INTERVIEW MIT SEBASTIAN BUSSE

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich habe erst Mathematik und Informatik studiert, später dann Kunstpädagogik. Gearbeitet habe ich in der Zeit quer durch alle Branchen, in der Gastronomie, im Baugewerbe, für Anwälte, in der Kinderbetreuung, als Nachhilfelehrer, für SOS-Kinderdörfer und auch bei AGM durfte ich schon wertvolle Erfahrungen sammeln. Momentan versuche ich, ein Permakulturprojekt auf die Beine zu stellen und finanziere das mit zwei Jobs in den Leipziger Universitätskliniken.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Wirklich aktiv bin ich eigentlich nur in meinem direkten Umfeld, weniger im öffentlichen Raum. Am meisten beschäftigt mich dabei die Frage des guten Umgangs miteinander, speziell wie wir es schaffen können, uns ehrlich, offen und wertschätzend zu begegnen. Dazu gehört viel Selbstkritik, aber auch eine gewisse Achtsamkeit gegenüber verschiedenen Narrativen und Stigmata unserer Gesellschaft. Vor allem unsere Fehlerkultur macht es schwierig, schädliche Muster hinter uns zu lassen und uns Raum für persönlichen Wachstum zu geben. Auf Facebook kann man sehr gut beobachten, wie viele Beiträge eigentlich nur der Selbstwerterhöhung oder als Ventil für Gefühle dienen, aber auch im Alltag ist das nicht wirklich anders. Wer sich aber mit den eigenen Gefühlen und den dahinter stehenden Bedürfnissen nicht auseinandersetzen kann, ist sehr anfällig gegenüber Manipulationen. Eine kritische Haltung reicht in einer Zeit, in der man jede wirkliche Meinung, zumindest dem Anschein nach, mit Artikeln und Studien belegen kann, leider nicht aus.
Ich wünsche mir eine Zukunft, in der sich jeder Mensch frei entfalten und sein Glück finden kann, das heißt eine Zukunft ohne Krieg, ohne Unterdrückung und ohne existenzielle Abhängigkeiten.
Bis auf die Bereitschaft, alle gemeinsam daran zu arbeiten, haben wir eigentlich alles, was wir dafür bräuchten.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Es kann frustrierend sein, vor allem, wenn der eigene Idealismus an ganz banalen Mechanismen scheitert. Auch beängstigend, wenn man sieht, was heutzutage alles in politischen Programmen steht, wofür sich Leute einsetzen. Was mich besonders traurig stimmt, ist das mit dem starken Fokus auf neurechte Strömungen und der Angst vor einer von jenen stärker bestimmten Politik oft ausgeblendet wird, wo wir eigentlich im Moment stehen und die letzten Jahrzehnte gestanden haben. Umso schöner sind jene Momente, in denen man die Menschen trifft, denen man sich in seinen Zielen verbunden fühlt. Die Wahrnehmung dahingehend ist leider, wie an so vielen Stellen, stark zum Negativen hin verschoben. Das mag viele Gründe haben, zum einen sind diese Menschen in der Regel leiser, es gibt weit mehr Lobby für Hass und Zwiespalt als für Liebe und auch ist der Mensch an sich natürlich so ausgelegt, sich eher auf Probleme zu fokussieren. Da irgendwie einen Mittelweg zu finden, sich einerseits nicht von all dem Negativen kaputt machen zu lassen, sich aber auch nicht in seiner Heile-Welt-Wohlfühl-Bubble von der Realität zu entfernen, ist eine große Herausforderung.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ob du dich mit Politik beschäftigst oder nicht, die Politik beschäftigt sich in jedem Fall mit dir. Der Gang zur Wahlurne taugt dabei gerade einmal zur Verhinderung des größten Übels. Es sollten sich viel mehr Menschen selber aktiv in den verschiedenen Parteien engagieren und vor allem lauter und bestimmter an vielen Stellen sagen: So geht das nicht!
Die eigene Medienkompetenz ist da ein sehr zentrales Thema. Alles, was du hörst oder liest, ist einmal durch deinen Kopf und hat dabei seine Spuren hinterlassen, ob du willst oder nicht. Je vielseitiger dabei der Input, desto mehr erkennt man, wie stark gesellschaftlicher Konsens geformt wird und eben nicht von den klugen Köpfen unserer Zeit getragen wird. Ich weiß nicht, inwiefern das als Empfehlung für andere taugt, aber ich persönlich stöbere auch viel in rechten Netzwerken, bei Verschwörungstheoretikern oder in Veröffentlichungen des ICFI oder bei Al Jazeera. Dass dann ein Herr Maaßen das in meinen Augen konservativste, NATO-konformste Medium als „Westfernsehen“ betitelt ist unglaublich perfide.
Jeder muss seinen eigenen Weg finden, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen, aber raushalten sollte sich niemand. Wir brauchen breitere Bündnisse zwischen den Menschen, die den Blick nach vorne richten, denn darin sind uns autoritär gesinnte Menschen traditionell zwei Schritte voraus, was sicherlich auch daran liegt, dass progressive Kräfte immer stärker ausdifferenziert sind und viele verschiedene Ansätze haben.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Politische Themen sind teilweise mit starken Tabus behaftet, viele glauben noch daran, dass sie zum Beispiel im Smalltalk oder auf der Arbeit nichts zu suchen haben. Dabei ist unser Zusammenleben so ein zentrales Thema für jeden von uns, dass wir dem definitiv mehr Raum geben müssen. Wenn es dann doch mal Thema wird, sind die Diskussionen emotional viel zu überladen, wenig konstruktiv und voll von Vorwürfen in alle möglichen Richtungen. Wir reden gerne über unsere Werte, ohne uns unsere eigenen Ambivalenzen ins Bewusstsein zu holen. Darum halte ich es für wichtig, dass jeder bei sich selbst beginnt, sich regelmäßig hinterfragt, inwiefern das eigene Handeln mit diesen Werten vereinbar ist und den Mut und die Kraft aufbringt, sich selber zu ändern. Wie in der Erziehung bringen Worte nichts, wenn das eigene Beispiel im Gegensatz dazu steht. Sich selbst für andere auch mal zurücknehmen, offen mit den eigenen Fehlern umgehen, anderen Fehlern zugestehen und die Andersartigkeit der anderen als Bereicherung anstatt als Bedrohung zu erkennen sind wichtige Schritte auf dem Weg in eine bessere Zukunft.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Alles Leid, das sich die Menschen in den vergangen Jahrtausenden angetan haben, ist heute noch spürbar, hat viele Narben hinterlassen und viele Konflikte stehen heute noch im Raum. Dennoch glaube ich fest daran, dass vor uns eine rosige Zukunft liegt. Die einzige Frage, die sich meiner Meinung nach stellt, ist, ob es noch hundert oder tausend Jahre dauert, wie viele schreckliche Kriege wir noch führen müssen, bis wir es wirklich alle begriffen haben. Diese Gewissheit nehme ich zum einen aus Naturbeobachtungen, denn hier sieht man, dass auf lange Sicht der Kooperationsgedanke weitaus stärker ist als jedes Konkurrenzprinzip. Zum anderen sehe ich, dass sich immer mehr Menschen mit Themen wie zum Beispiel Achtsamkeit beschäftigen. Informationelle Grenzen verschwinden zusehends, wenn in Hong Kong, Mali oder im Sudan die Menschen auf die Straße gehen, kann man heutzutage recht genau verfolgen, was da passiert. Es wird von Jahr zu Jahr deutlicher: Wir sind alle Menschen und gleichen uns, bei aller Individualität, am Ende doch so sehr in unseren Bedürfnissen, Ängsten und Hoffnungen, dass wir ein gemeinsames Projekt Menschheit angehen können. Da kann man jeden fragen, der mal auf der ISS stationiert war, nicht nur die Menschen sind eins, auch die Erde und die Natur sind ein Teil von uns und verdienen unsere Empathie und unseren Respekt, unsere Rücksichtnahme und unser Wohlwollen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Gewalt nicht nur im physischen Sinne zu begreifen, sondern auch unsere Sprache und die von uns geschaffenen Strukturen dahingehend zu prüfen, ist nicht nur für diejenigen ein Gewinn, die wir durch unser Erkennen davon frei machen können. Es ist vor allem die eigene Lebensqualität, die wir durch einen achtsameren Umgang mit anderen Menschen in Höhen heben, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Zu erkennen, was Liebe ist, wo sie ist und wie wir sie für uns alle erfahrbar machen, würde alle anderen Probleme dieser Welt lösen, davon bin ich fest überzeugt.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Wirklich frei sind wir nur, wenn wir die Konsequenzen unseres Handelns verstehen und akzeptieren können. Die einzige Freiheit, die uns keiner nehmen kann, ist die Freiheit der inneren Haltung, zugleich ist dies auch die wichtigste. Diese Haltung zu kultivieren und wirklich aus sich selbst heraus Standpunkte zu beziehen, anstatt sich von anderen Instrumentalisieren zu lassen, ist gleichzeitig Voraussetzung für den würdevollen Umgang miteinander und wer stark ist in dieser Haltung, den kann niemand in seiner Würde berauben.
Was Gleichberechtigung bedeutet, erkennt man nur dort, wo sie fehlt. Für die eigenen Privilegien ist man in der Regel nicht sensibilisiert und viele schustern sich nur allzu gerne ein Weltbild zurecht, in dem sie ihre Leistungen und Errungenschaften, sprachlich ja schon sehr bezeichnend, ausschließlich ihren eigenen Kompetenzen zu verdanken haben. Ich will diesen Menschen natürlich nicht aberkennen, dass sie selbst vielleicht auch viel dafür getan haben und kann es den meisten, denen es besser geht als mir, auch durchaus gönnen. Unser gemeinsamer Blick sollte sich zu allererst auf die „Schwächsten“ und jenen, denen es am Schlechtesten geht, richten, und dazu gehören wohl die wenigsten von uns.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Ich beginne mal mit der Medienkompetenz, darauf bin ich ja bereits ein wenig eingegangen. Wer sagt was mit welchen Zielen, und vor allem: Welche Vokabeln werden benutzt. Was wird nicht gesagt, wen lässt man zu Wort kommen, wen nicht. Passen die Bilder zum Text, welcher Deutungsrahmen wird aufgespannt. Sehr sehr sehr sehr wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Und gruselig.
Bildung ist ein unheimlich schwieriges Thema, denn auch hier ist der sich bilden Wollende immer auch Objekt fremder Interessen. Die wichtigsten Themen, für die sich meiner Meinung nach jeder Mensch interessieren sollte und die auch eine direkte Auswirkung auf die Lebensqualität und die Qualität des menschlichen Miteinanders haben, liegen im psychologischen, emotionalen und kommunikativen Bereich. Leider muss man sagen, dass die allermeisten Menschen dahingehend kaum verständiger sind als Kinder. Jeder reife, gebildete Mensch sollte in der Lage sein, andere Menschen psychologisch zu unterstützen, das ist für mich so elementar wie Lesen und Schreiben. Natürlich gibt es Situationen, für die ein Profi die bessere Wahl ist, aber viele Ansätze und Techniken sind nicht schwer und für jeden nachvollziehbar. Kunst ist dabei so vielfältig und oftmals viel besser geeignet, sich zu ergründen, zu finden und auszudrücken als unsere Sprache. Das gilt natürlich auch im Negativen, denn wie alles andere auch ist die Kunst instrumentalisierbar und ein Mittel der Macht, das schließt den Kreis zur Medienkompetenz.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahlen im Sep und Okt 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Bei dem Zuspruch, den die AfD bei den Wahlen zum Europaparlament geerntet hat, kennt wahrscheinlich jeder mindestens einen AfD-Wähler. Da persönlich in Kontakt zu treten und zu schauen, inwiefern man etwas bewirken kann, ist ein guter Anfang. Veranstaltungen besuchen, unangenehme Fragen stellen, die Partei als das opportunistische und korrupte Gebilde entlarven, das sie ist. Traut sich nicht jeder und bedarf auch einer gewissen Expertise, aber es ist wichtig, in die Bubble zu gehen, falsche Aussagen und enge Perspektiven nicht unkommentiert zu lassen. Und jeden aktivieren, der sich dem Urnengang bis jetzt verweigert hat.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Der Moslem als Feindbild hat Hochkonjunktur, daneben ist eine völlig verzerrte Selbstwahrnehmung unseres aufgeklärten, fortschrittlichen Abendlandes natürlich sehr schmeichelhaft. Noam Chomsky hat mal sehr spannende Worte zur Soziologie fallen lassen. Er sagte sinngemäß, direkte Zusammenhänge sind etwas höchst Seltenes in den Sozialwissenschaften, aber das Verhältnis von Wahlkampfausgaben zu Wählerstimmen ist streng linear. Vielleicht sollte man mal bei den Geldgebern nachfragen, was die sich so dabei denken. Gleichzeitig ist die Geschichte, die die AfD erzählt, eine sehr verlockende: Die anderen sind Schuld, egal ob Klima, Kriminalität oder Korruption, du musst dich nicht ändern, wir räumen den Laden für dich auf und dir geht es weiterhin gut. Dass die meisten Ängste dabei eher produziert als wirklich echt sind, nehmen viele Menschen nicht wahr.

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen zur Landtagswahl in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Das kann man sich schwer vorstellen und hängt sehr stark von den besetzten Posten ab. Ich wage da keine Prognose, bin aber heilfroh, nicht von Fördergeldern abhängig zu sein.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Die wenigen Sozialarbeiter, mit denen ich über dieses Thema spreche konnte, haben es durchweg als Kampf gegen Windmühlen empfunden. Linke Gegenkultur findet sich fast nur in den Städten, den richtigen Zeitpunkt für ein verstärktes Engagement haben wir wahrscheinlich schon verpasst. Wir können dankbar sein für jeden, der sich in diesen Regionen trotz aller Widerstände gegen Rassismus einsetzt. Wer kann, sollte sich mit einbringen, am besten man erfragt bei den jeweiligen Initiativen, welche Unterstützung sie selber für geeignet halten. Und wer nicht kann, sollte sich noch einmal fragen, ob er nicht doch irgendwie kann. Am Ende geht es an vielen Stellen, wie so oft, um finanzielle Mittel. Da sehe ich vor allem unseren Freistaat aus recht augenscheinlichen Gründen des Selbstschutzes in der Pflicht.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Ich glaube, viele Nichtwähler und Nichtwählerinnen hatten die Ansicht, mit ihrer Stimme nichts bewegen zu können. Mir fällt es leicht, jenen jetzt verständlich zu machen, dass es dieses Mal wirklich um etwas geht und jeder einen Unterschied macht.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Diese Menschen stehen ja nicht außerhalb der Gesellschaft, sie waren immer und sind ein Teil von ihr. Die Existenzangst ist mehr als nur ein Gefühl. Wenn das BIP und die Armutsquote gleichzeitig steigen, läuft etwas gewaltig schief. Ich war selber neun Monate ohne Arbeit, vom Amt habe ich in der Zeit keinen Cent gesehen. So lange wir Reichtum subventionieren und Leistungsempfänger als asozial abstempeln, gibt es an der Stelle nichts schön zu reden.
Mit der Angst vor Überfremdung ist das schon schwieriger. Der Begriff an sich hat schon einen Orwellschen Beigeschmack und hat meines Erachtens im Wortschatz eines gebildeten Menschen nichts zu suchen, setzt er doch immer Volkskörperideologien voraus und wirkt stark agitatorisch. Dahinter steht gewissermaßen ein Mangel an alternativen Identitätskonzepten, da ist die Abgrenzung nach außen nur ein platter Versuch, eine Lücke zu füllen. Wenn man die Menschen dazu anregt, sich mit ihrer Identität, gerne auch mit ihrer Identität als Deutsche, zu beschäftigen wird schnell klar, dass sie gar nicht von anderen abhängig ist und erst recht nicht von anderen genommen werden kann. Wie sehr Zuwanderung Gesellschaften schon immer bereichert hat und das Abschottung immer in die Rückständigkeit führte, lässt sich an zahlreichen geschichtlichen Beispielen belegen, von unserer demographischen Abhängigkeit von Migranten mal ganz zu schweigen. Ob sich ein AfD-Wähler bei diesem Thema argumentativ überzeugen lässt, wage ich allerdings kaum zu hoffen. Den meisten fehlt es an persönlichen Erfahrungen und sie müssen auf die von den Medien abgebildete Realität zurückgreifen. So schafft ein Herr Seehofer in einem kurzen Interview ein gutes Dutzend mal „gewaltbereite Ausländer“ zu sagen. Auch so etwas hinterlässt Spuren.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Assoziationen kommen nicht von irgendwo her. So häufig wie Begriffe wie Ausländer oder Migranten mit negativ konnotierten Worten oder Gewalt beinhaltenden Bildern in Zusammenhang gesetzt werden, lässt die menschliche Psychologie kaum etwas anderes zu. Da ist es schön zu sehen, dass sich in Teilen der Gesellschaft um eine größere Sichtbarkeit all jener Menschen bemüht wird, die hier bei uns angekommen sind, sich hier wohl fühlen und einen konstruktiven gesellschaftlichen Beitrag leisten.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Definitiv. Und das hat zwei Gründe. Der erste ist, dass viele Menschen den Kompromisscharakter unserer Gesellschaft nicht wirklich verstehen oder die pragmatischen Aspekte, also was wirklich machbar und umsetzbar ist, häufig nicht gut analysieren und daher unrealistische Erwartungen haben. Der zweite Grund ist die nach oben immer höher werdende Dichte von Opportunisten, die authentischen Idealisten versauern meist auf Kommunalebene und schaffen es nicht in einflussreiche Positionen.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Meine Erfahrung hat mir leider gezeigt, dass ein Eingehen auf Erstere von jenen eher als Bestätigung ihrer Positionen aufgefasst wird und sie sich in ihren Standpunkten verhärten lässt. Mittlerweile bin ich da eher für klare Kante, da es zu oft nicht um Argumente geht und erst Recht nicht um echte Bedürfnisse. Die AfD wird ja auch zu weiten Teilen von Menschen gewählt, denen es eigentlich gut geht, sprich abbezahltes Haus, fünfzigtausend im Jahr und schon ordentlich Rentenpunkte gesammelt. Ich weiß nicht, welche Bedürfnisse da auf der Strecke geblieben sind, die Gegenstand von Politik sind. Die, denen es schlecht geht und die sich mit existenziellen Ängsten plagen, verdienen selbstverständlich eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Inwiefern mir diese Art der Argumentation gefällt weiß ich nicht. Als würde irgendwer sagen „Ne du, Jugend finde ich unwichtig“. Das geht dann doch eher am Thema vorbei und lenkt nur von der eigentlichen Problematik ab. Wenn man seine Ressourcen nicht dafür aufbringen möchte, sich mit der Wutbürgerproblematik auseinanderzusetzen, rächt sich das früher oder später. Dass diese Auseinandersetzung nicht über deren scheinbaren Bedürfnisse geschehen muss, ist eine andere Sache.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ja.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Wir brauchen mehr aktive Demokraten, mehr Transparenz und Kontrolle in den parlamentarischen Gremien, in den Geheimdiensten und der Polizei. Das nur zwei Prozent aller Anzeigen wegen Polizeigewalt überhaupt zu einem Verfahren führen, während in fast hundert Prozent mit einer Gegenanzeige wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu rechnen ist, stärkt nicht gerade das Vertrauen in unsere Exekutive. Auch der Einsatz von Agent Provocateurs ist zutiefst undemokratisch und verwischt die öffentliche Wahrnehmung von politischen Aktivisten und Krawallmachern. Solche Aktionen schaffen ein Klima der Angst unter politisch aktiven Menschen und treibt sie weiter Richtung Rand. Je mehr Menschen das Vertrauen in unsere Polizei, unsere Demokratie und ihre eigene Teilhabe zurückgewinnen, desto breiter wird unser Bündnis gegen Hass und Gewalt. Da hätte ich gerne die Polizei mit im Boot, es gibt genug Gute da draußen, die wirklich für demokratische Werte und die Sicherheit ihrer Mitmenschen einstehen wollen. Dass das BfV rechte Strukturen subventioniert und die Bundeswehr lieber Whistleblower vor die Tür setzt als Rassisten, sind weitere Baustellen. Ganz allgemein haben unsere Skandale eine viel zu niedrige Halbwertszeit in der öffentlichen Wahrnehmung und ziehen kaum Konsequenzen nach sich, da muss die Zivilgesellschaft härter rangehen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Das, was ich zu Zeiten von LEGIDA selber in Leipzig erleben durfte, nämlich wie viel mehr Menschen sich für eine offene, pluralistische Gesellschaft einsetzen als auf der Gegenseite stehen. Traurig hingegen war die nationale Berichterstattungen, die der kleineren Gruppe die größere Beitragszeit eingeräumt hat. Einmal sogar wurde die Gegendemonstration nicht erwähnt, dafür bebilderte der Beitrag die Demonstration von LEGIDA mit Aufnahmen der wesentlich größeren Gegendemo. Das hat mich sehr schockiert.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Dass wir dafür Sorge tragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt und wir das nationalistische Deutschland hinter uns gelassen haben.

INTERVIEW MIT BIRGIT KILIAN

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich arbeite als selbstständige Beraterin für Schulentwicklung bundesweit an Schulen. Zuvor habe ich über 20 Jahre lang als Lehrerin und Schulleiterin an staatlichen und freien Schulen gearbeitet. Unsere fünf Kinder sind nun erwachsen und so kann ich mein gesellschaftliches und politisches Engagement verstärkt betreiben.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich kandidiere für die SPD als Direktkandidatin zur Landtagswahl im Nördlichen Muldental und bin zudem Kreis- und Gemeinderätin. Nebenher bin ich stellvertretende Kreisvorsitzende und Ortsvereinsvorsitzende der SPD in Borsdorf/Brandis/Naunhof. Ich setze mich seit jeher ein für die, die keine Lobby haben oder die eher am Rande der Gesellschaft stehen. Ich bin Kinderlobbyistin durch und durch. Mein Herzensthema ist die Bildung mit allen Facetten, insbesondere die demokratische Bildung ist mir sehr wichtig.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Ich mag es, Lösungen für vorhandene Probleme mit anderen zu suchen, eigene Ideen voranzutreiben und über politische Diskussionen immer wieder neue Aspekte und Gedanken kennenzulernen. Politik aktiv zu gestalten bedeutet für mich, sich einzumischen, den Mund aufzumachen und Freude zu empfinden, wenn gute Ideen für die Menschen umgesetzt werden.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir alle der Staat sind. Unsere Demokratie lebt vom Mitmachen, Mitgestalten, Mitdenken, also vom Engagement der Vielen in unserem Land. Politik hat immer etwas mit dem Alltag der Menschen zu tun und es lohnt, sich füreinander zum Wohle der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft einzusetzen. Weg vom Ego hin zum Blick und die Übernahme von Verantwortung für das größere Ganze.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Die Vielen, die aktiv sind in Vereinen, Gewerkschaften oder Parteien sollten stärker über das Engagement für die Sache und das Warum? sprechen oder schreiben. Wenn ein Ehrenamt positiv besetzt ist, dann wird dieses von anderen gesehen und auch anerkannt. Toll wäre es, wenn Kommunen und auch die mediale Öffentlichkeit stärker die Ehrenamtlichkeit ins Bewusstsein bringen würden.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe ist sicherlich in Deutschland der Umgang mit der Vergangenheit. Eine Zeit, in der es Ausgrenzung, Rassismus und Fremdenhass gegeben hat, darf nie wieder Konsens der Mehrheitsgesellschaft werden. Unsere Zukunft sind die Kinder. Wir müssen unseren Kindern eine Erde überlassen, die für alle Menschen weltweit gute Orte zum Leben bietet. Dazu gehört es, nachhaltig und bewusst mit unseren Ressourcen umzugehen.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Respekt – Toleranz – Friedfertigkeit

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Hier gilt die Präambel aus unserem Grundgesetz ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.‘ Das ist das Leitmotiv für alle demokratischen Politiker, die sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen. Die Werte Freiheit und Gleichberechtigung müssen sich diesem einen Satz unterordnen. Freiheit ist ein Versprechen: Jeder Mensch hat die Chance sein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Gleichberechtigung ist dann erreicht, wenn wir nicht mehr darüber sprechen müssen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Kunst, Kultur und Bildung sind der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält, diese prägt und ausmacht. Unser Zusammenleben wird gestaltet über die vermeintlich weichen Felder des Sozialen. An diesen Themenfeldern zeigt sich, wie unsere Gesellschaft tickt. Was sind uns Jugendhäuser, Schulsozialarbeit, Inklusion, der Erwerb von vielfältigen Kompetenzen oder auch psychologische Betreuung wert? Die große Frage ‚Sind uns alle Menschen wichtig?‘ wird zu einer der Schlüsselfragen für unsere Gesellschaft.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Im Vorfeld der Landtagswahl kann jeder in der Familie, mit Freunden, Bekannten, Nachbarn oder Kollegen über politische Themen sprechen und darüber, welche Angebote die Parteien machen. Das Eingeständnis, dass es keine einfachen Antworten auf komplexe Probleme gibt, ist ein wichtiger Schritt. Wählen zu gehen, auch wenn keine der demokratischen Parteien oder Wählerbündnisse zu 100 % die eigenen Ansichten abbildet, ist verdammt wichtig. Dabei sollte man sich im Vorfeld gut darüber informieren, welche Lösungen die Kandidaten und die Parteien anbieten.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der Rechtspopulisten bei der Europa- und Kommunalwahl?

Es gibt eine gewisse Sehnsucht bei manchen Menschen, dass die Politik alles regelt, ohne dass man sich selbst beteiligen oder anstrengen muss. Demokratie ist aber kein Pizza-Service. Ich bestelle und Du lieferst. Der Rechtspopulismus suggeriert, dass es einfache Lösungen gibt und letztendlich ist es einfach und bequem, dem Glauben zu schenken.

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Die Auswirkungen wären verheerend. Meine Befürchtung ist, dass wir uns in allen Bereichen von Vielfalt, Toleranz und Progressivität verabschieden müssten.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Gute Vernetzung und gegenseitiger Support sind absolut notwendig, um zu zeigen, dass wir mehr sind.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Nichtwähler*innen geben sich erst einmal als solche selten zu erkennen. Deswegen lohnt es immer, auch außerhalb von Wahlkampfzeiten, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Benachteiligungen sind geschehen und man darf diese nicht klein reden. Aber es ist immer auch eine Frage der eigenen Haltung, wie ich mit Lebensbrüchen, Schicksalsschlägen oder Verlust umgehe. Die Aufgabe der Politik muss es sein, glaubwürdig Zukunft zu gestalten für alle Menschen. Sich dabei der besonderen Härten und Situationen von zum Beispiel in der DDR geschiedener Frauen anzunehmen oder das Schicksal von Insassen der Jugendwerkhöfe auf die Agenda zu nehmen, ist dabei absolut notwendig. Die geäußerten Sorgen vor einer Überfremdung kann ich, als in Duisburg geborene, nicht nachvollziehen. In dem Punkt sind mir viele der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund näher als Ressentiments schürende Deutsche.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Vermutlich führen Unwissenheit, mangelnde Erlebnisse und Erfahrungen im Alltag zu Angst vor den ‚Fremden‘.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Politiker*innen sind immer auch Bürger*innen. Ich trenne da nicht. Und es ist eine wirkliche Gefahr, wenn hier Trennungen suggeriert werden. Jeder Politiker*in hat auch eine Familie, Freunde, Hobbies, einen Wohnort, einen Beruf, einen ganz normalen Alltag, geht einkaufen oder zum Arzt. Warum also eine Kluft aufmachen, die es nicht gibt?

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Als Vertreterin der SPD schaue ich nie nur auf eine gesellschaftliche Gruppe. Die besorgten Bürger (sofern sie nicht rassistisch denken) finden bei mir genauso Gehör wie Familien, Rentner*innen oder die Jugend. Die Gesellschaft hat alle Gruppen und braucht alle Gruppen. Hier zitiere ich den ehemaligen Bundespräsidenten ‚Versöhnen statt spalten.‘

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Eine starke Zivilgesellschaft ist von enormer Bedeutung für Deutschland. Wir haben so viele engagierte Menschen in Deutschland mit Herz und Verstand, auf die unser Land zurecht stolz sein darf. Die Zivilcourage ist manchem von uns leider abhandengekommen. Wir haben diese lange nicht so gebraucht wie heute. Es gilt, wieder lauter zu werden, wenn Unrecht geschieht und Zivilcourage zu zeigen.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Unsere Demokratie ist stark und die Bürger*innen werden unsere Demokratie schützen und stärken. Denn #wirsindmehr.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

#wirsindmehr ist für mich ein Ausdruck von Zuversicht und Souveränität, der uns als Zivilgesellschaft miteinander verbindet.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Wir bleiben hier! steht für mich für ein Bündnis von Menschen, die die gesellschaftliche und politische Situation vor Ort mit allen demokratischen Mitteln gestalten wollen.

INTERVIEW MIT RALPH RUTHE

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Da wüsste ich ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen und aufhören sollte, denn sowohl Leben als auch Arbeit sind bei mir inzwischen umfangreich. 🙂
Meine private Zeit ist bereits jetzt sehr knapp und ich möchte sie gerne mit meiner Familie verbringen (meine Frau und ich sind Eltern von knapp drei Jahre alten Zwillingen), daher bitte ich um Verständnis, dass ich nicht meine komplette Vita aufschreibe, sondern es ganz kurz mache:
Ich bin Cartoonist, Filmemacher, Autor und Bühnenkomiker.
Außerdem arbeite ich aktuell an meinem ersten Animationsfilm, der hoffentlich Ende 2022 ins Kino kommt.
Wer mehr erfahren möchte, geht einfach mal auf www.ruthe.de oder stöbert durch http://youtube.com/ruthe
Viel Spaß dabei! 🙂

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich positioniere mich immer wieder öffentlich gegen Rechtspopulismus, Rassismus und für Menschlichkeit, im Netz und auf Demos. Außerdem setze ich mich für die Ziele von Fridays for Future ein.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Keine Ahnung, ob ich das tue. 
Was ich weiß ist, dass es Menschen gut tut, meine öffentlichen Stellungnahmen zu oben genannten Themen zu lesen. Denn ich werde immer wieder darauf angesprochen. In erste Linie mache ich das aber für mich. Im Internet folgen mir über 2 Millionen Menschen. Diese Tatsache nicht (auch) für solche Zwecke zu nutzen, würde sich falsch anfühlen.
 
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Meiner Ansicht nach gibt es einfach keinen Weg daran vorbei, weil die Zeit, in der wir leben, es erfordert.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Indem man sie so unterhaltsam, persönlich und nachvollziehbar wie möglich transportiert.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? 

Ich bin leider nicht in der Position, das vorherzusagen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Na, alles!

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Das sind eigentlich viele Fragen gleichzeitig. 
Ich versuche es so zu beantworten:
Kunst und Kultur – Luft, Essen und Trinken ernähren uns, aber ohne Kunst und Kultur wäre das Leben leer.
Bildung und Medienkompetenz – sind essentiell für eine Gesellschaft, die einander versteht und vernünftig miteinander umgeht.
Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung – brauchen wir, damit auch für diejenigen in unserer Gesellschaft gesorgt ist, die Hilfe brauchen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahlen im Sep und Okt 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken? 

Aufmerksam sein und den Mund aufmachen, wenn Dinge gesagt und getan werden, die unser Grundgesetz und menschliches Miteinander bedrohen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der Rechtspopulisten bei der Europa- und Kommunalwahl?

Sehr komplexes Thema. Nichts, was man in zwei Sätzen beantworten kann.
Ich empfehle einen Blick in diesen Beitrag, den ich durch einen Aufruf auf Twitter ausgelöst habe:
https://twitter.com/heutejournal/status/1133821560031207424?lang=de

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen zur Landtagswahl in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Das sollte man lieber Politikwissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler fragen, nicht Witzbildmaler.
Mein Geschichtswissen in Kombination mit meinem Vorstellungsvermögen sagen mir: keine guten.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Bei vielen halte ich es tatsächlich für zu spät. Die Politik hat sie zu lange enttäuscht, sie sind zu oft vergessen und angelogen worden. Ansetzen muss man bei denen, die noch wählen wollen. Ihnen müssen wirklich ernstgemeinte Ziele präsentiert werden. 
Halbgares Geschwafel braucht kein Mensch mehr, jetzt zählen nur noch Visionen und Taten.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil es einfacher ist, sich jemanden, der anders aussieht als man selbst, zum Feindbild zu nehmen und alle Probleme darauf zu projizieren, als selbst aktiv zu werden und etwas zu verändern.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Definitiv. Geht mir bei 95% der Parteien ganz genauso.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Die „Wutbürgerinnen“ sind keine homogene Menschenmenge. Genau so wenig wie „unsere Jugend“. Mit dieser Aussage kann ich daher so nichts anfangen. Wenn mit „unsere Jugend“ Bewegungen wie Fridays for Future und mit „Wutbürgerinnen“ sowas wie PEGIDA gemeint ist, dann ja.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Essentiell wichtig. Sie übernehmen inzwischen Aufgaben, die der Staat erledigen müssen. Und zwar dringend.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Keine Rechtspopulisten wählen. Aufeinander zugehen. Verständnis und Humor zeigen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Das Gefühl, nicht alleine zu sein mit meinen Ansichten.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich hab ehrlich gesagt eben erst davon gehört und daher würde ich lügen, wenn ich behaupte, dass ich damit etwas verbinde. Verzeihung. 😀

Foto: privat

INTERVIEW MIT THOMAS WILDE

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin Englischlehrer an zwei verschiedenen Schulen in Leipzig und – mehr als nebenbei – ein fanatischer Comicsammler und Mitglied beim Leipziger Comicstammtisch, eine Gruppe engagierter Comicfans, inbesondere des MOSAIK mit den Digedags und Abrafaxen.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ist Engagement auch, offen zu sagen, wenn einem etwas nicht passt und den Mut zu heben, sich gegen „Betonköpfe“ zu wenden? Dann bin ich überall aktiv, im Alltag wie im Internet.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Das möchte ich nicht so beantworten, da ich meinen eigenen Einfluss tatsächlich als nicht so entscheidend ansehe.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Weil wir alle im Verlauf der Geschichte erlebt haben, was passieren kann, wenn man einfach nur „den Lämmern folgt“. Man stürzt ab oder wird gefressen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Indem man ständig den Mut hat, sich gegen Dummheit zu wehren, indem man außerdem nicht „wegsieht“, wenn unsere Grundrechte etc. in Gefahr geraten.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe sind intelligente Menschen, sind Dichter, Musiker, Eltern. Oftmals scheue ich mich jedoch davor, darüber nachzudenken, wie unsere Zukunft aussieht, solange viele Menschen Rattenfängern folgen und wir Raubbau an unserer Umwelt betreiben.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Dass JEDER JEDEM bereit ist zuzuhören, ihm im Notfall zu helfen, dass der „schnöde Mammon“ nicht als das Nonplusultra aufzutreten versucht.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Ganz kurz: Das sind Grundlagen des menschlichen Miteinanders, die leider nicht überall auf der Welt selbstverständlich sind.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Da ich selbst „aus der Branche“ komme: Natürlich sind das Grundlagen eines vernünftigen Lebens miteinander. Auch hier muss ich leider sagen, dass diese Faktoren „im Abnehmen“ sind. Das sage ich NICHT als „alter greiser Mann“, sondern als Mensch, der selbst so erzogen wurde und groß geworden ist.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Als ALLERERSTES: ÜBERHAUPT wählen gehen, anstatt die Floskel „Ich selbst ändere ja sowieso nichts“ zu bemühen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der Rechtspopulisten bei der Europa- und Kommunalwahl?

Das hat ganz viele Ursachen. Dazu zählt aber in erster Linie das Versprechen der Rattenfänger-Populisten, etwas ändern zu wollen oder gar zu können. Dies treibt vor allem die eben weniger Nachdenkenden in ihre Arme …

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Wie bereits erwähnt: Ich glaube, DANN würde sich zeigen, woraus die „Rattenfänger“ ihre leeren Versprechungen ziehen: Aus Hass und persönlichem Interesse. VORTEILE für „Otto Normalverbraucher“ würden jedenfalls nicht entstehen, im Gegenteil.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem man Andersdenkende auf deren Initiativen und Aktivitäten hinweist.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Da ist JEDER gefragt, solche Leute anzusprechen, sollte man darauf aufmerksam werden.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Nur durch persönlichen Kontakt und Hilfe, zwecklos wäre es, ihnen Tipps geben zu wollen.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Warum??? Warum habe ICH Angst vor Spinnen? Weil sie anders aussehen als ich? Keine Ahnung. Leider tun bestimmte „BILDungs“medien im Zuge des vermeintlich besseren Verkaufes ihrer Gazetten genug, um die Angst zu schüren, ob das nun bewusst oder unbewusst geschieht …

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Leider ja. Das mag auf Kommunalebene anders sein, ist es aber auf höheren Ebenen sicher so.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Beides. Damit aus Jugendlichen von heute eben KEINE „Wutbürger“ von morgen werden.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Ohne beides landen wir früher oder später in Anarchie oder im Chaos.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Selbst aktiv werden, wie schon oft zuvor erwähnt.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

TATSÄCHLICHE Wahlergebnisse, abgesehen von den im Grunde genommen wenigen „Falschwählern“.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Tatsache und einzige Möglichkeit.

INTERVIEW MIT FABIAN WOLFF

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Neben meiner ehrenamtlichen Tätigkeit in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und der SPD bin ich Lehrer in Sachsen und unterrichte die Klassenstufen 5 bis 12.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin Bezirksvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Leipzig und da setze ich mich für bessere Arbeitsbedingungen und eine gerechte Bezahlung in allen Bildungsbereichen von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Erwachsenenbildung ein. Neben dem engagiere ich mich als Gewerkschafter immer auch für eine solidarischere und gerechtere Gesellschaft. Für diese Solidarität lässt sich besonders gut im Verbund mit den Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes kämpfen.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Es ist meist recht ernüchternd. Man braucht viel Enthusiasmus.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Nur wer sich mit Politik beschäftigt, kann in Ansätzen verstehen, wie Politik funktioniert und kommt dann vielleicht zum Entschluss, anstelle immer nur zu meckern, selbst anzupacken und die Dinge zu verbessern. Die meisten Menschen scheinen derzeit leider noch etwas zu träge, sich einzubringen. Unsere Demokratie bietet den großen Vorteil, dass diese Möglichkeit des Sich-Einbringens tatsächlich besteht. In einer parlamentarischen Demokratie entscheiden nämlich nicht nur die Abgeordneten alleine, sondern sind auch vielfach auf Hilfe und Expertise von Vertreter*innen gesellschaftlicher Vereinigungen angewiesen. Ohne die Expertise von beispielsweise Gewerkschaften könnte keine Partei eine wirklich gute Arbeitsmarktpolitik machen und selbst die Grünen holen sich sicher oft Rat bei Vertreter*innen von Umweltverbänden ein. Es lohnt sich also, um unsere Gesellschaft mitgestalten zu können, nicht nur in Parteien, sondern auch in Gewerkschaften und Kulturvereinen bis hin zu Sportvereinen aktives Mitglied zu werden bzw. zu sein.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass dieses Bewusstsein durchaus bereits in der Öffentlichkeit vorhanden ist. Schön wäre, die demokratische Bildung in der Schule zu stärken durch mehr politische Bildung, was ja in Sachsen gerade auf den Weg gebracht wurde, aber noch viel stärker durch gelebte Demokratie an den Bildungseinrichtungen. Das Grundproblem ist wahrscheinlich, dass es oft von der Schule bis zur Universität zwar bereits gute Rahmenbedingungen gibt und die Schüler*innen und Student*innen in der Theorie zwar vielfältig mitbestimmen könnten, diese Rechte aber in der Praxis aus verschiedenen Gründen leider noch nicht vollumfänglich wahrgenommen werden. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass Schüler*innen sich beispielsweise nicht trauen, gegen ihre/n Schulleiter*in zu stimmen, oder ein/e Rektor*in einer Uni dem Personalrat einfach keine Räume zur Verfügung stellt, obwohl sie ihm zustehen würden. Wir brauchen also vor allem mehr Mut, die schon erkämpften Rechte auch durchzusetzen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Grundsätzlich erstmal freue ich mich, wenn sich alle Wähler*innen vollumfänglich über die Parteiprogramme informieren und hernach eine fundierte und sinnhafte Wahlentscheidung treffen. Anschließend kann sich auch jede/r in ihrer/seiner Familie und dem sozialen Umfeld trauen, über Politik zu reden und die erworbenen Informationen hier auch weitertragen. Es lohnt sich auch, gelegentlich einfach mal wieder im Grundgesetz zu lesen, wenigstens die ersten zwanzig Artikel, und daraus bei Gelegenheit zu zitieren. Ansonsten kann ja jede/r die etablierten demokratischen und solidarischen Parteien und Gruppen unterstützen, die sich gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft engagieren. Man/frau muss ja nicht gleich in eine Partei eintreten, um zum Beispiel beim Plakatieren für den Wahlkampf selbige zu unterstützen.

Die AfD ist wohl auch deswegen so erfolgreich, weil sie sehr viel Geld für Wahlkampf ausgibt, statt in soziale und nachhaltige Projekte zu investieren. Und wenn man/frau sich dann wundert, dass in großen Teilen Sachsens quasi nur noch AfD-Plakate hängen, liegt das sicher daran, dass die Regionalgruppen der anderen Parteien kein Geld bzw. noch weniger ehrenamtlich Aktive vor Ort haben, die Wahlkampf machen könnten. Um etwas dagegen zu tun, muss man/frau eben den Wahlkampf seiner/ihrer nahestehenden Partei wahlweise finanziell unterstützen oder personell.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Ich fürchte leider, dass das unvermeidlich ist, dass die AfD diese Ergebnisse bekommt. Von dem Traum, dass die AfD nur eine Eintagsfliege ist, haben sich sicher die meisten Menschen verabschiedet. Man/frau wird sie nur mittel- oder langfristig schwächen können. Die NPD hat im Sächsischen Landtag weder auch nur einen sinnvollen Antrag gestellt, sondern auch noch den Landtag an sich stets ins Lächerliche gezogen. Dennoch wurde sie mehrfach in den Landtag gewählt. Die größte Gefahr tritt dann ein, wenn die CDU, um weiter regieren zu können, nur die Alternative zwischen einer Koalition mit Links oder der AfD hat. Dann ist zu befürchten, dass die CDU, vielleicht dann auch mit einem neuen Ministerpräsidenten, diese Koalition eingeht und sich eben nicht an das offizielle Verbot auf Bundesebene hält. Was die AfD in der Kulturszene Sachsens dann anrichten würde, hat sie bereits lang und breit dargelegt. Man/frau müsste sich nur einmal vorstellen, wie dann die politische Bildung in Sachen aussieht, wenn die AfD den Kultusminister stellt.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Das ist sicher zum Teil so, man/frau muss ja aber auch die Bürger*innen in die Pflicht nehmen und sie ermuntern, zum Beispiel auch die 500 m zum Bürger*innenbüro eines/r Politikers/in zurückzulegen und mit ihm/ihr ins Gespräch zu kommen. Das Leben in einer Demokratie bedeutet auch immer für jede/n Bürger*in eine Beteiligungsverantwortung. In ganz Sachsen gab es in der letzten Legislaturperiode sicher tausende Veranstaltungsformate der Abgeordneten des Sächsischen Landtags. Bei fast allen diesen Veranstaltungen konnte man/frau mitdiskutieren und somit Politik mitgestalten. Leider sind die meisten dieser Veranstaltungen nicht mal bis zur Hälfte gefüllt. Es ist zwar schön, wenn sich die Politiker*innen immer neue Formate ausdenken, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen; noch schöner wäre es allerdings, wenn die Medien die Bürgerinnen auch an die oben genannte Verantwortung stets erinnern würden.

INTERVIEW MIT DANIELA KOLBE

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich heiße Daniela Kolbe. Ich bin im Jahr 1998 zwecks Physik-Studiums nach Leipzig gezogen, bin also Diplom-Physikerin. Seit 2009 bin ich Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich pendele also viel zwischen unserer Hauptstadt und meiner absoluten Lieblingsstadt Leipzig. Im Bundestag konzentriere ich mich auf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und das Themenfeld künstliche Intelligenz. Außerdem habe ich zwei kleine Töchter, ein halbes Jahr alt und fast vier.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Mein politisches Engagement hat bei der Sozialistischen Jugend – Die Falken – einem politischen Kinder- und Jugendverband – begonnen. Später war ich dann bei den Jusos – der SPD-Jugendorganisation – und in der SPD aktiv. Für die SPD sitze ich nicht nur im Bundestag, sondern auch im Parteivorstand. Darüber hinaus engagiere ich mich auch bei vielen Initiativen wie zum Beispiel dem Netzwerk für Demokratie und Courage, das gegen Rechtsextremismus für Demokratie und Mitbestimmung Projekttage auch an Sachsens Schulen durchführt.

wbh: Wie fühlt es sich an, Politik aktiv mitzugestalten?

Ich kann mir gar nicht vorstellen, einfach immer andere gestalten zu lassen. Es ist für mich das alltäglichste der Welt, aktiv Politik zu machen. Und angesichts der Situation in Sachsen wünsche ich mir, dass noch ganz viele andere Menschen anfangen, sich aktiv einzumischen.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich finde, das ist mittlerweile offenkundig. In Sachsen ist zu beobachten, was passiert, wenn sehr viele Menschen es nur wenigen überlassen, Politik zu gestalten. Dadurch haben Rechtspopulisten und Faschisten leichtes Spiel und die Zivilgesellschaft, die ihnen etwas entgegensetzen könnte, fehlt leider an zu vielen Stellen.
Dass viele Menschen Demokratie als Pizzalieferdienst „Ich bestelle – Du lieferst.“ missverstanden haben, hat zusätzlich dazu geführt, dass sich andere Interessen durchgesetzt haben. Das hat zu dem Frust beigetragen, den wir jetzt überall erleben.
Demokratie ist eben gerade nicht das, was die Parlamentarier*innen in Dresden oder Berlin tun, sondern das, was wir alle gemeinsam daraus machen.
Wir brauchen einen richtigen demokratischen Neustart. Viel mehr Menschen müssen sich aktiv einmischen und ihren Mund aufmachen, ihre Interessen artikulieren, aber auch konstruktiv mitarbeiten.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten Stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich hoffe, dass die aktuelle Situation vielen klarmacht, dass auch sie gefordert sind. Dazu wäre es hilfreich, immer wieder zu zeigen, dass auch kleines Engagement sich auszahlt. Es muss und kann ja nicht jeder Vollzeit-Parlamentarier*in sein. Aber schon der Widerspruch zu einem rassistischen Spruch, der Einsatz in der Elternvertretung, der Brief an den Stadtrat, die Teilnahme an einer Demo o. Ä. sind ja Möglichkeiten, sich aktiv und sinnvoll einzubringen.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Asche weiterzugeben, macht wenig Sinn, es muss schon Feuer – also etwas Lebendiges – sein. Ich bin Optimistin und glaube, dass die gegenwärtige Verunsicherung auch zu einer größeren Politisierung führen kann. Das fänd ich schön.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Auf der ganz persönlichen Ebene wünsche ich mir mehr Empathie und Anteilnahme am anderen. Auf der politischen Ebene halte ich es für zentral, dass wir Einkommen und Vermögen endlich wieder gerecht verteilen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Alle drei Punkte sind unabdingbar für ein gutes Zusammenleben. Kein Punkt ist selbstverständlich. Wir müssen sie immer wieder aktiv erkämpfen und sichern.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Für mich sind sie der Kitt in den Fugen unserer Gesellschaft. Jede und jeder von uns bringt seinen Baustein an persönlichen Prägungen in unser Zusammenleben ein. Bildlich gesprochen: Nicht immer ist das mit dem Nachbarstein gleich kompatibel und vor allem wäre es mehr ein Nebeneinander, denn ein Miteinander. Die genannten Bereiche glätten raue Oberflächen, schaffen Verbindung und halten zusammen.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Jede*r, der/dem dieses Land am Herzen liegt, sollte die Zeit bis zum 1. September nutzen, mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch zu kommen. Und natürlich ist es wichtig, am 1. September zwei gültige Stimmen abzugeben. Wer kein schwarz-blau will (auch nicht verkappt durch eine Minderheitsregierung der CDU), sollte auch weder schwarz noch blau wählen. Eigentlich logisch. Und man sollte bei seiner Stimmabgabe auch darauf achten, Sachsen nicht unregierbar zu machen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der Rechtspopulisten bei der Europa- und Kommunalwahl?

Die Gründe sind vielschichtig. Ein Grund ist sicher die Schwäche der großen demokratischen Parteien und ihr Mangel an Glaubwürdigkeit. Dass die Rechtspopulisten gerade bei der Europawahl im Osten Deutschlands so stark werden konnten, hat sicher auch damit zu tun, dass sich Menschen hier wie Bürger zweiter Klasse fühlen und der Osten zum Teil auch tatsächlich gegenüber Westdeutschland benachteiligt ist. Man denke nur an die Ungleichheit bei den Löhnen oder die Verteilung der Bundesbehörden und Spitzenämter in Deutschland. Hier tut sich aber grade was. Aus historischen Gründen reagieren viele Ostdeutsche empfindlich auf staatliche Bevormundung – der EU gelingt es mit ihren undurchsichtigen und bürokratischen Prozessen leider zu selten, diesen Eindruck nicht zu erwecken. Aber ich denke auch, dass es immer noch viele Menschen gibt, die die AfD wählen und einfach noch nicht begriffen haben, dass sie eine rechtsextreme Partei ist, die nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger handelt, sondern ihren Zulauf durch Hass und Angst nährt. Keine ihrer angeblich so einfachen Lösungen bringt uns einen Schritt weiter.

wbh: Angenommen, Rechtspopulisten ziehen in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Das wäre fatal. Es gibt ja leider schon zahlreiche Beispiele im Ausland, dass – nachdem Rechtspopulisten die Macht errungen haben – Bildungs-, Kultur- und Sozialetats empfindlich angetastet werden. In den USA hat Präsident Trump seit Beginn seiner Amtszeit dem staatlichen Gesundheitssystem den Kampf angesagt. In Ungarn wurde mehr als einmal versucht die Pressefreiheit einzuschränken. Polen hat begonnen, den Rechtsstaat auf gefährliche Art und Weise zu beschneiden. In Österreich wurde von einer Koalition aus Konservativen und Rechtspopulisten der Arbeitsschutz geschleift. Aber es reicht auch schon ein Blick vor die eigene Haustür: Seit dem Auftauchen von Pegida und AfD ist das gesellschaftliche Klima rauer geworden. Öffentliche Debatten laufen aus dem Ruder und sind von Hass geprägt. Vertreter/-innen der Zivilgesellschaft werden eingeschüchtert und bedroht. Und leider konnte man gerade in letzter Zeit gut sehen, dass auf Worte Taten folgen: Nicht nur die Übergriffe auf Geflüchtete, muslimische und jüdische Einrichtungen haben deutlich zugenommen. Wir erleben gerade auch ein dramatisches Erstarken des Rechtsterrorismus, wie jüngst etwa der Mord am Kassler Regierungspräsidenten Lübcke oder die Schüsse auf einen Eritreer in Hessen zeigen.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Wichtig ist zunächst, sie und ihre Arbeit ernstzunehmen und wertzuschätzen. Dann brauchen sie den richtigen Rahmen, in dem sie wirken können, etwa auskömmliche Finanzierungsmöglichkeiten, die im besten Fall auch unbefristet zur Verfügung stehen und hauptamtliche Unterstützungsstrukturen. Gerade deshalb streiten wir in der Bundesregierung gerade für ein Demokratiefördergesetz. Zudem müssen sie auf Augenhöhe in staatliches Handeln und die Netzwerke vor Ort mit einbezogen werden. Aber am allerwichtigsten ist: Mitmachen!

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen? (Laura)

Tür-zu-Tür-Wahlkampf ist für mich dabei ein zentraler Hebel, denn da erreiche ich auch Menschen, die ich mit anderen Ansprachformen überhaupt nicht (mehr) erreiche. Und natürlich ist wichtig, das jede und jeder in seinem Umfeld Gespräche führt.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Auch hier kann ich nur raten, die Probleme der Menschen und die Brüche in ihren Biografien anzuerkennen und ernstzunehmen. Für Politik ist es immer noch am wichtigsten, konkret und spürbar das Leben der Menschen zu verbessern. Deshalb muss man echte Probleme und Benachteiligung bekämpfen, etwa indem man die Lebensleistung von Menschen mit einer auskömmlichen Rente anerkennt oder indem man für Löhne und Arbeitsbedingungen sorgt, die ein würdiges Leben ermöglichen. Eine Sache ist mir aber ganz wichtig: Ich finde, man muss auch ganz klar eine Grenze ziehen zwischen den persönlichen Sorgen der Menschen und fremdenfeindlichen Einstellungen. Inhaltlich hat das eine nichts mit dem anderen zu tun. Existenz- oder Abstiegsängste muss man ernst nehmen, aber man muss auch klar machen: Das hat nichts mit Geflüchteten oder Muslimen zu tun! Sie werden da leider oft zum Sündenbock. Das wird durch Ressentiments begünstigt, die wir alle in uns tragen. Um Vorurteilen zu begegnen, braucht es Aufklärung sowie Dialog und Begegnung mit dem vermeintlich Fremden, damit klar wird: Das sind Leute wie du und ich, mit Sorgen und Nöten, die wir alle haben.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Wie eben schon angedeutet: Jeder Mensch hat Vorurteile, das ist erstmal normal. Schlimm wird es, wenn diese sich verfestigen bzw. nicht angegangen werden. Das ist v. a. der Fall, wenn man keine Berührungspunkte mit diesem „Fremden“ hat. In Ostdeutschland ist das leider recht oft der Fall, weil es geschichtlich kaum Zuwanderung aus muslimischen oder afrikanischen Ländern gab. Hinzu kommen leider oft rassistische Einstellungen und Unwissen über Bräuche und Gegebenheiten der Herkunftsländer. Und dann gibt es in jeder Gesellschaft auch Verteilungskämpfe und Status-Fragen. Und da sind wir wieder bei der ostdeutschen Geschichte. Wer lange Zeit Entbehrungen hinnehmen musste und sich benachteiligt fühlt, dem fällt es besonders schwer, Neuankömmlingen oder Menschen, die anders sind als man selbst, etwas zu gönnen.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Im Moment ist das bestimmt so. Politik muss wieder mehr zu den Menschen, glaubwürdiger werden und besser ihre komplexen Vorgänge erklären. Sie muss aber auch repräsentativer werden: Wir leben in einer sehr heterogenen Gesellschaft. Dass das Gesicht der Politik immer noch ein nicht mehr ganz junges, weißes, männliches ist, spiegelt die Vielfalt in unserer Gesellschaft nicht wider. Trotzdem: Zu Konflikten gehören immer mindestens zwei Parteien. Die Bürgerinnen und Bürger müssen das auch einfordern, ihre Vertreter*innen in den Parlamenten aktiv ansprechen, sich informieren und wählen gehen. Es bringt nichts, da zu Hause allein den Fernseher anzuschimpfen. Man muss sich der Debatte stellen und auch bereit sein, sich vom besten Argument überzeugen zu lassen.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich glaube, dass die Politik die Aufgabe hat, auf alle Bedürfnisse in der Gesellschaft einzugehen. Allerdings stellt sich die Frage der Prioritätensetzung und was echte Bedürfnisse sind und was nicht. Keine Ausländer oder Muslime in der Nachbarschaft zu wollen, ist kein echtes Bedürfnis, genausowenig wie die Unterstellung, dass Kriminalität etwas mit kultureller Herkunft zu tun hätte. Das ist ein soziales Phänomen, kein kulturelles. Sehr wohl ist es aber ein berechtigtes Bedürfnis, dass man eine bezahlbare Wohnung findet oder am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Ich finde auch, dass eine gute, umfassende, kostenlose Bildung ein echtes Bedürfnis ist, genauso wie unseren Wohlstand und deshalb auch die natürlichen Ressourcen für kommende Generationen zu erhalten. Deshalb: Ja, ich finde man sollte die Forderungen von Fridays for Future sehr viel ernster nehmen als die von Pegida.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Sie ist ein Schlüssel zur Lösung des Problems, den wir nur leider verlegt haben. Wir brauchen eine viel stärkere Zivilgesellschaft und mehr Menschen, die ganz bewusst einschreiten, wenn Sie Übergriffe oder ähnliches wahrnehmen.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Indem alle, die sich als Demokratinnen und Demokraten verstehen, rechten Parolen entschlossen entgegentreten. Persönliches Engagement in Vereinen, Bündnissen und Parteien ist eine gute Möglichkeit, um sich aktiv für eine demokratische Gesellschaft einzubringen. Aber man tritt auch für Demokratie und Grundrechte ein, wenn man einfach mal widerspricht, wenn in einem Gespräch diskriminierendes Gedankengut geäußert wird. So kann man im Kleinen wie im Großen einen Beitrag dafür leisten, dass unsere Demokratie gestärkt wird.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Hoffnung

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Zunächst erschreckt es mich, dass wir solche Selbstverständlichkeiten aussprechen müssen. Aber andererseits freut es mich, wie viele Menschen gerade resolut und ganz bewusst sagen: „Wir lassen uns unser Sachsen nicht kaputt machen!“

INTERVIEW MIT ANTJE WONNEBERGER

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin ANTJE, freischaffende Maskenbildnerin.
Mich fasziniert es ungemein, das Erscheinungsbild von Menschen komplett zu verändern. Denn sehr oft ändert sich ja viel mehr als ihre Optik: Sie öffnen sich, nehmen eine neue Rolle an, erzählen Geschichten. Und lassen jeden in fantasievolle Welten eintauchen, der sie in Theater-, Foto- oder Film-Inszenierungen erlebt.
Mit der Maskenbildnerei kam ich zum ersten Mal als junges Mädchen in Berührung, bei Ballettauftritten in der Dresdner Semperoper. Seither wollte ich lernen, Menschen selbst ein anderes Gesicht zu geben und fantastische Figuren lebendig werden zu lassen.
Mein Einzelunternehmen ANJTE DAHM – MASKENBILD DESIGN steht für die Liebe zur Veränderung, äußerlich aber auch innerlich. Und den Wunsch, die Menschen wacher, schöner, spannender, fantasievoller und bunter zu gestalten. Jeden Tag.
Ich bin außerdem ehrenamtlich unterwegs.
Bei Wir Gestalten Dresden, dem Branchenverband der Kultur&Kreativwirtschaft Dresdens, als Aufsichtsrätin der Darstellenden Künste. Um für mehr Aufmerksamkeit unserer tollen und vielfältigen Kulturbranche zu sorgen.
Beim Comicprojekt Sascha&Sascha, als Co-Founderin. Um auf humoristischen Wege für mehr Gleichberechtigung und gegenseitigen Respekt zu sorgen.
Und wenn noch Zeit bleibt, auch ein wenig bei den JuSos Dresden, für mehr politisch soziales Engagement.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Oh, das hab ich ja eben schon beantwortet 🙂
Aber zur Frage wofür ich eintrete, noch ein kurzer Zusatz: Ich trete ein für eine vielfältige, kreative, empathische und vor allem friedliche Gesellschaft, mit Anstand und Respekt jedem einzigartigen Menschen gegenüber. Denn in solch einer Gesellschaft möchte ich leben. Anstand zu bewahren, mal den eigenen Stolz runter zu schlucken und nicht gleich dem ersten Eindruck & den eigenen Vorurteilen zu verfallen, das strengt oft an, aber das ist es wert.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Ich habe keine Ahnung, ob es einen Unterschied gibt, zwischen in Sachsen politisch aktiv sein und irgendwo anders politisch aktiv sein.
Ich kenne hier viele tolle Menschen mit ordentlich Feuer und Leidenschaft und mit denen macht es einfach Spaß unsere Gesellschaft mit zu gestalten.
Ganz egal ob unser Team von Sascha&Sascha, die Kreativen von Wir Gestalten Dresden, kämpferische JuSos Dresden, Querdenkende von Lassesunstun e.V., Marktschwärmer Dresden, Singasylum, Das Rostige Ross, Genderkompetenzzentrum ufm. Alle ackern sie auf einem anderen Feld, aber alle haben dasselbe im Sinn – ein friedliches, buntes und respektvolles Miteinander. Für ein lebenswertes Hier und Jetzt und für eine lebenswerte Zukunft. Das finde ich ganz großartig und stimmt mich immer wieder hoffnungsfroh. Gerade dann, wenn mal wieder Negativmeldungen über Dresden und Sachsen laut werden. Es gibt hier unheimlich viele tolle Leute und Initiativen, bei denen ich stolz bin, ein Teil davon zu sein.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Es ist wichtig, weil alles politisch ist. Politik ist die Grundordnung, mit der wir versuchen, unser gesellschaftliches Zusammenleben in geregelten Bahnen zu organisieren. Wir sind alle Teil der Gesellschaft und damit auch Teil des politischen Systems, in dem wir leben. Somit sind wir alle alltäglich auch mehr oder weniger politisch aktiv. Ob nun bewusst oder unbewusst. Ich sag dazu gern: „Man kann sich nicht, nicht verhalten.“ 🙂

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Indem wir drüber reden. Alltäglich drüber reden und thematisieren. Egal ob an Schulen, in Vereinen, zu Hause auf der Couch, beim Sport, in der Kunst oder wo auch immer. Ich denke, in den letzten fünf Jahren ist das Bewusstsein in der Gesellschaft auch wieder stark angestiegen.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Uff – ich hoffe, dass wir unter Beweis stellen, wie wandlungsfähig, innovativ und robust wir Menschen sind. Und dass wir es schaffen, eine ökologische Gesellschaft & Lebensweise auf die Beine zu stellen, die im Einklang mit unserem Planeten funktioniert.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Vieles. Empathie. Kreativität. Den Willen zuzuhören. Den Willen zu reden. Den Willen zu verstehen. Anstand. Wandlungsfähigkeit. Milde&Nachsicht. Respekt – Miteinander. Füreinander. Mit sich selbst. Optimismus. Pragmatismus. Ehrlichkeit. Neugier. Und noch so vieles mehr und dass all das viel mehr und öfter alltäglich gelebt wird.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Was das für mich bedeutet? Sehr viel. Das sind Grundbestandteile einer friedlichen Gesellschaft und eines lebenswerten Miteinanders. Ohne Freiheit, Menschenwürde und Gleichberechtigung leben wir einfach nicht auf einer fairen Welt.

Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sehr, sehr, sehr, seeeeeeeehr wichtig.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Indem wir ganz bewusst demokratisch handeln und leben. Wenn jeder in seinem/ihrem „Feld“, sei es in der Kunst/Musik, Wissenschaft, Politik, Medizin, Medien, Informatik, Sport oder wo auch immer sich alltäglich stark macht für ein gerechtes, faires, offenes Miteinander, dann ist – denke ich – schon viel geholfen. Ich finde immer, es werden die kleinen Handlungen unterschätzt. Man muss nicht gleich ne große Demo auf die Beine stellen, um Menschen wach zu rütteln (find ich gut, nicht dass wir uns falsch verstehen). Manche Menschen sind lieber leise & ruhige Kaliber und schreiben, malen, musizieren, programmieren, spielen Fussball für eine bessere Gesellschaft. Sie sollten genau das weiterhin und ganz selbstbewusst/entschieden tun. Vielleicht hier und da ein bisschen „öffentlichkeitswirksamer“, damit der Rest der Gesellschaft sieht, wo überall Demokratie gelebt wird. Aber auch das kann Mensch ja lernen 🙂

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Ich habe keine Ahnung. Ehrlich nicht. Es gibt so viele Erklärungen und ich denke, an allen wird etwas dran sein. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es für solch komplexe „Probleme“ EINE einfache Erklärung gibt.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Das wäre fatal. Bei dem Gedanken daran wird mir ein wenig übel. Daher tue ich mein Bestes, in der Hoffnung, dass es nicht dazu kommt.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Mitmachen, wenn Zeit, Können und Muse da sind. Finanziell unterstützen, wenn das Geld dafür reicht. Es weitererzählen und damit bekannter machen, wenn einem Öffentlichkeitsarbeit liegt.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Bildung. Bildung. Bildung … und ganz viel Geduld und Muse mit einem Quäntchen Hoffnung.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Indem die gesellschaftlichen Problemthemen, Klimawandel, Altersarmut, Soziale Ungerechtigkeit&Ungleicheit, Pflegenotstand nicht nur ernstgenommen, sondern auch aktiv angegangen werden. Unter anderem … auch hier gibts vermutlich nicht „DIE eine einfache Lösung“.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Auch das hat vermutliche viele Gründe. Die einen haben Angst, weil es ihnen (im doch vorwiegend „weißen Sachsen“) fremd ist. Die anderen, weil sie mit Ressentiments aufgewachsen und erzogen wurden. Die nächsten, weil sie persönlich schlechte Erfahrungen gemacht haben und diese Erfahrung nun auf alle anderen übertragen. Es wird auch unsere kolonialistische/nationalsozialistische Vergangenheit (und Gegenwart) und die damit einhergehende tendentiell arrogante/menschenfeindliche Grundhaltung gewisser Gruppen ihren Anteil haben …

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Nein, das glaube ich nicht.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich finde, wir sollten uns auf LÖSUNGEN und auf unser WOFÜR konzentrieren, anstatt Probleme & vermeintliche Unterschiede wie einen heiligen Gral immer wieder raus zu kramen und ihnen endlos hinterherzujagen.
JA, es gibt dringende Aufgaben, die lösen sich aber nicht von allein. Daher „focus on solution“ und mehr Mut. Am besten Hand in Hand, egal ob alt, jung, besorgt, optimistisch oder was auch immer man ist.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Sehr wichtig.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Ich denke, aus meinen bisherigen Antworten lässt sich da schon ganz gut was als „Handlungsoption“ rausziehen 😉

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Das demokratische „Mehrheitsprinzip“. Wobei aber bitte niemals vergessen werden darf, dass sich eine (gerechte) Gesellschaft daran messen lassen sollte, wie sie mit Minderheiten umspringt.

Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich verbinde damit ein vorhandenes „WIR“, dass sich nicht von gruseligen rechten Tendenzen und Widrigkeiten einer unruhigen Gesellschaft beirren lässt, sondern weiter für eine offene und freundliche Gesellschaft einsteht. Menschen, die weiterhin ihr Bestes tun und lebensfroh bleiben.

INTERVIEW MIT MADLYN SAUER

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von Erfurt. Meine erste Berührung mit einem Nazi war, als wir bei einem Kumpel abhangen und sein Vater NPD- Kulis an uns Kinder und Jugendliche verteilte. Manchmal legte er auch Nazimusik ein, in der DEUTSCHE Kinder „Tötet die Juden“ sangen. Das klingt extrem, habe ich aber als Kind nie so wahrgenommen. Ich hatte immer eher Angst vor Punker. Nazis gab es viele, die kannte ich bereits.
Ich lebe seit sechs Jahren in Dresden und studiere in den letzten Diplomzügen an der Hochschule für Bildende Künste. Ich engagiere mich innerhalb der Hochschulpolitik und versuche immer wieder langfristige Projekte zu initiieren, die sich mit rechten Strukturen, der Neuen Rechten und der DDR auseinandersetzen. Da ich überspitzt gesprochen in einer „typischen“ DDR-Familie großgeworden bin, waren diese beiden Themen schon früh ersichtlich: Rassismus gegen Andersaussehende und alle, die nicht der „Norm“ entsprechen, gepaart mit einem verschrobenen Überlegenheitsgefühl den „Wessis“ gegenüber.
In meiner Familie hieß es immer: Keinen Afrikaner, keinen Rothaarigen und vor allem keinen Wessi.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin aktuell an zwei Orten aktiv: einmal im StuRa der HfBK Dresden und einmal als Künstlerin in meinem eigenem Projekt. Da ich in Dresden lebe, bin ich in vor allem in Dresden aktiv. Das „Spannende“ an Dresden als Künstler:in ist, dass man noch sehr viele Grenzen, Normen und Selbstverständlichkeiten durchbrechen kann. Das weniger Spannende daran ist, dass Dresden eine richtige CDU-Stadt ist: mind. Mitte-rechts mit wahnsinniger Beamtenmanier. Und dann auch noch dieser Barock. Als progressiver und linker Mensch hat man es in Dresden einfach nicht leicht! 🙂
Im StudierendenRat der HfBK Dresden versuche ich einerseits den verstaubten und zutiefst von sich selbst gelangweilten Kasten zu bewegen. Bspw. politisch-motivierte Kunst als Kunst anzusehen. An der HfBK Dresden gibt es viele mit einer Kunstauffassung aus den 50er Jahren.
Zweitens habe ich mit einem Grafiker das „Institut für BESSERE Staaatspolitik“ ganz frisch gegründet. Wie der Name schon andeutet, begreifen wir uns als Pendant zum rechten „Institut für Staatspolitik“ von u. a. Götz Kubitschek auf Schnellroda.
Das IfBS ist ein progressiver ThinkTank für politische Kunst, Diskurs und Zivilgesellschaft. Es gibt diesen August die erste Sommerakademie, der eigene Verlag Herakles gibt die ersten beiden Publikationen heraus, Lesungen, theatrale Formate – kurzum: Es ist ein großes, nachhaltiges Projekt, welches neue Synergien aus Kunst, Wissenschaft, Literatur und Aktivismus entstehen lässt. Dabei haben wir eine europaweite Vernetzung von politischen Künstler:innen, Autor:innen und Journalist:innen im Auge. Es gibt ja mitterweile viele Länder, in denen demokratisch gesinnte Akteur:innen in ihrer Arbeit behindert bis verfolgt werden.
Wofür engagiere ich mich? Ich engagiere mich gegen Rassismus, Ressentiments, Antisemitismus, Diskriminierung aller Art. Positiv formuliert, ich engagiere mich dafür, dass jede:r sein Leben und sich selbst so gestalten und entwickeln kann, wie er/sie möchte, so lange niemand durch diese Lebensgestaltung Schaden nimmt.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Frustriend, wirklich zutiefst frustrierend!
In Sachsen Politik zu machen, ist auch lustig, zynisch und sarkastisch. Zum größten Teil aber traurig. Man braucht ein dickes Fell und ich kann jeden verstehen, der dieses Fell nicht aufbringen kann und wegziehen möchte. Mal fünf Jahre in Berlin zu leben, stelle ich mir sehr erholsam vor! 🙂

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Ich denke, es ist nicht wichtig, dass sich jeder mit Politik beschäftigt. Würde jede:r sich mit Politik beschäftigen und sich engagieren wollen, hätten wir ein reines Chaos.
Allerdings muss dringend die Zahl derer steigen, die dieses Engagement bisher ausüben und für die vielen anderen übernehmen. Es sind immer die Gleichen, die irgendwann ausgebrannt sind. Und daran sind nicht allein die rechten Strukturen Schuld, sondern die Menge an Menschen, die sich eher als „unpolitisch“ beschreiben und ihr Augenmerk auf ihr Privatleben legen. Diese Personen vergessen oft, dass sie das alles nur machen können, weil es Einzelne gibt, die sich zu Tode engagieren. Drei Stunden pro Woche für die Gemeinschaft aufzubringen, reicht ja. Das kann die Nachbarschaftsinitiative sein, ein Verein – was auch immer. Demokratie braucht die Ideen und Handlungen vieler Menschen an jeder Ecke, sonst kommt immer wieder Absolutismus, Monarchie oder Diktatur heraus.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Indem man sie mit Spaß verbindet und mit Zukunftsideen. Wir leben in einer Konsumgesellschaft. Es wird nur das gemacht, was Spaß und Mehrwert für einen selbst bringt. Das können wir doof und egoistisch finden, ist aber nun mal so. Und ich kann das verstehen. Ich selbst habe Spaß an Politik, doch wie begeistere ich einen Menschen, der das alles totlangweilig findet? Wenn demokratische Sturkturen gestärkt werden sollen, dann müssen sie den Einzelnen etwas Positives geben, eine gute Erfahrung, eine positive Ressonanz. Und für alle, die nicht die Welt retten wollen und einfach ein gutes Leben haben wollen, muss mindestens ein herzhaftes Lachen oder ein gutes Essen mit netten Menschen drin sein.
Das heißt aber auch, dass die in Politik Geübten offener und toleranter mit jenen sein müssen, die sich gerade erst ausprobieren und mit politischen Instrumenten und politischer Sprache noch nicht so geübt sind.

Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe sind unsere Erfahrungen. Festgehalten in Büchern, Dokumenten, Filmen, Erzählungen, Märchen, Mythen, Mimiken und Gesten. Für unsere Zukunft müssen wir jenes loslassen, indem wir uns warm gebettet haben: unsere unsinnigen linearen Erzählungen von Ursache, Wirkung, Folgen etc. Wenn wir verstehen, dass Erbe nur das ist, was wir rückblickend zusammengebaut haben, um die Welt, unsere Gefühle und Gedanken zu verstehen, dann könnten wir beginnen Politik endlich losgelöst der Großen Erzählungen von Linearität zu gestalten.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Neugierde, mehr Freude, mehr von der Erfahrung der Selbstbestimmung und mehr Freundlichkeit.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Freiheit bedeutet für mich bildlich gesprochen: Ich habe ein Haus und kenne dieses. Ich weiß, wo Fenster und Türen sind, wo der Balkon, wo der Garten und in diesem Wissen um meinen Rahmen, um diese Festigkeit, kann ich beginnen zu gestalten. Freiheit bedeutet für mich die Grenzen zu kennen und diese für eine freie Gestaltung zu nutzen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sehr wichtig. Ich glaube, das ist eine rhetorische Frage. Jeder weiß, wie wichtig das ist. Selbst die Nazis und die Rechtskonservativen wissen das, die wollen den Kunst- und Kulturbereich ja so unbedingt selbst gestalten.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Also vor der Landtagswahl würde ich sagen nicht viel. Einen Monat vor der Landtagswahl mit einer demokratischen Stärkung, die über Symbolik hinausgeht, erst einmal beginnen und gleich Resultate sehen zu wollen, ist vermessen und naiv. Wichtig ist, dass jede:r Bürger:in diesen demokratischen Auftrag nachhaltig für sich und die Gesellschaft angeht.
Und wie man das machen kann? Mit der Nachbarin beim Bäcker reden bis hin zu an Demonstrationen teilnehmen oder in einen Verein eintreten. Es gibt sehr viele Möglichkeiten solidarische Strukturen zu stärken.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Frustration, Ressentiments und das Gefühl im Westen ein Wendeverlierer zu sein, obwohl sehr viele Menschen ein Haus besitzen, mind. zwei Autos fahren, jährliche Urlaube machen können etc. Das heißt, Menschen, die viel besitzen und viel haben, sind der Meinung sie hätten zu wenig. Das ist so eine typische DDR-Erfahrung. Man hatte weniger als die im Westen. Gleichzeitig hat diese Erfahrung des Weniger-Habens und Weniger-Wertseins seine durch den Westen vermittelte Wahrheit. In den Neuen Bundesländern verdienen die Menschen weniger, sie erhalten weniger Rente, die Infrastrukturen sind oftmals schlechter. Dieses 30-jährige Brodeln und das Unvermögen der Menschen, diese Frustration zu kanalisieren und erneut auf die Straße zu bringen, sind meines Erachtens einige dieser Gründe. Dann gibt es noch den Grund, dass es in der DDR starke rechte Strukturen gab. Und dann paaren sich diese Erfahrungen noch mit einer Hass- und Trotzhaltung, die sich über die Jahre aufgebaut hat, wenn sie nicht 40 Jahre lang von der SED in die Köpfe gebaut wurde. Es gibt viele viele Probleme, die es gibt. Es gibt viele Ressentiments, die ich gut verstehe. Und dann wären noch die 1.000 andere Gründe, für dich ich keine Zeit habe, sie hier anzubringen 🙂

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Naja, für die Rechtskonservativen hat das gute Auswirkungen, weil sie ihre weiße Vorherrschaft wieder stärken können. Für alle anderen, die keine Rechtskonservativen und Nazis sind, wird es nicht besser – und zwar in keinem Punkt. Lest einfach das „Regierungsprogramm“ oder die Artikel dazu.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Indem sich Professionelle ihres Fachs wie Kulturmanager:innen, Grafikdesigner:innen etc. bereit erklären, diesen Initiativen zu helfen. Oftmals fehlt es an Expertise, an Zeit, an Mitmachenden (jede:r hat nun mal nur zwei Hände) und natürlich wie immer an Geld. Würde aber die Expertise als Engagement eingebracht werden, hätte man oftmals auch weniger Geldprobleme in den Vereinen, Projekten und Gruppen.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Gar nicht, deswegen heißen sie Nichtwähler:innen. Wenn sie nicht wählen gehen wollen, ist es ihr gutes Recht. Man hat ja Wahlrecht und nicht Wahlpflicht. Allerdings wäre es natürlich gut, dass die eigene Stimme gestrichen wird, wenn man keine Partei wählen möchte.
Die Sache mit der hohen Nichtwähler:innenzahl ist ein Parteienproblem und es gibt seit Jahren gute Ansätze, wie man das ändern könnte. Es setzt nur keiner um.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Gute Frage!

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Weil es in unserer Kultur jahrhundertelang antrainiert wurde.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Das ist keine Kluft mehr, sondern ein Krater.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Schwierig, in einer Demokratie sollte man auf beides eingehen, wenn man Politiker:in ist. Die „Alten“ müssen einfach verstehen und das radikal durch die Medien vermittelt, dass ihre Verhaltensweisen ihren Kindern und Enkeln die Zukunft nehmen könnte, in dem Sinn der Lebensmöglichkeiten. Machen wir uns nichts vor, unser Leben wird in Zukunft schwieriger werden. Ob nun in 30 oder 50 Jahren. Das nicht angehen zu wollen, zeigt, dass es einfacher keiner versteht. Alle denken, es geht schon gut, weil es immer gut gegangen ist (jedenfalls für die Weißen in Europa und im Westen). Aber das ist zu Ende, diese lineare Erzählung ist zu Ende! Es ist doch auch ein Bedürfnis der Großmutter, dass ihre Enkelin ein gutes Leben führen kann und das muss vermittelt werden.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Sehr wichtig.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

In dem wir überhaupt mal eine Demokratie aufbauen?

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Die Hoffnung, dass wir auch wirklich mehr sind.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ja, genau das.

INTERVIEW MIT STEPHAN ZWERENZ

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich bin freischaffender Journalist, Kurator, Veranstalter, Dramaturg und Schriftsteller. Mit Freunden zusammen betreibe ich den Dresdner Projektraum Hole of Fame. Dort organisiere und konzipiere ich Ausstellungen, Konzerte, Lesungen und andere Veranstaltungen. Nach dem Prinzip der Selbstorganisation stellen wir im Hole of Fame gemeinsam ein spartenübergreifendes Kulturprogramm zusammen – natürlich ehrenamtlich. Das Wichtigste dabei ist vor allem, dass wir Menschen miteinander in Kontakt bringen, die sonst wahrscheinlich nie zueinander gefunden hätten. Wir netzwerken viel und beraten vor allem junge Künstlerinnen und Künstler bei ihrer Arbeit, geben ihnen Raum sich zu entfalten und ihre Kunst zu präsentieren.

wbh: Wofür engagierst du dich und trittst du ein?

In Folge der kontinuierlichen und zermürbenden Pegida-Demonstrationen haben wir im Hole of Fame sehr viel darüber nachgedacht, was man Sinnvolles gegen Hass und Hetze tun kann. Da Pegida von Beginn an den Dialog konsequent verweigert hat, stand man jeden Montag einem wütenden Mob gegenüber und hat sich gefragt: Was machen wir hier eigentlich? Daher haben wir uns relativ schnell dazu entschieden, unsere Zeit sinnvoller zu nutzen und dem Ganzen etwas Konstruktives entgegenzusetzen. Dabei haben wir unter anderem verschiedene Veranstaltungsformate entwickelt, die sich mit dem Thema „Flucht und Migration“ differenziert auseinandersetzen. In der Reihe „Contact Perspectives“ haben wir uns (teilweise in Zusammenarbeit mit Amnesty International) verschiedene Fotograf*innen und Künstler*innen eingeladen, die sich entweder dokumentarisch oder künstlerisch mit dem Thema beschäftigen. Mit ihnen haben wir dann mehrere Themenausstellungen konzipiert, die verschiedene Perspektiven gezeigt und viele Fakten gebündelt haben.

Unsere aktuelle Ausstellungsreihe „Alles Jetzt“ widmet sich zum Beispiel dem Thema „Ideologie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Uns ist es immer wichtig, dass unsere Austellungen auch Inhalte vermitteln und zur Meinungsbildung beitragen. Wir verzichten dabei auf erhobene Zeigefinger. Das finden wir sehr wichtig, weil wir wollen, dass sich unsere Besucher wirklich mit den Themen beschäftigen, ohne dass sie dabei unsere eigene Meinung vorgesetzt bekommen, die sie dann einfach nachsprechen können. Nein, die Leute sollen sich selbst eine Meinung bilden, miteinander ins Gespräch kommen und daran auch ihre eigenen Argumente schärfen.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Die Frage ist schwer zu beantworten. Zum einen ist politische Arbeit immer eine zermürbende und langwierige Angelegenheit. Zum anderen werden zwar bei meiner Arbeit Fragen des Gemeinwesens gestellt und teilweise auch Lösungen vorgeschlagen. Letztlich sehe ich mich aber eher in der Rolle, den Menschen bei ihrer Meinungsbildung beizustehen und ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, damit sie selbst aktiv werden können. So sehe ich mich in meiner Rolle als Journalist, als Künstler und als Veranstalter.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Meiner Auffassung nach ist Politik allgegenwärtig. Man kann sozusagen nicht nicht politisch handeln, auch wenn man sich dem vielleicht nicht bewusst ist. Daher ist es wichtig über Meinungen, Handlungen und Beschlüsse stets informiert zu sein, um sich gegebenenfalls auch einzumischen. Ein gutes Werkzeug ist für mich der ethische Imperativ von Heinz von Foerster: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“ Es geht also darum zu zeigen, dass es auch anders geht, um Probleme und Herausforderungen gemeinsam zu bearbeiten und dafür sinnvolle Lösungsansätze zu finden. Das kann schon in ganz kleinen Kreisen passieren, zum Beispiel, indem man ganz selbstverständlich einem alten Menschen seinen Sitzplatz in der Bahn anbietet oder seine Nachbarn zum gemeinsamen Gartenfest einlädt, ganz gleich welcher Meinung, Religion oder Nationalität sie angehören. Ich bin sogar der Meinung, dass gerade diese kleinen Gesten oftmals mehr zum gesellschaftlichen Miteinander beitragen als große politische Entscheidungen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Ich glaube, sie sind schon sehr stark in der Öffentlichkeit präsent, nur mit den Zugangsweisen hab ich da so meine Probleme. Das fängt schon dabei an, dass zum Beispiel viele Menschen Artikel in den sozialen Medien gar nicht mehr durchlesen, aber ihren Kommentar unter den Beitrag setzen. Wie kann ich bei etwas mitreden, von dem ich überhaupt gar keine Ahnung habe? Aber gerade so wird heutzutage die öffentliche Meinung beeinflusst. Ich finde das erschreckend. Das geht dann aber weiter, wenn zum Beispiel Medien (oftmals aus Zeit- und Kostengründen) undifferenzierte und einseitige Artikel verfassen. Wie will man sich da ernsthaft mit Politik beschäftigen? Zum Glück gibt es da zahlreiche positive Gegenbeispiele, allerdings haben die oftmals eben auch weniger Rezipienten. Es müssen da meiner Meinung nach auch andere Formate geschaffen werden. Eine tolle Initiative ist da zum Beispiel „Kommune im Dialog“, eine volksnahe Veranstaltungsreihe der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Unser Erbe, speziell im Osten, ist unsere Prägung durch zwei Diktaturen, die sich ideologisch diametral gegenüberstehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser besondere Sachverhalt immer noch sehr viele Menschen hier verwirrt, vor allem weil daraus hervorgegangene Traumata nicht ausreichend aufgearbeitet worden sind und der Kapitalismus ein System ist, das auch nicht gerade glücklich macht. In Zukunft sollten wir uns mehr mit der Vergangenheit auseinandersetzen, um uns über unsere Gegenwart bewusst zu werden. Dabei sollten wir endlich mal anfangen, aus der Geschichte zu lernen und die Fehler, die wir begangen haben, nicht wieder tun.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Dialog und mehr öffentliche Räume des Miteinanders. Viele fühlen sich benachteiligt oder nicht ausreichend beachtet. Man sollte ihnen öfters das Gefühl geben, dass sie von der Gesellschaft gebraucht werden und im Dialog auch wirklich auf ihre Bedürfnisse eingehen. Tatsächlich bin ich auch der Meinung, dass die meisten Leute zu viel arbeiten und das auch noch in Jobs, die sie nicht ausfüllen. Das schlägt auf die körperliche und geistige Gesundheit und lässt viele Menschen traurig und verbittert in ihre Fernsehsessel fallen. Oftmals führt das zu Aggressionen, die sie dann nicht selten an anderen Menschen rauslassen.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Auch wenn diese Begriffe in vielen Diskussionen oftmals nur zu leeren Worthülsen verkommen, sind sie für mich die wichtigsten Errungenschaften unserer Gesellschaft, die wir mit allen Mitteln verteidigen müssen. Allerdings betrachte ich jeden der Begriff als eine Baustelle. Es gibt noch viel zu tun. Wir dürfen aber vor allem eines nicht tun: Rückschritte machen.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Kunst, Kultur usw. braucht jeder Mensch. Jedes totalitäre System hat das begriffen und auf perverse Art verkehrt. Erst durch diese Einflüsse lernen wir, was es heißt Menschen zu sein. Erst dadurch entwickeln wir ein moralisches Wertverständnis, das uns dazu befähigt gesellschaftsfähig zu werden. Vor allem psychische Betreuung ist in vielen Kreisen noch ein Tabu, das wir überwinden sollten. Psychische Probleme hat jeder Mensch. Dessen sollten wir uns bewusst werden, um offen darüber reden zu können.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Ich befürchte schon fast, dass es zum Handeln zu spät ist. Allerdings sollten wir stets den Dialog suchen und dabei aufpassen, dass uns die Argumente nicht ausgehen. Es ist allerdings äußerst schwierig die typischen AfD-Wähler*innen zu erreichen, denn die sind meist relativ alt, wohnen auf dem Land und sind von Armut bedroht. Man sollte also durchaus versuchen, mehr Angebote für diese Zielgruppe auf dem Land zu schaffen und die Infrastruktur durch kulturelle und soziale Initiativen zu stärken. Vor allem muss durch solche Initiativen auch die Jugend erreicht werden. Gerade perspektivlose Menschen sind durch eine extreme Ideologie leicht zu beeinflussen, weil sie ihnen eine Orientierung gibt.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Dafür gibt es viele Gründe. Sicherlich ist eines der Hauptprobleme, dass sich viele Menschen von der Regierung im Stich gelassen fühlen. Ich kenne das vor allem aus meiner Heimat im südlichen Teil Sachsen-Anhalts. Da haben zum Beispiel zahlreiche Bürger*innen seit Jahren die Renovierung von Schulen, Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen gefordert und die Gelder nicht bewilligt bekommen. Als dann die sogenannte „Flüchtlingskrise“ kam, standen aber plötzlich Milliarden zur Verfügung. Dahingehend kann ich den Hass auch irgendwie nachvollziehen, der sich natürlich wieder an den falschen Leuten entlädt. Es müssen eben auch mal Reaktionen „von oben“ kommen. Damit meine ich natürlich die Regierung, die ja bei gesellschaftlichen Fragen tatsächlich auf vielen Ebenen versagt hat. Die politische Linke war hier mal die große Opposition, die SPD war mal eine Arbeiterpartei, die sich für die Probleme der „kleinen Männer und Frauen“ eingesetzt hat. Was ist daraus geworden? Mittlerweile hat man das Gefühl, dass die wichtigen gesellschaftlichen Probleme von Rechtsaußen angesprochen werden. Und das ist das Problem, nämlich die soziale Ungerechtigkeit und nicht die Flüchtlinge. Das haben nur die meisten Parteien noch nicht begriffen, am allerwenigstens aber die AfD und ihre Wähler*innen. Natürlich kommen da aber auch noch Rassismus, Vorurteile, Ressentiments, Fremdenhass und bewusst gestreute Flüchtlingsmythen hinzu. Und vor allem die eingeschränkten Sichtweisen mancher Menschen, die noch nicht begriffen haben, dass zu einer funktionierenden Gesellschaft auch ehrenamtliches Engagement gehört.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Wenn man bedenkt, auf welchem Niveau die AfD allein schon in ihrem Wahlkampf agiert, lässt das darauf schließen, wie herablassend und menschenverachtend sie mit gewissen Bevölkerungsschichten umgehen wird. Mich persönlich lässt der Gedanke innerlich erschaudern, auch weil ich den Großteil der AfD-Politiker für absolut inkompetent halte. Im kulturellen Bereich spürt man bereits jetzt den Druck der AfD, die manchen Kulturinstitutionen bereits offen androht, sie abzuschaffen und ihnen Gelder zu streichen. Das ist beängstigend, vor allem deprimierend, weil sich diese Institutionen seit Jahrzehnten etwas aufgebaut haben, dass die AfD in kürzester Zeit vernichten könnte. Am Schlimmsten finde ich allerdings, dass die AfD in ihrem Wahlprogramm Begriffe benutzt wie „deutsche Kultur“, aber keine Ahnung hat, was das eigentlich bedeutet. Sie scheinen nicht zu wissen, wie Künstler*innen und Kulturschaffende heutzutage arbeiten. Man braucht sich also keine Hoffnung machen, von ihnen finanziell unterstützt zu werden. Ihr Verständnis von Kultur ist ausgesprochen homogen, rückwärtsgewandt und verträgt sich nicht mit der gegenwärtigen Realität. Sie wollen eine Einheitskultur. So lese ich zumindest das Parteiprogramm. Wirklich erschreckend finde ich zudem die Forderung den Rundfunkbeitrag abzuschaffen. Für mich ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk die einzige Möglichkeit, den unabhängigen Qualitätsjournalismus in der deutschen Funk- und Fernsehlandschaft zu bewahren.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Geld spenden, Veranstaltungen besuchen, auf Demos gehen, über sie reden, berichten und für mehr Sichtbarkeit sorgen (was in Zeiten der sozialen Medien jedem möglich ist). Und natürlich selber mitmachen!

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Reden und diskutieren. Man muss ihnen zeigen, dass es etwas bringt, dass ihre Stimme zählt und dass nicht jede Partei gleich ist, auch wenn sich das manchmal so anfühlt. Man muss ihnen vor allem auch vermitteln, dass man sich nicht zu einhundert Prozent mit einer Partei identifizieren muss, um sie als wählbar zu erachten. Aber vor allem muss man ihr Interesse wecken und ihnen zeigen, dass es Leute gibt, die sich dann auch für ihre Interessen einsetzen.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Zunächst einmal muss man ihre Ängste ernst nehmen. Sie fühlen sich ja meistens nicht nur so, sondern sind tatsächlich benachteiligt und abgehängt. Und viele werden Zeit ihres Lebens auch aus diesem Zustand nicht mehr herauskommen. Aber vielleicht sollte man ihnen vermitteln, dass das überhaupt nicht schlimm ist. Als Künstler muss man sich ja auch damit arrangieren, dass man zu den Verlierern der Gesellschaft gehört. Man hat aber eben Träume und einen gewissen Lebenssinn gefunden. Den muss zwar jeder für sich selbst entdecken, doch man kann ihnen Möglichkeiten zeigen. Der Mensch braucht Interessen und Hobbys. Viele haben so etwas tatsächlich nicht, daher suchen sie nach destruktiven Sachen, echauffieren sich über ihre Nachbarn, die Ausländer und natürlich „die da oben“, also alle, die gerade nicht da sind. Die wenigen Dinge, die sie haben, sind für sie umso wertvoller, daher ist auch ihre Angst größer, diese zu verlieren. Man kann ihnen aber auch zeigen, dass diese Dinge wertvoller werden, wenn man sie miteinander teilt.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Wir haben alle Angst vor dem Fremden. Das ist ganz natürlich. Ebenso natürlich ist es, dass uns negative Dinge grundsätzlich stärker in Erinnerung bleiben. Was die Muslime betrifft, so glaube ich, dass unser Bild von dieser Religion durch die Medien spätestens seit 9/11 grundsätzlich negativ geprägt wurde. Das waren also 14 Jahre bis zur Flüchtlingskrise, in der die meisten von uns Muslime fast ausschließlich mit Terroristen assoziierten. Dass dann plötzlich eine so ungeheure Zahl von Flüchtlingen muslimischen Glaubens mit einmal kam, kann schon bedrohlich wirken. Allerdings hatten die, die Angst haben, in den seltensten Fällen wirklich Kontakt mit Migrant*innen gehabt. Wenn sie wirklich mal welche kennenlernen würden, dann würden sie sehr schnell merken, dass wir uns alle sehr ähnlich sind, ganz gleich aus welchem Kulturkreis wir stammen oder welcher Religion wir angehören. Das, wovor sie sich fürchten, sind bloß Klischees und Vorurteile.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Das kommt ganz darauf an. Wenn sich der ein oder andere „besorgte Bürger“ mehr mit Politik auseinandersetzen würde, könnte er schon entdecken, dass man sich auch für ihn einsetzt. Allerdings wird das meistens nicht unbedingt so von der Regierung kommuniziert. Viele Politiker scheinen sich eher für die Interessen von Großkonzernen einzusetzen, als für die Belange der „kleinen Männer und Frauen“. Wie abschätzig und herablassend, wie arrogant sich der ein oder andere Politiker gibt, kann schon abstoßend wirken. Allerdings ist das auch so eine Art Berufskrankheit. Um sich etwa im Bundestag durchzusetzen, muss man sich ein dickes Fell zulegen. Da besteht schon eine sehr große Kluft, denke ich, die durch ein fehlendes Miteinander verursacht werden.

Ich glaube, viele Menschen verstehen auch gar nicht, wie politische Arbeit in der Praxis funktioniert oder wie das Subsidiaritätsprinzip strukturiert ist, verwechseln dementsprechend Zuständigkeiten oder sind sich nicht darüber bewusst, dass man vor allem die Lokalpolitiker*innen bei vielen Belangen einfach direkt ansprechen kann. Wenn man Glück hat, findet man da auch sehr fähige Leute, die sich dann sehr ambitioniert für die eigenen Belange einsetzen.

Ich glaube, es wäre schon viel getan, wenn man die Menschen mehr noch für politische Bildung begeistern könnte. Zudem sollten die Altparteien auch wieder mehr an ihrem Profil und an ihrem Image arbeiten. Das ist, glaube ich, auch ein entscheidender Grund, weshalb die AfD und auch die Grünen in der Vergangenheit so viel mehr Zuspruch gewonnen haben. Sie haben eben klarere Konzepte.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Ich finde, man sollte generell mehr auf die Belange der Bürger*innen eingehen. Jedes Bedürfnis ist es wert, dass man darauf eingeht. Die Jugend hat meistens nicht so viele Mittel zur Verfügung, um Dinge zu verändern. Umso mehr sollte diese Bevölkerungsschicht berücksichtigt werden. Viele Probleme könnten gelöst werden, bevor sie entstehen. Ich persönlich komme ursprünglich aus einer Gegend mit sehr wenigen Angeboten für Jugendliche. Ich empfand das als sehr deprimierend. Kaum einer von meinen Bekannten und Freunden hatte Perspektiven oder Werte, an denen sie sich hätten orientieren können und die sie zu einem eigenständigen und glücklichen Leben befähigt hätten. Die meisten sind abgestürzt und einige sind aus dem Loch, in das sie gefallen sind, nicht mehr herausgekommen.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Das sind für mich Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Ich glaube, dass vor allem viele Leute im Osten die Tragweite des zivilgesellschaftlichen Engagements noch nicht richtig begriffen haben. In der DDR wurde dahingehend viel vom Staat geregelt. Materielle Engpässe musste man dann wiederum durch zwischenmenschlichen Tauschhandel ausbügeln. In unserer heutigen Gesellschaft, in der materielle Engpässe eigentlich nicht mehr existieren, muss kaum noch jemand die Hilfe eines anderen in Anspruch nehmen, was schade ist, denn zusammen etwas aufzubauen, macht eben mehr Spaß. Bei anderen Anliegen, die das kommunale Miteinander betreffen, muss man sich ehrenamtlich organisieren, um etwas verändern zu können. Es gibt dazu auch zahlreiche Fördermöglichkeiten. Man muss den Leuten vor allem diese Möglichkeiten zeigen und sie motivieren selbst tätig zu werden. Vor allem aber sollte man darauf achten, dass sich Zivilcourage nicht zu sehr nach Arbeit anfühlt. Nur so kann man genug Kraft aufwenden, um dauerhaft am Ball zu bleiben.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Ich finde, dass Entscheidungsprozesse transparenter werden sollten. Es sollte für die Bürger*innen einfacher werden, an Entscheidungsprozesses teilzunehmen und sich über Planungen – vor allem im kommunalen Bereich – leichter zu informieren und zwar auf eine übersichtliche und benutzerfreundliche Art und Weise. Ich bin kein Fan der direkten Demokratie. Nicht jeder sollte über alles abstimmen dürfen oder gar müssen. Aber es sollte allen einfacherer gemacht werden, an den Prozessen mitwirken zu können, die sie unmittelbar betreffen und für die sie sich interessieren. Das Internet bietet eigentlich so viele Möglichkeiten dafür. Wir sollten anfangen, diese Möglichkeiten zu erforschen und umzusetzen.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Ich bin da gespaltener Meinung. Auf der einen Seite musste man den rechtsextremen Krawallen in Chemnitz unbedingt etwas entgegensetzen, um klare Kante zu zeigen. Auf der anderen Seite verursacht so etwas natürlich immer auch Ressentiments bei den Leuten, die man eigentlich erreichen will, während man selbst sein Gewissen beruhigt und sich sagt: Ich war da, also hab ich was gemacht. Was mir dabei aber besonders negativ aufstößt, ist, dass der Sächsische Verfassungsschutz das #Wirsindmehr-Konzert als den Schulterschluss zwischen Linksextremen und Nicht-Extremisten betrachtet. Da tun sich Abgründe für mich auf, die nur schwer zu ertragen sind. Wenn der Inlandsgeheimdienst ein Konzert verurteilt, dass unter anderem von unserem Bundespräsidenten unterstützt wurde, schrillen bei mir alle Alarmglocken. Gerade diese Beurteilung des LfV lässt für mich nur den Schluss zu: Jetzt erst recht!

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Ich denke dabei, dass man nicht gleich die Flinte ins Korn werfen sollte, wenn man mit den aktuellen Zuständen nicht zufrieden ist. Man rennt ja auch nicht einfach weg, wenn das eigene Haus in Flammen steht, sondern setzt alles daran, das Feuer zu löschen.

Foto: Philipp Baumgarten

INTERVIEW MIT MICHAL – BANDA COMUNALE

wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.

Ich heiße Michal, komme gebürtig aus Polen, lebe seit 1989 in Deutschland, davon seit 20 Jahren in Dresden. Ich bin Architekt und Musiker.

wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?

Ich bin Klarinettist in der Banda Internationale/Comunale und spiele mit meiner Band seit fast 20 Jahren mit Blasmusik gegen Rechts an, gegen Fremdenfeindlichkeit und für eine tolerante, offene Gesellschaft.

wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?

Manchmal demotivierend, anstrengend, enttäuschend, erschreckend, frustrierend. Auf der anderen Seite aber auch ganz gegenteilig. Wir machen in erster Linie Musik, unterhalten Menschen, schaffen Momente des Frohsinns und der Unbekümmertheit, des Beisammenseins. Hier fängt es vielleicht an, interessant zu werden: Gemeinsames Musizieren, positive Erlebnisse bringen Menschen nicht nur zusammen, sondern schaffen Räume und Aufmerksamkeit für Botschaften und Bilder, die aktuell untergehen. Da wir Einflüsse aus verschiedenen Kulturen und Stilrichtungen in unsere Musik einfließen lassen, hört uns manchmal sowohl der Punk, das Kindergartenkind wie auch die betagte Dame aus dem Erdgeschoss zu. Unter Umständen erreichen wir gleichzeitig Menschen, die mit anderen Formen des Dialogs nicht erreichbar wären oder sich nicht begegnen würden und können unsere Position nicht nur loswerden, sondern auch auf der Bühne vorleben.

wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?

Weil sonst Hass, Frust, autoritäre Weltbilder, Ausgrenzung, Rassismus und Größenwahn unser gemeinsames Leben bestimmen. Diese Äußerungen scheinen momentan nicht nur an Popularität zu gewinnen, sondern auch überproportionale Aufmerksamkeit zu bekommen. Man muss sie bekämpfen und auch die Überzeugung, sie hätten eine Berechtigung, laut und dominant zu sein. Das haben sie nicht. Wenn man diese Position teilt, muss man sich mit Politik beschäftigen und die Meinungsbildung beeinflussen.

wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?

Wir haben es mit praktischen Handlungen versucht: Nachdem wir an unzähligen No-Pegida-Demonstrationen teilgenommen haben, Orte wie Bautzen, Riesa oder Freital besucht haben, eingeschritten sind in angespannte Situationen, in Geflüchtetenunterkünften gespielt haben, ist es bei uns deutlich angekommen: Das reicht nicht bzw. das kann nicht alles sein. Also haben wir die Band geöffnet, geflüchtete Musiker aufgenommen und haben uns verdoppelt. Seit fast drei Jahren machen wir nun gemeinsam weitere Projekte: Wir fahren an sächsische Schulen im Umland und machen mit den Kindern Krach und erzählen unsere Geschichten. Mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten haben wir eine neue Band gegründet und versuchen sie in dem Bewusstsein zu stärken, mit ihren Geschichten und kultureller Prägung dazuzugehören und gesellschaftlich relevant, wichtig und geschätzt zu sein. Aktuell stellen wir gemeinsam mit dem Ausländerrat Dresden e.V. einen großen Förderantrag, um auch in den nächsten drei Jahren diese musikpädagogischen Angebote durchziehen zu können. Die Amadeu Antonio Stiftung konnten wir dafür als weiteren Partner gewinnen. Dazu gehört jetzt auch interkulturelle musikalische Arbeit in Gefängnissen. Und da haben wir so oft es geht professionelle Fotografen oder Filmemacher dabei und versuchen Gegenbilder zu erzeugen, unsere Arbeit sichtbar zu machen und so auch andere zu ermutigen, sich zu beteiligen und Werte wie Gleichberechtigung, Toleranz und Offenheit zu verteidigen. So traurig es klingt: Das, was wir uns als Normalität wünschen und als normal, als deutsche Realität vielleicht betrachtet haben, muss sichtbar gemacht werden.

wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?

Das kann ich nicht einfach beantworten. Das ist sehr individuell und ändert sich mit jeder Erfahrung, die man macht. Unser gemeinsames Erbe ist gewiss unsere Geschichte, kulturelle, geistige Errungenschaften. Nicht nur unsere deutsche oder europäische Geschichte, sondern mit zunehmender digital-individueller Vernetzung auch eine gemeinsame Geschichte aller Menschen untereinander. Und dieses sich Wiederfinden in globalen Zusammenhängen ist auch unsere Zukunft und Verantwortung: eine für mich nur gemeinsam zu betrachtende Zukunft und Verantwortung. Ich glaube, das versuchen wir auch mit unserer Musik zu vermitteln: Dass von heterogenen Gesellschaftskonstrukten jeder und jede profitiert und dass davon weder regionale Prägungen untergehen und schon gar nicht ein ganzes Volk (das es im Übrigen in der von Rechtspopulisten erdachten Homogenität niemals gab). Was ist unsere Zukunft? Auf jeden Fall nicht ein Europa der Nationen oder Vaterländer. Die Zukunft ist die Überwindung solcher Konstrukte, nicht nur ideell, sondern auch sozial und ethisch.

wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Soziale und kulturelle Gleichberechtigung. Die Einsicht darin, dass der Schutz von Minderheiten, die Gleichheit aller und nicht die Überlegenheit einer vermeintlichen Mehrheit die Leitidee unserer Gesellschaft verkörpern sollte.

wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das Fundament der Gesellschaft, in der ich leben will und in der ich mich engagiere und an der ich Teil haben will.

wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?

Sehr wichtig. Das sind Ebenen, auf denen aktiv unser Zusammenleben betrachtet, verhandelt und gelebt wird.

wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?

Kämpfen, laut sein, auf die Kacke hauen, rote Linien ziehen, diejenigen, die Verantwortung tragen, an diese Linien immer erinnern (zuvorderst die Polizei und die regierenden Parteien), Teilnehmen am Diskurs, demonstrieren, Gesicht zeigen, solidarisch sein. Jeden Tag. Wählen gehen.

wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?

Da könnte man Bücher mit füllen. Eine fast wichtigere Frage ist, warum man es nicht schafft, der AfD mit positiven Visionen das Wasser abzugraben. Ich frage mich wirklich, wo diese Aussichten bleiben und ob das wirklich alles ist, was Team Kretschmer und leider auch die SPD aufs Parkett bringen wollen in Sachsen. Wenn es so ist, dann hat Sachsen vielleicht auch die AfD verdient? Na gut, das wäre zu hart. Drei Viertel der Wählenden wählen nicht die AfD. Die Gründe für den Zuspruch für rechtsextreme Weltsichten sind vielschichtig. Abgesehen von historischen Gründen, sympathisieren Menschen in vielen Ländern gerade wieder mit autoritären Despoten, weil diese so gut mit gekränkter Würde jonglieren können. Im Grunde ist das einer der wichtigen Punkte: Wertschätzung. Baue einen Feind auf, der es vermeintlich auf die Würde deiner potentiellen Wählerschaft abgesehen hat, und du hast das Volk bei den Klöten: die EU, die Presse, die Flüchtlinge, die Wessis, die Homosexuellen, die Juden. Hat schon oft funktioniert. Dann beginnt sich eine paranoide Spirale an zu drehen, die kaum aufzuhalten ist. Der Ausgangspunkt ist eine Gemeinschaft, deren Horizont vor allem auf sich selbst bezogen ist.

wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?

Dann werden sie uns ziemlich auf die Nerven gehen und vieles kaputt machen, wofür sehr viele Menschen hart gearbeitet haben, ohne wirkliche Lösungen für tatsächlich existente Probleme zu bieten. Denn die gibt es natürlich. Nur nicht im Programm der AfD.

wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?

Wer ist mit „man“ gemeint? Man selbst als Bürger, Deutscher, Demokrat? Die Bundesregierung? Der Bundesanwalt? Die Kulturstiftung des Bundes? Die Bundespolizei? Ich glaube und hoffe, dass es auf Bundesebene Überlegungen gibt, wie man solche Fail-States wieder in den Griff bekommt. Denn wenn die AfD an Justiz oder Bildung anfängt rumzufummeln, dann sind ganz grundsätzliche Bereiche der Ordnung gefährdet, auf die man sich in Deutschland immer und trotz AfD verlassen können muss. Da helfen Engagement oder Demokratie-Initiativen vielleicht gar nicht mehr. Da muss der Staat ran. Aber prinzipiell muss die Arbeit engagierter Menschen unterstützt werden – ideell und monetär – und sichtbar sein. Da müssen wir gemeinsam durch. Da reicht es nicht aus Köln, Bonn oder Frankfurt seine Expertenmeinung loszuwerden. Da muss man die Sachsen als das betrachten, was sie sind: mehrheitlich freiheit- und demokratieliebende Mitbürger, die konkrete Unterstützung gegen Rechts brauchen. Da muss man auch mal nach Sachsen reisen, zusammenhalten und zusammenwachsen. Denn die Veränderungen in Sachsen fallen am Ende allen auf die Füße.

wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?

Weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob das eine so wichtige Frage ist. Die Frage nach Partizipation an demokratischen Prozessen, an der Gesellschaft an sich, auf die jeder Einfluss haben kann, finde ich irgendwie wichtiger. Um diese Bereitschaft muss man sich bemühen und dazu gehört natürlich auch die Wahlbereitschaft, aber auch vieles andere mehr.

wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?

Man muss leider konstatieren: Nach 30 Jahren ist die Vision eines zusammengewachsenen Deutschlands nach wie vor weit entfernt. Für mich als Ausländer sind da noch einige andere Fragen offen, die von emotional-nationalen Bedürfnissen nicht bedient werden: Wo war der Platz in dieser Vision für diejenigen, die hier seit Generationen leben oder erst seit kurzem, einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft darstellen, sich aber innerhalb dieses Ost-West-Traums niemals befunden haben? Die Frage ist also: Wie finden wir alle einen gemeinsamen Status Quo, eine gemeinsame Vision, die alle einschließt? Diese kann für mich nur jenseits solcher nationalen Zuschreibungen liegen. Und sie birgt, wenn sie ernst gemeint ist, für niemanden mehr einen Grund für Existenzängste.

wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?

Heutzutage? In Europa? Weiß ich nicht. Paranoia. Internet. Ignoranz. Größenwahn.

wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?

Das trifft vermutlich zu, je höher der Dienstgrad. Angela Merkel würden manche Sachsen ja schon länger gern lynchen, weghaben, verbannen, entsorgen. Aus eigener Erfahrung in Sachsen kann ich sagen, dass jede Politikerin und jeder Politiker erreichbar und ansprechbar ist. Das sollte man wirklich wahrnehmen und nutzen. Auf der anderen Seite ist es natürlich vermessen, diese Berufsgruppe für alles verantwortlich machen zu wollen. Vor allem für sein eigenes Schicksal oder das, was man dafür hält. Und sich herauszunehmen, jemanden zu bedrohen, verletzen zu wollen oder gar es tatsächlich zu tun, weil man nun die Ursache für seine eigene gekränkte Würde bei demjenigen zu finden glaubt. Da hat man etwas ganz grundsätzlich missverstanden.

wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?

Wenn man sich die rechtsdrehenden Montags-Prozessionen in Dresden anschaut, fragt man sich schon, wen diese Leute repräsentieren und ob es sich um die eigene Zukunft handelt, die da vorbeimarschiert. Zum Glück gibt es eine wirklich positive, zukunftsweisende, junge Gegenveranstaltung. Jeden Freitag.

wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?

Sehr wichtig und in Sachsen manchmal leider Mangelware.

wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?

Viele Leute denken ja, das wird schon wieder alles irgendwie von ganz allein. Das glaube ich nicht. Gerade in solchen herausfordernden Zeiten sollte jeder ein wenig Zeit für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu finden versuchen, ein wenig mehr Mut für Zivilcourage, ein wenig mehr Begeisterung für Solidarität.

wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!

Schön wärs.

wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!

Schön wärs.
Glaube ich aber nicht uneingeschränkt dran und werde auch nicht jeden und jede versuchen, davon zu überzeugen. Wenn Rassismus, Wut, Hass, Nationalstolz, Verachtung die Oberhand gewinnen, dann heißt es für mich auf jeden Fall: nichts wie weg hier. Und dann hoffe ich, dass andere ebenfalls die Weitsicht besitzen, sich rechtzeitig vom Acker zu machen.

Foto: The Power of the Arts 2017, Robert Rieger