländern vertreten. Da ist Rassismus absolut fehl am Platz. Zum Schutz der Menschenwürde eines meiner Teilnehmer aus Syrien musste ich leider bereits einen Kollegen meines Seminars verweisen. In fünf Jahren war dies allerdings das erste und einzige Mal. Andere Situationen konnten wir durch Gespräche miteinander klären. Dafür stelle ich auch gern mal den Fachinhalt meiner Seminare hinten an.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Kunst und Kultur waren in meiner Welt immer der notwendige Gegenpart zur Tages- und Gesamtpolitik. Es hat schon einen Grund, warum die AfD durch Aussetzen der Fördergelder die kulturellen Errungenschaften in Leipzig und sonstwo eindämmen will: Die haben Angst vor der Macht von meinungsbildenden Kulturschaffenden. Und das ist auch gut so.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Ich bin der Meinung, dass es nicht immer das Engagement im Großen sein muss. Auch nicht unbedingt die Teilnahme an Demonstrationen. Wenn jeder Mensch da draußen wieder anfängt, Unrecht auch als solches wahrzunehmen und sich dagegen zu stellen, dann ist schon viel getan. Nicht stillschweigend in der Tram sitzen, während die kopftuchtragende junge Mutter lautstark beleidigt wird. Gegenreden aufstellen, wenn der Mord an einem Politiker „gefeiert“ wird etc. Oder eben auch das aktive Nutzen von rechtsstaatlichen Mitteln, wenn ein freiwilliger Sprung in den Tod eines neuen Mitbürgers als einzige Alternative zu einer Abschiebung zu Begeisterungsstürmen in der LVZ-Kommentarspalte mündet. Die Entmenschlichung von Teilen der Bevölkerung macht mich unheimlich traurig, aber nicht untätig.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Ich möchte jetzt nicht pauschalisiert mit „Einfachheit, Unzufriedenheit oder Unwissenheit“ antworten, denn die Gefahr kommt nicht von denen, die sich keine Gedanken machen, was sie wählen, sondern von denen, die es ganz genau wissen. Die neue Rechte ist ein elitärer Kreis, die einen Weg gefunden hat, sich einen Schafspelz so anzuziehen, dass es dem Teil der unzufriedenen Bürger nicht auffällt. Der fiese Teil von mir wünscht sich eine Läuterung auf die harte Art: Sollen sie doch spüren, was es bedeutet bis 71 zu arbeiten, kein Hartz IV oder Rente zu bekommen und stattdessen zu staatlichen, unbezahlten Zwangsdiensten verdonnert zu werden. Keine Kranken-und Rentenversicherung zu besitzen, weil man sich den Kauf einer Anleihe oder den Aufbau eines eigenen Aktienpakets zur Sicherung der gesundheitlichen Grundversorgung nicht leisten kann. Der gute Teil von mir klärt aber auf und hofft auf Einsicht des Gegenübers. Auch wenn die ewige Gegenrede zu meinen Argumenten „aber die Ausländer …“ sehr anstrengend ist.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Sollte das passieren, dann sehe ich schwarz für die kulturelle, offene Kreativlandschaft im Land.
Auch die Zivilgesellschaft wird stark zu leiden haben. Viele Freiheiten, die wir jetzt besitzen, wird es nicht mehr geben. Allein die von Rechts gewünschte und forcierte Mehrklassengesellschaft wird sich schnell bemerkbar machen. Daher bleibt zu hoffen, dass sich die CDU an ihr Versprechen hält und nicht mit der Afd koaliert. Wie man aber derzeit an kleinen Kommunen im Norden Deutschlands sehen kann, biedert sich die CDU bereits der AfD an.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem man sich aktiv an der Meinungsbildung und -äußerung beteiligt. Indem man Flagge zeigt und sein eigenes Meinungsbild versucht zu multiplizieren. Wenn ich nur einen Rechtswähler durch meine Argumente wieder auf die gute Seite ziehen kann, dann ist schon etwas getan …

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Ich bin da ein Freund von Negativmotivation. Also das Darstellen von Auswirkungen des Nichtwählens. Ebenfalls bin ich ein Verfechter der flächendeckenden Briefwahl für alle. Ich vermute nämlich, dass viele aus Faulheit und nicht aus politischen Desinteresse nicht wählen gehen. Auch ich hab mich schon bei dem Gedanken erwischt, meinen Lazy Sunday genießen zu wollen und den Besuch einer stickigen Schule zu vermeiden. Seitdem bin ich Briefwähler.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Meines Erachtens nach sind das gar keine realen Tatsachen, sondern gefühlte Fakten. Ich selbst war zwar erst elf Jahre alt, als die Wende kam, habe aber schon sehr aktiv die Mangelwirtschaft und die politische Indoktrination mitbekommen. Auch ich bin dem anheim gefallen und war Fahnenträger der großen Thälmannfahne meiner POS. Dass sich die heutigen Rechtswähler diese Zeit nur mit anderen Fahnen wieder herbeiwünschen, kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich vermute, es ist eine zeitliche, romantische Verklärung der Vergangenheit. Sollte das Aufrechthalten des heutigen Wohlstandes der Gesellschaft z. B. durch fehlende, weil abgeschobene Arbeiter nicht mehr möglich sein, werden genau diese Leute auf die Barrikaden gehen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Die Angst, die die Rechtswähler antreibt, ist immer noch die Angst vor dem Unbekannten. Hier in Sachsen ist der Ausländeranteil der Bevölkerung so dermaßen gering, dass es kaum Berührungspunkte gibt. Ich bewege mich in meinem Job ca. 220 Tage p.a. durch ganz Deutschland. In den Regionen Deutschlands mit hohem Ausländeranteil sind die Menschen weniger ängstlich und viel offener gegenüber Neuem. Das wünsche ich mir auch für Sachsen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Aus meiner Beobachtung heraus würde ich sagen, dass sich die lautesten Rechtswähler gar nicht mit Politik im zielführenden Sinne beschäftigen. Es geht vorrangig ums Schimpfen und dem Darlegen des eigenen faschistoiden Meinungsbildes. Die Politik spielt da eine untergeordnete Rolle. Anders kann ich mir nicht erklären, dass selbst der derzeit sozial schwache Teil der Bevölkerung zu einem großen Teil AfD wählt oder wählen will. Jeder, der dieses unsägliche Wahlprogramm gelesen hat, sollte mitbekommen haben, dass die AfD keine Partei der „kleinen Leute“ ist. Ich würde die Behauptung aufstellen, dass 60% der AfD Wähler gar nicht wissen, welche Inhalte neben „keine Ausländer“ sie da wählen …

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Da ich mich hartnäckig weigere, mein Alter anzuerkennen, fühle ich mich da auch noch betroffen. Immerhin habe ich auch noch ein paar Jahrzehnte Zukunft, und wenn die negativen Veränderungen weiter mit derart Geschwindigkeit voranschreiten, dann betrifft es mich unmittelbar auch. Aber mal ehrlich, die Jugend ist die Zukunft und nicht weiße, alte Männer um die 70, welche in Kleinstgruppen durch Dresden und sonstwo spazieren gehen. „Fridays for Future“ hat Zukunft im Eigennamen. Pegida nicht. Es ist klar, was mehr Beachtung verdient.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ich bin froh, dass wir eine starke Zivilgesellschaft sind und es ist zu beobachten, dass nach dem ersten Schock wieder vermehrt die Zivilcourage auflebt. Und dort, wo Unrecht geschieht, sollte jeder seinen Mund aufmachen. Nur mangelt es eben bei manchen noch am Mut oder an der richtigen Einschätzung, was Unrecht überhaupt ist und wo es beginnt.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Die Demokratie ist immer dann gefährdet, wenn die Masse den Mund hält. Aus welchen Gründen auch immer. Demokratie lebt vom Diskurs über seinen Zweck sowie seinen Vor- und Nachteilen. Den Diskurs muss man auch manchmal ein wenig mit Nachdruck anstoßen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Die Aussage „Wir sind mehr!“ ist das „Wir sind das Volk“ der viel breiter aufgestellten Zivilgesellschaft gegenüber den paar Prozent Rechtswählern. Außerdem sind wir mittlerweile sowieso mehr als nur ein Volk. Und das ist gut so.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Das bedeutet, dass Flucht vor Rechts einer Kapitulation gleichkommt. Ich hab kurz nach der Europawahl viele Stimmen gehört, die von Auswandern und Abhauen aus Sachsen sprachen. Ich finde das falsch, kann den Drang und die dahinterstehende Angst aber auch gut nachvollziehen. Ich in meinem kleinen Gallien im Leipziger Süden habe es aber auch vergleichsweise einfacher, als z. B. ein Linker im Erzgebirge. Denen ist für „Wir bleiben hier!“ hoher Respekt zu zollen.

INTERVIEW MIT MIRA KÖRLIN

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Seit ca. 15 Jahren arbeite ich für die evangelisch-lutherische Kirche in Dresden: Pressearbeit, Broschüren, Internet, Projektmanagement, Beratung. Es ist eine sehr abwechslungsreiche Tätigkeit. Und auch nicht nur einfach ein Job. Ich wollte – seit ich sechzehn bin – für die Kirche arbeiten und etwas dafür tun, die aus meiner Sicht wichtige kirchliche Arbeit öffentlich wahrnehmbarer zu machen. Ich mag es zu texten, zu organisieren, trete gern in Austausch mit anderen Menschen. Das alles wäre nicht möglich ohne meine Familie. Gemeinsam wohnen wir am schönsten Ort, den ich mir vorstellen kann.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Mich überzeugt eine Einsicht Dietrich Bonhoeffers: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. … Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.“ Wo Kirche sich fürs Gemeinwesen einbringt, da möchte ich gern mittun. Zum Glück gibt es da viele Engagierte. Mit ihnen gemeinsam zu schauen, was da in Dresden auf unterschiedlichen Ebenen gehen könnte, macht mir Freude, schon seit vielen Jahren. 
Ansonsten ist es mir wichtig, freundlich auf andere zuzugehen, mir eine Offenheit zu bewahren und nicht von vornherein Schubladen zu bemühen. Meistens findet sich dann ein Draht.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Sich politisch betätigen heißt nicht unbedingt, parteipolitisch aktiv zu sein. Vereinsarbeit, Bürger- oder Stadtteilinitiativen, Engagement in Sport, Kultur oder Kirche – auf viele Weisen kann man etwas tun, um Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Zugleich finde ich es wichtig, sich auch mit Politik und ihren Verantwortungsträgern zu beschäftigen. Ich gehöre zur aussterbenden Spezies derer, die Zeitung lesen. Und bei der Küchenarbeit liebe ich es, ausführliche Sendungen im DLF zu hören, um manches besser zu verstehen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, dass die Evangelische Erwachsenenbildung und vergleichbare Träger viel dafür tun. Aber über diese Wege werden noch zu wenige Menschen erreicht. Die Schule unserer Kinder macht ebenfalls regelmäßige Veranstaltungen zu solchen Themen, darunter Podien mit Politikern. Wenn die Kids davon zu Hause erzählen, folgen auch in den Familien spannende Gespräche, die das Bewusstsein nochmals neu schärfen können.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Ich konzentriere mich auf einen Aspekt von vielen: Neben der „Friedlichen Revolution“ denke ich in diesem Jahr auch an „30 Jahre Ökumenische Versammlung“. Damals trafen sich in Magdeburg und Dresden Christen verschiedener Konfessionen, um einen gemeinsamen Lernweg zu den Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu beschreiten. Dieser Lernweg erhielt bald europäische Dimensionen. Die Themen fanden Eingang in verschiedene staats- und kirchenpolitische Dokumente, u. a. in die Verfassung des Freistaates Sachsen. Sie sind bis heute aktuell und werden noch immer oder wieder neu von ganz unterschiedlichen Initiativen bearbeitet. Dass dies vielfach und auch außerhalb der Kirchen erfolgreich geschieht, ist für mich ein zentraler Schritt für eine gute Zukunft aller.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Einen höflichen, respektvollen Umgang. Entschleunigung. Neben der Kommunikation im Netz mehr persönliche Gespräche. Meine Kinder haben schon in der Grundschule die Goldene Regel kennengelernt, die sich übrigens auch in der Bibel findet. Eigentlich ist das alles gar nicht so schwer, sollte man meinen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Die Freiheit kam m. E. mit der Friedlichen Revolution, obwohl ich schon als Kind vor 1989 kirchliche Räume und Angebote immer als besonders frei – d. h. ohne Zwang, vielseitig, ermutigend – empfunden habe. Die Freiheit, selbstbestimmt zu agieren und sich zu äußern, ist schon so selbstverständlich geworden. Dass dieses freiheitliche Leben hier im Vergleich mit den meisten Regionen der Erde ein Privileg ist, muss ich mir immer mal wieder bewusst machen. Ähnliches gilt vielleicht für die Gleichberechtigung. Ich empfinde meinen Alltag schon als gleichberechtigt. Für die Gesellschaft insgesamt ist aber wohl aber noch ein Stück Weg, bis jeder und jede gleichberechtigt teilhaben, mitgestalten und profitieren kann. Ich glaube aber, indem viel darüber gesprochen wird, eröffnen sich neue Perspektiven. Gleichberechtigung genauso wie die Menschenwürde und das Recht auf Leben lassen sich für mich als Christin wunderbar begründen mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Ich bin so frei, hier einen Satz aus dem Ersten Testament der Bibel zu zitieren: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. (1. Gen 27)

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Die AfD hat sich zum Teil zum Sprachrohr für Befürchtungen mancher Menschen gemacht: Die Angst, dass die Dinge sich verändern, dass man sie nicht in der Hand hat, dass da etwas über uns kommt. Die AfD propagiert, dass alles so bleiben kann bzw. wieder zurückgestellt wird auf – ja, worauf eigentlich? Fünfziger, sechziger Jahre Westdeutschland? Das Lebensgefühl von damals kann nun wirklich kein Modell für Gegenwart und Zukunft sein.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Atmosphärisch hat sich in den vergangenen Jahren bereits vieles verändert: Die Polarisierung und Erosion der Mitte, die verbalen wie tätlichen Angriffe, all die Tabubrüche. Das würde sich verstärken, die Grenzen würden sich weiter verschieben. Vielleicht trägt es auf Dauer aber auch zu einer Entzauberung dieser Partei bei. Zugleich glaube ich: All die Errungenschaften einer freiheitlichen Gesellschaft, die unstrittigen Fortschritte bei Gleichberechtigung und Wahrnehmung von Diversität würden sich die Menschen nicht einfach wegnehmen lassen. Es bliebe eine starke Gegenöffentlichkeit oder mindestens Inseln und Netzwerke, wo anders gedacht und gehandelt wird. Und akut bliebe die Frage, wie Brücken geschlagen werden könnten zwischen den Meinungslagern. Wie entsteht eine gemeinsame Vision, für die sich Menschen milieuunabhängig und auch unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit einsetzen würden?

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Angebote wahrnehmen, zuhören, selbst drüber sprechen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Gemeinsame Themen finden: niedrigschwellig, alltäglich, nachbarschaftlich. Zum Beispiel Gärtnern, Alltags- und Nachbarschaftshilfe, einander freundlich grüßen, einfach in Kontakt bleiben. Gegen die Polarisierung arbeiten.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Ich habe die Angst selbst auch manchmal. Ist doch normal, dass man Unbehagen spürt vor Dingen, die man nicht kennt. Zum Beispiel kulturelle Eigenarten. Aber es gibt auch Einheimische, bei denen ich ein unangenehmes Gefühl habe, denen ich aus dem Weg gehe. Zu verallgemeinern finde ich schwierig. Einzelbegegnungen helfen immer zu differenzieren.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Die Kluft besteht zweifelsohne. Aber in den meisten Fällen ist sie ungerechtfertigt. Bei den heutigen Möglichkeiten hierarchiefreier, digitaler Echtzeitkommunikation muss man noch nicht einmal ins Wahlkreisbüro gehen, um mit Politikern in Kontakt zu treten. In seinem Buch „Regieren“ beschreibt Thomas de Maizierè, dass Regierende (egal, ob Bürgermeister, Minister oder Ministerpräsidenten) tiefe Einblicke in die Gesellschaft gewinnen, weil sie bei ihrer Arbeit die unterschiedlichsten Milieus, Geschäftsfelder und gesellschaftlichen Bereiche kennenlernen. Im ersten Moment war mir das nicht ganz einsichtig, weil solche Termine ja auch perfekt vorbereitet werden und ein Protokoll eingehalten werden muss. Aber beim zweiten Nachdenken konnte ich dem doch zustimmen. Und all diese Gespräche fließen doch auch ein in die Sacharbeit öffentlicher Verwaltungen.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Mit Interesse für andere Menschen und Themen, die über das enge Private hinausgehen – vor Ort im Stadtteil oder Dorf genauso wie bundesweit oder global. Und: Indem wir wählen gehen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ich glaube, es ist ein Ausruf der Selbstvergewisserung. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob er stimmt. Und in gewisser Weise finde ich ihn auch ausgrenzend.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Damit kann ich viel anfangen. Darüber nachzudenken, was es für mich persönlich bedeutet, wenn eine autoritäre Partei in Regierungsverantwortung kommt, liegt in Anbetracht der Entwicklungen weltweit, in Europa und auch in Sachsen irgendwie auf der Hand. Zugleich ist es dann umso wichtiger, sich bewusst zu machen, wo die persönliche Verantwortung liegt: familiär, im Gestalten der Wirklichkeit, im Zusammenwirken mit anderen. Für mich ist das hier.

INTERVIEW MIT SÖREN PELLMANN

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin vor 42 Jahren in Leipzig geboren worden, hier zur Schule gegangen und habe an der Uni Leipzig Lehramt studiert. Leipzig ist seit langem mein Zuhause.
 
wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Seit meinem 14. Lebensjahr bin ich politisch aktiv, zunächst in der PDS, später in der Partei DIE LINKE. Seit 10 Jahren bin ich ehrenamtlicher Stadtrat in Leipzig für DIE LINKE und seit dem Herbst 2017 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Es ist gerade in Sachsen noch nie leicht gewesen. Drei Jahrzehnte CDU-Regierung strengen an. Partei am rechten Rand spielten hier immer wieder eine Rolle. Und dennoch ist es ein gutes Gefühl, auch wenn es manchmal nur die kleinen Erfolge sind, für die Menschen vor Ort etwas zu tun. Dabei Hilfeleistung und Unterstützung zu geben, manchmal auch nur der „Türöffner“ zu sein.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Politik gehört zur Demokratie zwingend dazu. Dabei ist es wichtig, sich vollumfänglich einen Überblick über aktuelle Themen zu verschaffen und sich dann dort einzubringen, wo das persönliche Wissen groß ist oder Menschen ein Interesse an Mitgestaltung haben. Entscheidend ist dabei nicht, ob das Engagement in einer Partei erfolgt oder über bürgerschaftliches Engagement. Es gibt viele Bürgerinitiativen und -bündnisse, die vor allem die Politik bereichern und mit neuen Ideen konfrontiert.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, diese Themen sind schon gut in der Öffentlichkeit präsent. Wichtig ist mir dabei, immer wieder aufzubegehren, wenn Hass und Falschinformationen einfließen. Insbesondere bewusste Falschinformationen zeichnen dieses Bild vor allem für die Öffentlichkeit. Hier hilft Reden und Aufklären.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Unser Erbe sind viele Erfahrungen und Erinnerungen. Aber auch zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen aus politisch schwierigen Zeiten sind Erbe und Verpflichtung. Auch in Zukunft gilt es, für demokratisches, offenes und soziales Zusammenleben einzutreten.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Dass Menschen mehr solidarisch zueinander sind. Das nicht Hass und Hetze den Umgang bestimmen, sondern Zuneigung, Solidarität und gegenseitige Achtung.  

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung? 

Die individuelle Entfaltungsmöglichkeit eines jeden Menschen, unabhängig von allen Faktoren (Herkunft, Sprache, Lebensart, usw.). Also die Wahrung und Achtung der Menschenrechte.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Ich könnte lange darauf antworten. Aber kurz: Sehr wichtig. Das sind die Grundbedingungen für ein soziales Zusammenleben.
 
wbh: In Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Der erste Schritt ist: Zur Wahl gehen und eine demokratische, meiner Meinung nach, linke Partei bzw. deren KandidatInnen wählen. Zweitens aber auch im Familien-, Freundes- und Kollegenkreis darüber sprechen. Auch was es bedeuten würde, wenn die Stimmung weiter nach rechts kippt.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Naja, in Leipzig hat die AfD glücklicherweise keinen guten Stand. Das liegt zum einen an ihren menschenverachtenden Inhalten, aber auch an ihren Parallelen zu rechtsextremen Gedanken. Aber meine Aufgabe ist es, die Ursachen anzugehen und dabei die eigene Haltung nicht aufzugeben. Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass dieser Schritt, dort sein Kreuz zu machen, falsch ist.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Ich glaube, das politische Klima würde sich weiter verschlechtern. Und wenn diese Leute die Möglichkeit hätten, ihre wenigen Inhalte umzusetzen, würde es in Sachsen mehr soziale Schiefstellungen geben, das Bildungssystem würde weiter abbauen und auch die Kunst- und Kulturfreiheit würden Schaden nehmen.  Das alles sind Gründe, diesen Trend aufzuhalten und umzukehren.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Durch persönliche Unterstützung, das können Mitarbeit, Solidarisieren oder auch finanzielle Hilfe sein.  

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Stimme entscheidet und wichtig ist, dann mobilisiert das auch. Zur letzten Bundestagswahl haben wir mit einer solchen Steigerung erreicht, dass DIE LINKE mit mir das erste Mal ein Direktmandat in Sachsen gewinnt.  

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Ihre Sorgen und Nöte ernst nehmen. Aber auch weiterhin für die Aufhebung dieser Ungleichbehandlungen, egal ob bei den Löhnen oder den Renten, zu kämpfen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Ich glaube nicht, dass es Angst ist. Ich unterscheide dabei immer noch zwischen Sorgen und Hass. Die Menschen, welche Sorgen haben, häufig auch aus Unkenntnis heraus, kann man überzeugen. Menschen, die den puren Hass zeigen, sind nicht zu überzeugen.  

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Zunächst ich bin Bürger und Politiker. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass man die Bodenhaftung und den Kontakt zu den Wählerinnen und Wählern nie verliert. Ich habe dabei ein gutes Gefühl und was ich an täglichen Rückäußerungen bekomme, bestätigt das auch.
 
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich glaube, man muss das eine tun und das andere nicht vergessen sollte. Wenn hören aber bedeutet, sich der Meinung dann einfach nur anzuschließen, ist das der falsche Weg. Es gibt auch hier kein wirkliches Gegeneinander.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Unbeschreiblich wichtig.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem klare Regeln der Diskussion und Wertschätzung, also des Miteinanders bestehen. Wer diese Regeln nicht einhält oder dagegen verstößt, muss mit Konsequenzen rechnen. Ich vertraue dabei aber auf eine demokratische Mehrheit.
 
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Zunächst eine tolle Veranstaltung. Wo ich viele Freunde und Gleichgesinnte getroffen habe, aber auch neue Kontakte knüpfen konnte. Es stärkt enorm das Miteinander.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Leipzig ist mein Geburtsort. Hier bin ich groß geworden, hier lebe ich, hier arbeite ich. Hier habe ich viele Freunde und meine Familie. Es gibt keinen besseren Ort. Und davon lasse ich mich auch nicht abbringen. Wir bleiben hier!

INTERVIEW MIT SASCHA KODYTEK

wbh: Möchten Sie unseren Leser*innen kurz von Ihrer Arbeit und Ihrem Leben erzählen.

Ich wurde in Zeitz geboren, wo ich in einen katholischen Kindergarten ging. Mit meinen Kindergärtnerinnen diskutierte ich darüber, dass Krokodile Steine fressen, um beim Jagen unter Wasser zu bleiben. Man wollte mir nicht glauben, aber es stimmt bis heute.

Diese Art, sich für einen als richtig erkannten Standpunkt einzusetzen, habe ich auch in Leipzig nicht aufgegeben, wo ich dann zur Grundschule ging und aufwuchs.

In Leipzig spielte ich mit Leidenschaft bei den Leipzig Lions American Football, war dort Defense Captain und in der Schule politsch aktiv in der Schülervertretung. Mit 18 Jahren bin ich bei den Eltern raus und nach Dresden gezogen, weil es dort die beste sächsische Football-Mannschaft gab. In Dresden habe ich Abi gemacht und Schülerproteste für eine Verstärkung der politischen Bildung in Sachsen mitorganisiert. Außerdem war ich in dem Bündnis „Dresden für Alle“ engagiert und stand auf einem der Transporter, der Hygieneartikel und Kinderspielzeug in die Geflüchtetenunterkunft nach Freital brachte. Nach meiner Station in Dresden ging ich nach Oslo zu meinem Vater und dann nach Paris, wo ich ein Jahr als Kinderbetreuung und Haushaltshilfe arbeitete. Schließlich bin ich in Halle gelandet, wo ich anfing Jura zu studieren.

Heute bin ich wieder in Leipzig, wo ich an verschiedenen Projekten arbeite.

An meinem Leben schätze ich die Kontraste. So habe ich beispielsweise unter der Woche als Werksstudent in der Lobbyabteilung der European Energy Exchange – die größte Engergiebörse Europas – gearbeitet und mir am Wochenende als Möbelpacker noch etwas dazu verdient. Zwei völlig unterschiedliche Berufswelten, aus denen ich jedoch viel lernen konnte.

In der Politik hören die Kontraste bei den Themen nicht auf. Einerseits habe ich mich für eine Fahrradgarage am Leipziger Hauptbahnhof eingesetzt, deren Bau jetzt auch vom Leipziger Stadtrat beschlossen wurde, andererseits organisierte ich Pulse of Europe-Demonstrationen und habe jetzt eine Kampagne gestartet, um die Regierungsbeteiligung der AfD zu verhindern.

Hinter all dem liegt ein Roter Faden: Ich bin fest davon überzeugt, dass man sich gerade machen muss, für die Dinge, die man richtig findet. Ganz egal, welches Thema das ist. Ob in der Freundschaft, beim Sport oder in der Politik. Nichts geschieht von allein und wer will, dass Gutes geschieht, muss anpacken.

wbh: Wo sind Sie aktiv, wofür engagieren Sie sich und treten sie ein?

Als Sprecher und Kopf hinter Zukunftsachsen.org setzte ich mich mit meinem Team dafür ein, dass die AfD hier in Sachsen nicht regiert und wir stattdessen durch taktisches Wählen eine stabile Regierung ohne AfD ermöglichen. Als politischer Arm des Radreviers mache ich mich für bessere Radinfrastruktur in Leipzig stark und in der Kreuzberger Kinderstiftung bin ich für Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland aktiv. Auf Facebook habe ich eine unregelmäßige Kolumne, wo ich über die großen und kleinen Fragen des Lebens und der Gesellschaft philosophiere. Dann und wann kommen andere Projekte und Themen dazu und andere gehen wieder. Mein Engagement ist also immer nur eine Momentaufnahme. Ich kralle mich selten an Themen fest.

Denn grundlegend interessiert mich die Frage, wie sich eine Gesellschaft und Wirtschaft gestalten lässt, die nicht nur die essenziellen, sondern auch ökologischen und psychologischen Bedürfnisse des Menschen erfüllt. Getreu dem Motto, dass der Mensch ein Einzelgänger ist, der doch nur in der Gruppe überleben kann, glaube ich, dass wir einen entsprechenden gesellschaftlichen Rahmen benötigen, um glücklich werden zu können und ein erfülltes, friedliches Leben zu leben. Die Gestaltung dieses Rahmens und wie er sich durch politische und wirtschaftliche Anstrengungen verwirklichen lässt, gehört zum Kern meines Engagments. Dazu gehören Fahrradwege ebenso wie Bildungschancen und eine gesunde politische Kultur.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Gut! In Sachsen sowie überall in Deutschland habe ich die Möglichkeit und Freiheit, zu sagen und zu organisieren, was ich für richtig halte. Das ist ein hohes Gut und es ist schön, in einer Gesellschaft zu leben, die grundsätzlich nicht auf Unterdrückung, sondern auf Dialog setzt. Das wäre in Russland, China oder Saudi-Arabien so nicht möglich.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Es gibt da einen schönen Spruch: „Es mag sein, dass Du dich nicht für Politik interessierst, aber Politik wird sich immer für jeden Bereich deines Lebens interessieren.“ – So ist es auch. Die Entscheidung, sich nicht für Politik zu interessieren oder nicht mitzugestalten, bedeutet nur, sich dafür zu entscheiden, sich treiben zu lassen. Unsere Gesellschaft ist immer in Bewegung. Die Frage ist bloß: Will man Teil dieser Bewegung sein oder nicht? Weil ich Ansprüche und Werte habe, ist es mir wichtig Teil der Bewegung zu sein und deshalb gestalte ich aktiv mit.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich bin überzeugt: Diese Themen sind bereits stark im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert. Wir leben immerhin in einer der liberalsten, friedlichsten und schlausten Gesellschaften, die es jemals auf der Erde gab.

Die Frage ist bloß, ob die Menschen neben Beruf, Familie und Privatleben Zeit haben, sich mit unserer komplexen Welt ausreichend auseinanderzusetzen. Ich glaube, daran hapert es noch. Viele Themen überfordern einfach. Weil die Dinge in der Realität anders sind, als sie auf den ersten Blick scheinen und es sehr einfach ist, Menschen in einer Sache, von der sie keinen Dunst haben, zu irritieren. Das geht von genmanipulierten Pflanzen über Windräder hin zu Videoüberwachung und Marktradikalismus.

Deshalb denke ich, dass wir das Repräsentanten-Prinzip unserer repräsentativen Demokratie für die politische Sacharbeit stärken sollten und gleichzeitig für lokale Fragen oder Grundsatzfragen moralischer Natur die direktdemokratischen Elemente ausbauen müssen. Sprich: Wir müssen alles dafür tun, dass „Die da oben“ einen Vor- und Nachnamen bekommen und „Die da unten“, ihre Verantwortung für die Entwicklung der Gesellschaft nicht einfach an andere Stelle abschieben können.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Wir haben eine Welt geschaffen, in der die absolute Armut, der Hunger, die Kindersterblichkeit, die Tode durch Krieg, drastisch zurückgegangen sind. Unsere westliche Welt ist aus mittelalterlicher Sicht das Paradies. Aber auch dieses Paradies hat seine Tücken. Ist es nachhaltig? Ist es offen für Jeden und Jede? Kann es zu einem globalen Paradies werden? Also: Kann sich der globale Lebensstandart an unseren angleichen, ohne dass wir unsere Ressourcen erschöpfen? Werden die Menschen mit zunehmendem Lebensstandart und abnehmenden Herausforderungen nur noch essen, trinken, arbeiten und sich amüsieren? Oder bleiben sie kreativ und aktiv? Die Antworten auf diese Fragen werden über unsere Zukunft entscheiden.

wbh: Was wünschen Sie sich für ein besseres menschliches Miteinander?

Miteinander bedeutet für mich nicht nur, dass zwei Seiten miteinander reden, sondern auch, dass sich zwei Seiten zuhören. Das fehlt mir zunehmend und das wünsche ich mir.

wbh: Was bedeuten für Sie Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das ist eine große Frage! Ich finde die Bedeutung dieser Begriffe in der Philosophie der Aufklärung.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sehr wichtig! Über Kunst und Kultur bilden wir als Menschen überhaupt erst unsere Werte und Moral. Und da heißt Kultur keinesfalls nur Goethe oder Camus, sondern auch Bierzelt und Drachenbootrennen. Alles, was wir Menschen an Traditionen sowie Interpretations- und Ausdrucksweisen für unsere Bedürfnisse und Wünsche geschaffen haben, macht unser Zusammenleben überhaupt erst möglich. Kultur ist der Leim, der uns Menschen zusammenhält.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Wenn wir die Regierungsbeteiligung der AfD sicher verhindern wollen, sollten wir taktisch wählen. Also Parteien wählen, die nach der Wahl auch eine stabile Regierung abseits der AfD bilden können. Laut Umfragewerten und den Ergebnissen der Europawahl sind das SPD, CDU und Grüne. Sie können nach der Wahl die Kenia-Koalition bilden. Wer eine dieser Parteien wählt, macht so eine stabile Regierung abseits der AfD möglich.

Und das ist wichtig. Denn nach der Wahl geht es um Mehrheiten, nicht um Mitgefühl. Jeder, der sich für eine anständige Welt einsetzt, sollte wählen gehen und sich überlegen, in dieser Situation Parteien zu wählen, die nach der Wahl auch eine Mehrheit bilden. Nur so können wir einen Rechtsruck im Parlament sicher verhindern.

wbh: Was sind Ihres Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Wenn ich das wüsste, würde ich alles daransetzen, die Gründe zu beheben, die dazu führen, dass Menschen einer Partei hinterherrennen, die auf Wissenschaft, Sachlichkeit und Anstand pfeift.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Die AfD ist eine hochgradig ideologische Partei. Und ich glaube, sie würde versuchen ihre Ideologien in jedem dieser Bereiche durchsetzen wollen.

Der Wert von Menschen würde z. B. stärker an ihren Wert für die Gesellschaft gekoppelt werden. Ein Handwerker ist mehr Wert als ein Arbeitsloser oder ein unausgebildeter Migrant. Kunst, Lehre und Kultur wären nicht mehr frei, sondern würden durch einen ideologischen Filter laufen. Ich glaube nicht, dass die AfD zensieren würde, aber sie würde klar in wertvolle und wertlose Kunst oder Lehre unterscheiden. So wie sie das schon jetzt in ihrem Wahlprogramm im Bereich Gender (Geschlechterunterschiede und -gemeinsamkeiten) macht.

Es gäbe wertvolle und wertlose Taditionen. Eine stärkere Einteilung in Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft.

Ich glaube auch, dass das viele Leute gar nicht stören würde. Solange man selbst zur Mehrheitsgesellschaft gehört und die Erwartungen erfüllt, die an einen gestellt werden, ist das Leben unter Parteien wie der AfD angenehm. Die Frage ist: Was sind das für Erwartungen? Wollen wir in so einer Gesellschaft leben? Kann eine so gleichgemacherische Gesellschaft kreativ und lebendig sein?

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem man hingeht, nachfragt, was sie brauchen, eigene Ideen mitbringt und sich einsetzt. Wer keine Zeit hat, aber etwas Spenden kann, sollte überlegen zu spenden.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Man muss den Leuten immer wieder sagen, dass dieses Land IHR Land ist. Und dass aus diesem Land nur etwas werden kann, wenn sie sich dafür einsetzen und interessieren.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Für einen jungen Menschen wie mich ist das eine komische Frage. Aus meiner Altersgruppe fühlt sich kaum noch einer wie ein „Ossi“. München gehört zu mir ebenso wie Dresden. Deshalb fällt es mir schwer, mich in diese Erfahrung hineinzuversetzen.

Was Gerechtigkeits-Fragen nach Rente, die Treuhand, Anerkennung der Berufsabschlüsse usw. angeht, denke ich, dass da nach der Wende viel schief gelaufen ist und man da nachbessern muss, was nicht schon nachgebessert worden ist. Und die Kapitalisten haben den Osten erstmal ganz schön aufgekauft. Mich würde mal interessieren, wie viel der Firmen und Gründstücke im Osten, auch im Besitz von Menschen sind, die hier leben und arbeiten.

Dennoch: Die Wende ist jetzt 30 Jahre her.

Ich frage mich manchmal, ob das nicht genug Zeit war, um sich in diesem neuen System einzurichten. Vielleicht haben viele Leute im Osten einfach gedacht, dass es nach der Wende so weitergeht wie davor, nur eben ohne Stasi und dafür mit BMW und LEVIS statt Trabi und Planwirtschaft.

wbh: Warum haben Ihres Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Neben dem allgemeinen Rassismus sehe ich den Hautgrund darin, dass unüberbrückbar scheinende kulturelle Unterschiede zu den MigrantInnen islamischen Glaubens gesehen werden. Dafür gibt es auch stichhaltige Gründe: Ein Großteil der Staaten, in denen der Islam Staatsreligion ist, steht auf dem globalen Demokratie-Index schlecht da. Schwule und Lesben leben dort bei weitem nicht so frei wie bei uns und die Gleichstellung der Frauen ist in vielen dieser Staaten nicht auf dem Stand des Westens. Es gibt eine schwächere bis fehlende Trennung von Staat und Religion, dazu kommen noch unterschiedliche Traditionen und Konzepte von Ehre, Ehe usw.

Der Schluss, dass diese kulturellen Eigenheiten jedoch auf alle Muslime automatisch übertragbar sind, ist aber pauschal und damit falsch.

wbh: Meinen Sie, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Diese Kluft gibt es und die Gründe dafür liegen auf beiden Seiten. PoliktikerInnen müssen besser erklären und BürgerInnen sollten mehr Interesse für die Arbeit ihrer RepräsentantInnen aufbringen. Außerdem braucht es ein System, dass beides möglicher und einfacher macht. So lässt sich die Kluft schließen.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie sehen Sie das?

Ob 70 oder 17, beide Altergruppen sind Teil unserer Gesellschaft. Da pauschal eine Bevölkerungsgruppe zu bevorzugen, halte ich für schwach. Stets muss gefragt werden: Worum geht es? Ist das Anliegen berechtigt? Ist es gut für die Gesellschaft, wenn wir den Bedürfnissen der einzelnen Gruppe entsprechen?

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Sehr wichtig! Eine Demokratie ist ohne gar nicht lebensfähig.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Mit Interesse, Engagement und Sachlichkeit.

wbh: Was verbinden Sie mit: Wir sind mehr!

Ein Konzert in Chemnitz, auf dem ich getanzt habe.

wbh: Was bedeutet für Sie: Wir bleiben hier!

Es bedeutet für mich, nicht aus politischen Gründen aus Sachsen wegzuziehen. Sondern hier zu bleiben, weil meine Zukunft in Sachsen liegt.

INTERVIEW MIT VIKTOR VINCZE

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen. Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Mein Name ist Viktor Vincze, ich bin in Ostungarn, im Vierländereck zu Tschecholowakei (heute Slowakei), Sowjetunion (heute Ukraine) und Rumänien geboren. Seit 2001 lebe ich in Dresden.
Hier habe ich selbst Diskriminierungserfahrungen erlebt und beobachtet. Andere ziehen sich dann zurück und finden sich damit ab. Ich habe mich von Anfang an für ein funktionierendes Miteinander engagiert. Als Tutor des Akademischen Auslandamtes und vom Studentenwerk, als Vertrauensstudent der Evangelischen Studentengemeinde, als Referent für Ausländische Studierende an der Technischen Universität Dresden organisierte ich Veranstaltungen, Aktivitäten, Möglichkeiten des gegenseitigen Kennenlernens.
Für mich ist engagiert und aktiv zu sein selbstverständlich. In einer funktionierenden Demokratie und Gesellschaft soll jeder seinen Beitrag leiten. Seit 2009 bin ich im Vorstand vom Ausländerat Dresden e.V. und seit 2014 gewähltes Mitglied im Integrations- uns Ausländerrat der Landeshauptstadt Dresden. Von 2011 bis 2015 habe ich als Flüchtlingsbetreuer gearbeitet, schließlich war ich von 2015 bis 2019 der Persönliche Referent des Sächsischen Ausländerbeauftragten. Mein Motto ist: Gib jedem eine faire Chance!

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Da ist hohe Frusttoleranz erforderlich. In einer Demokratie müssen wir ständig für Mehrheiten ringen. Diskussion und Dirkurs sind der Normalzustand. Aktiv mitgestalten fängt immer nur im Kleinen an. Diese Erfolge sind oft klein, sind diese winzigen Schritte, aber in der Gesamtsumme wichtig. Rückschläge sind häufig, Aufgeben ist aber keine Option.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Die funktionierende Demokratie braucht mündige Bürger, die mit Verantwortung Entscheidungen treffen und das nicht nur am Wahltag mit einem Kreuz tun. Entscheide nicht nach bunten Werbeflyern, sondern informiere dich gründlich! Tritt in eine Partei ein oder gründe halt eine neue Wählergruppe. Keiner kennt deine Lebessituation, die Probleme deines Kiezs besser als du. Kein Politiker wird intensiver für deine Rechte und deine Leute eintreten als DU selbst!

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Demokratie ist wie die Luft – man merkt es nur dann, wenn es fehlt. Das macht viele Bürger träge. Die größte Gefahr für die Demokratie sind nicht zwingend die Nazis oder sonstige Extremisten, sondern die Gleichgültigkeit. Warte nicht, dass es ein anderer macht, klag nicht, dass es niemand tut, sondern pack es selbst an!

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe ist die Verantwortung aus der Geschichte. Gegen Rassismus, Totalitarismus, Sekularität und eine besondere Verantwortung gegenüber Israel und dem jüdischen Volk. Die Kristallkugel, um die Zukunft zu kennen, habe ich nicht. Wenn wir aber jetzt, hier und heute nicht aktiv werden, kann es ziemlich düster werden. Also leg mit los!

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Ich träume von einer Gesellschaft, wo nicht die Hautfarbe, Herkunft, sexuelle Orientierung oder Religion, sondern der Mensch zählt. Wenn wir es erreichen können, haben wir alle gewonnen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Ich bin in einem totalitären Staat geboren und bis zur Wende aufgewachsen. Als Kind spürte ich, dass etwas nicht stimmt, egal wie umfassend und intensiv die Propagandamaschine arbeitete. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Schutz der Menschenwürde sind Werte, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Ein großer Fehler der Politik vergangener Jahre war, dass die Akteure besonders im ländlichen Raum ausgeblutet wurden. Die Folge ist eine Generation, die schwer für unsere Demokratie zu begeistern und anfällig für populistische Argumente sind. Eine verantwortungsvolle Politik fängt schon bei der Jugendarbeit an, flankiert durch gute Kultur- und Medienarbeit. Alles andere wird später sehr teuer für die Gesellschaft.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Mit Gewalt und Agression wird dieser Rechtsruck nicht gestoppt. Ganz im Gegenteil, der Kampf gegen Rechts hat ein schlechtes Image. Das Bild vom Steine werfenden und brüllenden Linken schreckt die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ ab. Sie ist aber notwendig als demokratische Basis. Sie müssen mitgenommen und gestärkt werden. Je mehr sie schwindet, umso stärker wird der rechte Rand.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Die Antwort ist sicherlich nicht einfach, da spielen sicherlich sehr viele Faktoren eine Rolle. Frust und gefühlte Arroganz der jeweiligen Landesregierungen, die ihre Entscheidungen nicht transparent und nachvollziehbar darlegen, gepaart mit dem Unvermögen der Politiker in Brüssel und Berlin, gestärkt durch die besagte fehlende politische Bildung. Zumal der ländliche Raum allzu lange vernachlässigt wurde, Infrastruktur kaputtgespart. Diese Unzufriedenheit wird durch die Wahlen nach Potsdam und Dresden getragen.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Das wäre ein Regierungsauftrag für die AfD. Eine Koalition der Wahlverlierer mit drei oder vier Partnern, die bei der Wahl deutlich Federn gelassen haben, nur mit dem einzigen gemeinsamen Nenner, die Regierung des Wahlsiegers zu verhindern, wäre genau das „Konjunkturpaket“ und die Bühne, die die AfD braucht. Die Mitte braucht starke Wahlergebnisse.
Das Problem in Sachsen ist, dass das sogenannte „linke Lager“ immer um die gleiche Zielgruppe kämpft, die im Freistaat um die 30 – 40 % der Bürger ausmachen, die wählen gehen. In Sachsen brauchen wir eine starke, aber moderne CDU. Ich bin da beigetreten, um die Partei und damit Sachsen mitzugestalten.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Mitmachen und mitgestalten. Davon lebt Demokratie. Punkt.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Daran sind schon viel klügere Köpfe gescheitert. Man muss die Leute mitnehmen, die man kennt und erreichen kann. Sprich mit dem Nachbar, mit dem Verkäufer, Menschen in der Kneipe, im Geschäft und und und. Demokratie braucht Alltagshelden. Dennoch sind Politiker, die menschlich und fachlich begeistern, ebenso ein elementarer Grundstein.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Nicht jeden kann man für die Demokratie zurückholen. Wir müssen es aber versuchen, soviele wie möglich für eine gelebte Demokratie zu begeistern. Gegen Bauchgefühl, individuelles Sicherheitsempfinden kommt man mit Zahlen und Statistiken leider nicht an. Parteien wie die AfD profitieren stark davon. Eins ist sicher: Angriffe auf Mandatsträger, Abgeordnetenbüros, Fahrzeuge usw. macht die rechten Parteien noch stärker. Diese Menschen erreicht man nur dann, wenn man schonungslos und tabulos auch die Fehler der Politik benennt und tragbare Konzepte für die Lösung präsentieren kann.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Die Frage ist, welche Erfahrungen man selber macht oder machen kann. Wenn man die „Ausländer“ nur von den Medien als messerstechende, dealende Kriminelle oder Terroristen kennt, eventuell selbst oder jemand im engen Familien- oder Freundeskreis negative Erfahrungen mit solchen Straftätern gemacht hat, dann wird schnell ein Weltbild gefestigt, wogegen sämtliche Landesprogramme gegen Rechts nicht mehr ankommen. Wir brauchen Räume der Begegnung, Anlässe positiven Kennenlernens. Es muss aber auch ein Wille und echtes Interesse der Gesellschaft da sein, sich dieser Angebote anzunehmen.

Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ich habe im Landtag Politiker erlebt, die denken, sie wären eine andere „Gehaltsklasse“ als die Bürger. Zweitklassige Glücksritter aus dem Westen, die eine tiefe Verachtung gegenüber den „Ossis“ pflegen oder sie zumindest für unfähig und minderwertig halten und wie Elephanten im Porzellanladen hier im Land rumtrampelten.
Abgeordnete sind keine Götter oder keine kleine Könige, sondern Diener des Landes aus der Gunst der Wähler. Diese Demut muss bei jeder Entscheidung spürbar sein. Positiver Effekt ist nun, dass es viele erkannt haben. Ich wünsche mir auf jeden Fall einen neuen Politikstil, der transparent, ideologiefrei und lösungsorientiert über Parteiengrenzen hinweg im Interesse des Landes agiert.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

In einer Demokratie sollen die Bedürfnisse möglichst aller Interessengruppen angemessen vertreten werden. Jedem muss ein Angebote gemacht werden, nicht nur denen, die am lautesten brüllen.
Genau diejenigen, die heute schweigen, braucht die Gesellschaft.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Bildlich gesagt, unser Grundgesetz gibt den Rahmen vor, die Zivilgesellschaft füllt die Räume mit Leben und Courage ist der Kitt, wenn die Mauer Risse bekommt.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Mit einer aktiven Gesellschaft, die unsere Werte schätzt und sie engagiert verteidigt.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Die Hoffnung auf eine funktionierende Demokratie, in der die Mehrheit für die Werte unseres Grunsgesetztes eintritt.
Als Ausländerbeiratsvorsitzender nahm ich stets an den Gegendemonstrationen zu PEGIDA teil. Wir waren vielleicht durchschnittlich um die Hundert Menschen, vor uns spazierten Tausende „Partrioten des Abendlandes“. Es war aber immer ein Gefühl da, dass wir mehr sind.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Dass jeder eine faire Chance bekommt, mitzugestalten.

INTERVIEW MIT ANNA KALERI

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin von Beruf Autorin, aber seit den fremdenfeindlichen Vorfällen von 2015/16 hab ich nicht mehr die innere Ruhe, die es für Literatur braucht. Zunächst habe ich die Initiative „Literatur statt Brandsätze“ ins Leben gerufen, dann mit anderen Kulturschaffenden den Verein „Lauter Leise e.V. Kunst und Demokratie in Sachsen“ gegründet. Wir machen ehrenamtlich rund 30 Veranstaltungen im Jahr an der Nahtstelle zwischen demokratischer und kultureller Bildung. Es geht um Empathie, Weltoffenheit und eine vielschichtige Wahrnehmung. Dazu kommt: Demos mitorganisieren, in Netzwerken arbeiten, PR für gute Sachen unterstützen, ganz viel reden, organisieren, verknüpfen.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Mich aktiv einzubringen, ist so eine Art Flucht nach vorn. Und es ist tröstlich, dass sich doch etliche Menschen engagieren. Es bräuchte von allem mehr, mehr Aktive, mehr Unterstützung, mehr Vernetzung, mehr Ruhe für Strategie.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Es kann jeder Mensch tun und lassen, was er will. Aber Demokratie funktioniert eben nicht, indem wir Bedürfnisse und unausgesprochene Wünsche auf die „da oben“ projizieren. Wir müssen schon selber wissen, was wir genau wollen, und uns dann an die gewählten Vertreter*innen wenden. Aber vieles können wir auch selbst bewirken, besonders auf lokaler Ebene.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Da nur wenig Zeit bleibt – auf die Straße gehen und demonstrieren. Hunderttausende kommen nur dann zusammen, wenn jede*r Einzelne es für wichtig hält, Gesicht zu zeigen. Wir müssen physisch mehr sein, um zu zeigen, dass rechte Einstellungen in Sachsen weder konsens- noch mehrheitsfähig sind.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Zwischen dem erschreckenden Ergebnis zur Bundestagswahl 2017 und den Wahlen im Mai 2019 hat sich in Sachsen nichts Wesentliches geändert. Vor allem hat von Regierungsseite gefehlt, konstant ganz klare Kante gegen Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu zeigen.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Es würde noch mehr Willkür, Selbstjustiz und Gewalt herrschen. Eine pluralistische Kultur würde sehr zu kämpfen haben. Vereine, die kulturelle und demokratische Bildung machen und es jetzt schon schwer haben, könnten ganz einpacken. Ausländer würden massenhaft abgeschoben. Es wären düstere Jahre für Menschen, denen Humanismus und Aufklärung ein hohes Gut sind. Ich mag mir das nicht näher ausmalen.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Mitmachen und spenden, zusammenhalten.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Jeder, der seine Stimme verschenkt, verschenkt seine Möglichkeit der Mitwirkung. Mich erschreckt mitunter die apolitische Haltung mancher Menschen, auch aus dem Kunst- und Kulturbereich. Sie würde eine blau-schwarze Politik schwer treffen. Vielleicht sollten wir in unserem Freundes- und Bekanntenkreis fürs Wählen werben und gerade in der Sommer- und Ferienzeit auf die Briefwahl hinweisen. Von Seiten der Parteien braucht es eine klare Unterscheidbarkeit der Parteiprofile. Wähler*innen müssen ohne Umschweife erkennen, wofür eine Partei im Kern steht.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Wir haben uns nach dem riesigen Einschnitt, den die Wende für viele ganz persönlich bedeutete, aufgerappelt. Es geht uns gut wie nie. Wir haben ein institutionelles soziales Netz. Die Arbeitslosigkeit ist stark zurückgegangen, überall werden Mitarbeiter*innen gesucht. Wir haben in Sachsen einen verschwindend kleinen Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte. Natürlich sind durch sie zu den bestehenden Herausforderungen noch einige hinzugekommen, aber niemandem wurde oder wird etwas weggenommen. Wir müssen die Probleme nach Art der Probleme gebündelt betrachten: Wenn Wohnungen für alle bezahlbar sind, gibt es weniger Neid und Druck. Wenn Schulklassen kleiner sind, kann jedes Kind individueller gefördert werden. Und so weiter. Wir leben aber auch in einer krass kapitalistischen Zeit, zwar in Watte gepackt, aber die Nebenwirkungen sind Stress und Druck und Mangel an Zusammenhalt. Sich umeinander kümmern und konstruktiver Gemeinschaftssinn sind wichtig.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Menschen haben oft Angst vor dem, was sie nicht kennen. Das sind wahrscheinlich Reflexe aus der Steinzeit. Menschen näher kennenzulernen, die eine andere Hautfarbe haben oder einer anderen Religion angehören, dazu braucht es Gelegenheit, zum Beispiel eine themenzentrierte Interaktion. Dann braucht es nicht lange und man sieht nicht mehr die schwarze Haut, sondern die Augen und durch sie den ganz individuellen Menschen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Ich würde mich als Politikerin immer auch als Bürgerin fühlen. Und ich kenne Berufspolitiker*innen, die wirklich hinterher sind, wenn Anliegen an sie herangetragen werden. Die Leidenschaft, unser Land konstruktiv zu gestalten und mit den richtigen Mitteln und viel Austausch zu guten Lösungen zu kommen, sollte das sein, was Politiker*innen antreibt.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Jeder Mensch hat ein Recht auf seine Bedürfnisse. Es ist nur die Frage, wer für die Erfüllung zuständig ist. Ironisch zugespitzt: Wenn jemand über 50 mit Bierbauch nach Scheidung allein dasteht, dann ist daran weder Frau Merkel Schuld, noch kann sie helfen. Wenn aber jemand die Kosten für einen Abwasseranschluss nicht tragen kann, dann gibt es in unserem sozialen und demokratischen Rechtsstaat Möglichkeiten. Das ist nur eben nicht so einfach wie montags in Dresden rumzugrölen, sondern ein Weg, der viel Geduld und Kommunikation braucht. Jugendliche sind an manchen Punkten schon weiter, was Ansprüche einfordern, Diskussionskultur und Selbstorganisation angeht, aber da scheint es ein Stadt-Land-Gefälle zu geben.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Vielen Menschen sitzt noch die Erfahrung der totalitären DDR-Zeit im Nacken, die Angst, offen zu sagen, was man denkt. In den 30 Jahren seit der Wende ist das zwar etwas besser geworden, aber autoritäre Strukturen wurden in Sachsen weiter gelebt, Diskussionen abgewürgt, Konflikte unter den Teppich gekehrt oder Sachen schön geredet, die offensichtlich nicht gut funktionieren. Hilfreich waren meiner Meinung nach Impulse von Menschen, die von westwärts zu uns kamen und für die es selbstverständlicher war, zu sagen, was sie denken und wollen. Im Osten haben wir einmal unsern ganzen Mut zusammen genommen, in der Wendezeit, diesen Mut sollten wir in den Alltag nehmen und in die Institutionen und ganz klar sagen, wenn etwas überhaupt nicht geht. Zum Beispiel Lügen, Hetze, Verschwörungsideologien, Rassismus, Gewalt.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Die kleinste Zelle der Demokratie ist das Gespräch zwischen zwei Menschen. Keine Angst vor Konflikten, Dissens aushalten, keine Kompromisse suchen, sondern Lösungen. Das heißt, dem Miteinanderreden viel mehr Platz einräumen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Dass es an manchen Orten einfach nicht stimmt. An manchen Orten haben wir längst eine rechte Hegemonie. Ich ziehe den Hut vor Menschen, die sich dort mit einer weltoffenen Haltung zeigen und weitermachen und versuchen, zu retten, was zu retten ist und Umstimmungsprozesse zu initiieren. Das braucht einen unerschütterlichen Glauben an das Menschliche im Menschen.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Mit diesem Interview werde ich zu diesem Bekenntnis gebracht. Ich habe jetzt mehrere Jahre quasi Tag und Nacht für dieses Sachsen, das ich liebe, gekämpft. Wenn aber die Freiheit der Kunst noch weiter eingeschränkt würde, wenn noch mehr Menschen mit Migrationsgeschichte nachts aus ihren Betten gezerrt und mit dem Flugzeug in ihr Verderben geschickt werden, wenn totalitäre Anwandlungen weiter zunehmen, dann ist das kein Sachsen mehr, in dem sich Menschen frei und glücklich entfalten.